eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2022.art24d
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Das Provokative Essay: Wokeness und Perspektivenübernahme: (un)vereinbar?

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Barbara Jeltsch-Schudel
Menschen sind verschieden und ihre jeweiligen „Eigenschaften“ werden unterschiedlich konnotiert. Dies erfordert, aufmerksam auf Ungleichbehandlungen und speziell auf Diskriminierung zu achten und wenn nötig darauf zu reagieren. Vor dem Hintergrund der Individualisierung in unserer diversen Gesellschaft wird diskutiert, inwiefern es überhaupt möglich ist, andere Menschen zu verstehen, insbesondere bezüglich Diskriminierungserfahrungen, und welche Bedeutung dabei wokeness und Perspektivenübernahme zukommt.
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179 VHN, 91. Jg., S. 179 -184 (2022) DOI 10.2378/ vhn2022.art24d © Ernst Reinhardt Verlag Wokeness und Perspektivenübernahme: (un)vereinbar? Barbara Jeltsch-Schudel Universität Freiburg/ CH Zusammenfassung: Menschen sind verschieden und ihre jeweiligen „Eigenschaften“ werden unterschiedlich konnotiert. Dies erfordert, aufmerksam auf Ungleichbehandlungen und speziell auf Diskriminierung zu achten und wenn nötig darauf zu reagieren. Vor dem Hintergrund der Individualisierung in unserer diversen Gesellschaft wird diskutiert, inwiefern es überhaupt möglich ist, andere Menschen zu verstehen, insbesondere bezüglich Diskriminierungserfahrungen, und welche Bedeutung dabei wokeness und Perspektivenübernahme zukommt. Schlüsselbegriffe: Diskriminierung, wokeness, Perspektivenübernahme, Identität Wokeness and Perspective-taking: (In)Compatible? Summary: People are different and their respective “characteristics” are connoted differently. This requires to be attentive to unequal treatment and especially to discrimination and to react to it if necessary. Against the background of individualisation in our diverse society, it is discussed to what extent it is possible at all to understand other people, especially with regard to experiences of discrimination, and what importance is attached to wokeness and perspective-taking in this context. Keywords: Discrimination, wokeness, perspective-taking, identity DAS PROVOK ATIVE ESSAY I Wokeness ist in. Es gehört sich, woke zu sein, aufmerksam für Diskriminierungen jedweder Art. Diskriminierung kann verschiedene Gründe haben, zumeist aber werden Menschen wegen „Eigenschaften“ diskriminiert, durch die sie „charakterisiert“ werden, die sie „auszeichnen“. Dabei gilt es zu differenzieren: Sind diese Eigenschaften essenziell, also vorgegeben und somit unausweichlich für die Person, die diese Eigenschaften hat? Oder sind sie soziale Konstrukte, die als solche bewertet und diskriminierend verwendet werden? Oder handelt es sich um eine Vermischung von beidem, also um Kategorien wie die soziologischen Analysekategorien class, race, gender sowie age und (dis)ability, die sowohl eine biologische (und somit ein Stück weit vorgegebene) und eine konstruierte (also kulturelle) Dimension haben? Und: Lassen sich diese beiden Dimensionen überhaupt unterscheiden? Wokeness bedeutet Aufmerksamkeit für die „Besonderheiten“ der Menschen, ihre Vielfalt und ihre Einzigartigkeit. Vielfalt, Verschiedenheit, diversity kennzeichnen gewissermaßen die Menschen als Gesamtheit, indem Menschen sich in verschiedenen „Eigenschaften“ unterscheiden und dadurch singulär werden. Dabei gilt es zu überlegen: Sind die Eigenschaften oder Besonderheiten jedem einzelnen Menschen eigen oder gibt es auch Menschen, die VHN 3 | 2022 180 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Wokeness und Perspektivenübernahme DAS PROVOK ATIVE ESSAY Eigenschaften und Besonderheiten gemeinsam haben? Gibt es also Gruppierungen und sind diese kategorisierbar? Und wesentlich: Lassen sich Menschen aufgrund einer Eigenschaft charakterisieren, also auf eine Kategorie reduzieren? Oder haben Menschen mehrere verschiedene Eigenschaften und sind aufgrund derer Kombination singulär? Wokeness ist vor allem auf Eigenschaften bezogen, die diskriminiert werden oder Diskriminierungspotenzial haben. Es geht also weniger um die Gesamtheit aller möglichen menschlichen Eigenschaften, sondern fokussiert werden vor allem jene, die mit einer negativen Konnotation versehen sind oder werden. Dabei gilt es zu fragen: Was ist unter Diskriminierung zu verstehen? Wer wird diskriminiert und aufgrund wovon? Sind Eigenschaften, die diskriminiert werden, zeitlich überdauernd oder ändern sie sich? Und: Welche Benachteiligungen entstehen für den Einzelnen aus der Diskriminierung? Gibt es Eigenschaften von Menschen, welche vor Diskriminierung geschützt werden (in unserer Gesellschaft) und wie steht es mit der rechtlichen Verankerung bezüglich Diskriminierung (humanrights.ch, 2020)? Woke zu sein bedeutet jedoch nicht nur, aufmerksam für Diskriminierungen zu sein, sondern auch, diese aufzugreifen, publik zu machen, zu verurteilen (Cancel Culture). Als Möglichkeiten stehen dabei insbesondere soziale Medien in ihrer Vielfalt zur Verfügung. Dabei ist interessant: Wer reagiert auf Diskriminierung? Wie sehen Beteiligungen an solchen Reaktionen aus? Exponiert sich die Person, die sich zur Diskriminierung äußert, oder geht es um eine möglichst große Anzahl anonymer Klicks? Und weiter: Braucht es einen konkreten Anlass, der Reaktionen auslöst? Werden auch Diskriminierungen kritisiert, die andauern und (daher) kaum (mehr) wahrgenommen werden? II Diese kurze und durchaus unvollständige Skizzierung von wokeness und die vielen aufgeworfenen Fragen verweisen darauf, dass es um einzelne Menschen geht oder vielmehr um deren Einzigartigkeit, deren Individualität. Die Bedeutung, die dem Individuum zugemessen wird, ist ein Produkt historischer Entwicklungen der westlichen Kultur, insbesondere seit der Aufklärung. Die Entstehung der Wahrnehmung der eigenen Individualität und des Bewusstseins der persönlichen Subjektivität und Singularität erfolgte über lange Zeit und geht auf verschiedene Wurzeln zurück. Wesentlich scheint es in diesem Prozess zu sein, dass Menschen begannen, einen Blick auf sich selber zu werfen, sich also gleichzeitig als Subjekt und als Objekt wahrzunehmen und sich neu, anders als in früheren Zeiten, in ihren Kontext, in ihre Welt einzuordnen. Dabei mag wichtig sein, dass Menschen sich in diesem Prozess als Einzelne erlebten und sich dabei von ihren Kontexten abhoben (Safranski, 2021). Daraus lässt sich folgern, dass in der Individualisierung eine Differenz geschaffen wird zwischen dem Selbst und dem „Nicht-Selbst“ und es somit erforderlich wird zu überlegen, wie die überlebensnotwendigen Verbindungen herzustellen sind. Für seine Existenz braucht der Mensch Voraussetzungen, die nicht einfach gegeben sind; vielmehr hat der Mensch aktiven Anteil zu nehmen durch eigenes Handeln. Dies gilt für den Umgang mit der dinglichen Umgebung ebenso wie für den sozialen Kontext. Soziale Beziehungen erfordern Ausbalancierungen verschiedenster Art, so etwa in der Gestaltung von Nähe und Distanz, so etwa in der Passung von Geben und Bekommen. Gegenseitige Anerkennung ist dabei wesentlich (Honneth, 1994). VHN 3 | 2022 181 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Wokeness und Perspektivenübernahme DAS PROVOK ATIVE ESSAY Für die Gestaltung von Beziehungen individualisierter Subjekte untereinander spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, unter anderem Sensibilität: in Bezug auf die Wahrnehmung seiner selbst und der eigenen Befindlichkeiten wie auch in Bezug auf die Wahrnehmung anderer Menschen (Flasspöhler, 2021), mit denen sozial interagiert wird. III Die Aufmerksamkeit für Diskriminierungen, die wokeness kennzeichnet, richtet sich auf Erfahrungen, die Menschen mit einer diskriminierbaren Eigenschaft machen. Diese Eigenschaft ist also wahrnehmbar, sei es als Merkmal, das sich als Stigma (sensu Goffman) auswirken kann, sei es als beobachtbares Verhalten, das diskreditierbar ist. In welcher Vielfalt auch immer diese Eigenschaft sich zeigt: sie wird von außen wahrgenommen, also als Objekt aus der Außensicht durch das wahrnehmende Subjekt. Über die Innensicht, also das Leben „unter den Bedingungen“ der Eigenschaft, verfügt nur die Person, welche diese Eigenschaft trägt. Nur sie steckt in dieser Haut und weiß, wie es sich anfühlt. Insbesondere, wie sich die Diskriminierungen anfühlen, die sie aufgrund der Eigenschaft erleidet. Dazu stellen sich Fragen: Ist es möglich, andere Menschen so sensibel wahrzunehmen, dass ihre Diskriminierungserfahrung verstanden werden kann? Ist eine Art Innensicht durch Einfühlungsvermögen zu erreichen? Kann ein Mensch in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen? IV Diese Fragen zielen darauf ab, ob gleiche Betroffenheit unabdingbare Voraussetzung für das Verstehen von Menschen ist, welche durch eine Eigenschaft Diskriminierungen ausgesetzt sind. Woke zu sein beschränkt sich nicht darauf, aufmerksam für Diskriminierungen zu sein; vielmehr betrachten viele (wenn auch nicht alle) Menschen, die sich als woke bezeichnen, die Differenz zwischen den Individuen als so groß, dass nur Betroffene über Expertise verfügen, um sich kompetent über eine bestimmte Eigenschaft zu äußern. Dies führt zu Diskussionen darüber, ob ein Schriftsteller in Ich-Form einer Frau schreiben kann oder ob ein/ e Schauspieler/ in überhaupt berechtigt ist, eine Rolle zu übernehmen und zu spielen. Gleiche Betroffenheit jedoch führt zu einer Zugehörigkeit zu einer community der gleichen Eigenschaft. Wer diese Eigenschaft nicht besitzt, kann nicht Teil der entsprechenden Gemeinschaft sein. Dies gilt etwa für die community der disability studies. Allerdings lassen sich in Realität (etwa im Falle der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Rachel Dolezal) und Fiktion (Belletristik) Beispiele dafür finden, wie diese Regelungen einer community unterlaufen werden können. Erwähnt sei hier im Besonderen „Identitti“ von Mithu M. Sanyal (2021). Aktuelle Themen wie Identitätspolitik, Diskurse zu race und Postkolonialismus fügt die Autorin in verschiedenen literarischen Formen zu einem spannenden Roman zusammen: Jahrelang hat sich die Professorin Saraswati als PoC (Person of Colour) ausgegeben, obwohl sie eigentlich weiß ist. Ihre Seminare und Bücher sind Kult und werden von ihren Student/ innen verschlungen. Insbesondere für Nivedita, eine Studentin mit indischen und polnischen Wurzeln, sind die Auseinandersetzung mit der Professorin und die Beziehung zu ihr für die Entwicklung ihrer eigenen Identität wesentlich. Die Demaskierung von Saraswati löst einen Skandal aus mit Reaktionen und Diskussionen darüber, ob es statthaft sei, sich in eine community gewissermaßen einzuschleichen und diese prominent zu repräsentieren. Denn Saraswatis primäre VHN 3 | 2022 182 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Wokeness und Perspektivenübernahme DAS PROVOK ATIVE ESSAY Erfahrungen sind jene der weißen Frau Sarah Vera Thielmann, die eine entsprechende Identität entwickeln konnte und erst in die Haut einer PoC schlüpfte, als sie genügend entitlement besaß. Dies steht in krassem Gegensatz zu den schwierigen, irritierenden, diskriminierenden Bedingungen, unter denen ihre Student/ innen nach ihrer Identität suchen mussten. Dennoch: Interessant ist die Frage, was Saraswati dazu bewog, sich zu einer PoC zu machen. Es finden sich verschiedene Begründungen, die auf die Komplexität hinweisen, die einer solchen „Verwandlung“ zugrunde liegen. Eine liegt darin, dass Saraswati sich nicht der Gruppe weißer Frauen zugehörig fühlt, nicht zuletzt wegen der hegemonialen Stellung, die Weiße gegenüber PoCs einnehmen. In einem Tweet (der als fiktive Reaktion auf den Skandal in den Roman eingefügt ist) schreibt eine weiße Frau: „Ich bin nicht verantwortlich für die Taten und Worte aller Menschen, deren Gruppe ich angehöre. Ich muss mich rein rational nicht für meine Mit-Weißen entschuldigen. Ich muss mich auch nicht für mein eigenes Weißsein schämen. Ich tue es hiermit trotzdem“ (Sanyal, 2021, S. 78). Es lässt sich folgern: Auch wenn gewissermaßen „in die Haut eines anderen Menschen“ geschlüpft wird, bietet dies keine Gewähr, „unter den gleichen Bedingungen“ sein Leben zu führen; dies zeigt dieser Roman in eindrücklicher Weise. Ist es also nicht möglich, die Innensicht eines anderen Menschen der gleichen community zu übernehmen? Einzuwenden ist, dass ein Mensch nicht auf eine Eigenschaft reduziert werden kann. Auch nicht auf eine Identität, denn Menschen sind immer Angehörige verschiedener Gruppierungen (Sen, 2012; Appiah, 2019). Menschen haben verschiedene Zugehörigkeiten, sie sind Teil von vielen „Wir“, die kategorial gefasst werden können und in dynamischen Prozessen zu verstehen sind (Garcia, 2018). Selbst Angehörige einer community sind nicht alle gleich, sondern gewichten als solche eine ihrer Eigenschaften, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen und für gleiche Interessen einzustehen. Dass auch dann von einer Homogenität im Sinne einer Reduktion auf eine Eigenschaft nicht die Rede sein kann, wird im Roman von Sanyal durch diskursive Auseinandersetzungen verschiedener Exponenten klar verdeutlicht. Auch andere Diskurse in den Gender Studies und den Disability Studies haben ein Bewusstsein für die Heterogenität und daraus folgende unterschiedliche hegemoniale Erfahrungen (von Frauen oder Menschen mit Behinderungen) entwickelt. Deuten diese Überlegungen darauf hin, dass die Identität eines Menschen durch seine Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppierungen so singulär ist, dass es - wie dies von Menschen, die sich als woke bezeichnen, behauptet wird - unmöglich ist, sich in die Lage eines anderen Menschen einzufühlen, seine Perspektive zu übernehmen? Und: Soll dies überhaupt angestrebt werden? V Eine absolute Singularisierung ist für Menschen nicht möglich, nicht für Erwachsene und noch viel weniger für Kinder. Dies liegt nicht nur am bekannten Diktum von Kant, dass der Mensch nur durch Menschen zum Menschen werden kann, was auf seine Erziehungsbedürftigkeit hinweist. Menschen sind auch aus biologischen Gründen auf andere Menschen angewiesen, weil der Mensch als physiologische Frühgeburt (sensu Gehlen, Portmann) eines angemessenen Beziehungsangebotes bedarf, um sein Lernpotenzial entwickeln zu können. Der Aufbau einer tragfähigen Beziehung ist für die Entwicklung des Menschen eine Notwendigkeit. In entwicklungspsychologischen Theo- VHN 3 | 2022 183 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Wokeness und Perspektivenübernahme DAS PROVOK ATIVE ESSAY rien finden sich verschiedene Konzeptionen zur Beschreibung dieser Beziehung, beispielsweise als Bindung, und zu deren Entstehungsprozess, beispielsweise im sozialen, emotionalen und kognitiven Bereich sowie in der Sprachentwicklung. So unterschiedlich die Schwerpunkte sein mögen, scheint ihnen gemeinsam, dass am Aufbau der Bindung mindestens zwei Interaktionspartner/ innen, das Kind und seine Bezugsperson, aktiv beteiligt sind. Das Aufeinander-Eingehen zeigt verschiedene Spielarten, zu Beginn etwa das responsive Lächeln des Kindes und das mimetische Verhalten der Bezugsperson, in wechselnder Abfolge. Die Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung erweitern sich im Laufe der Entwicklung. Seitens des Kindes: Die Wahrnehmung der Situation des anderen, die Interpretation seines Handelns und die Reaktion darauf spielen dabei eine grundlegende Rolle. Ebenso die Nachahmung von Sprache und Handlungen, die Übernahme von Rollen. Und seitens der Bezugspersonen: Das Eingehen auf und das Aufgreifen der kindlichen Ausdrucksformen, das Entwickeln einer sensiblen Responsivität auf das Verhalten des Kindes und das Schaffen gemeinsamer Handlungsmöglichkeiten sind grundlegende Aufgaben. Mit anderen Worten: Perspektivenübernahme ist ein unabdingbares Element für Aufbau und Gestaltung einer gelingenden Interaktion und somit auch für die Entwicklung von Menschen. Aus soziologischer Sicht ist wesentlich: „Menschliche Subjekte partizipieren normalerweise am sozialen Leben, indem sie sich in die Perspektive ihres jeweiligen Gegenübers versetzen, dessen Wünsche, Einstellungen und Überlegungen sie als Gründe seines Handelns zu verstehen gelernt haben; wird hingegen diese Perspektivenübernahme nicht geleistet, so zerreißt das vernünftige Band der menschlichen Interaktion, weil sie nicht länger über das wechselseitige Verstehen von Gründen vermittelt ist“ (Honneth, 2015, 37). VI Eine Präzisierung ist hier wichtig: Perspektivenübernahme ist nicht gleichzusetzen mit der Übernahme der Innensicht einer anderen Person. Sie ist vielmehr eine Annäherung. Denn in die Haut eines anderen kann niemand schlüpfen, wie dies am Beispiel von Saraswati deutlich wurde. Die Auffassung, dass andere Personen aufgrund ihrer absoluten Singularität von keiner anderen Person verstanden werden können, ist deshalb unsinnig, weil dabei verkannt wird, dass es nicht nur Differenz, sondern auch Gemeinsamkeit unter Menschen gibt. Und weil ignoriert wird, dass soziale Abhängigkeiten im Lebenslauf konstituierend für das Menschsein sind. Perspektivenübernahme ist nicht einseitig zu denken, sondern setzt die Beteiligung aller Interaktionspartner voraus, wie (unterschiedlich) auch immer diese Beteiligung sein mag. Somit trägt sie zur Partizipation aller bei, ungeachtet der jeweiligen Eigenschaften der Menschen, was durchaus auch für woke Menschen zutreffen kann. Wokeness und Perspektivenübernahme schließen sich nicht grundsätzlich aus, sie lassen sich aufeinander beziehen. Wokeness ist wesentlich für die Sensibilität von Menschen, die „anders“ sind als man selber ist, für das Anstreben gleicher Rechte für alle. Inakzeptabel ist jedoch, wenn wokeness sich exklusiv auf eine bestimmte Eigenschaft bezieht und womöglich Cancel Culture zur Folge hat. Perspektivenübernahme ist konstitutiv wichtig für das Zusammenleben von Menschen und für deren Entwicklung. Inakzeptabel ist jedoch, wenn Perspektivenübernahme in dem Sinn übergriffig wird, als sie andere Menschen in ihren Möglichkeiten beschneidet und ihr Leben so bestimmt, dass sie keine Selbstentfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten haben. VHN 3 | 2022 184 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Wokeness und Perspektivenübernahme DAS PROVOK ATIVE ESSAY VII Als persönliche Anmerkung sei mir erlaubt: In meinen Überlegungen in diesem Text spielen Wertsetzungen der westlichen Kultur eine grundierende Rolle: dass alle Menschen - entsprechend den Menschenrechten - in menschenwürdigen Situationen ihr Leben führen können. Die letzten Jahre zeigten Fragilitäten: gesundheitliche in der Pandemie und erschreckende und bedrohliche in diesem neuesten Krieg. Es ist mir ein Anliegen, dass die menschenrechtlichen Grundwerte verteidigt werden. Literatur Appiah, K. A. (2019). Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit. Berlin: Hanser Berlin. Flasspöhler, S. (2021). Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Stuttgart: Klett-Cotta. Garcia, T. (2018). Wir. Berlin: Suhrkamp. Honneth, A. (1994). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Honneth, A. (2015). Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. humanrights.ch (Hrsg.) (2020). Diskriminierungsverbot - Dossier. Abgerufen am 4. 4. 2022 von https: / / www.humanrights.ch/ de/ ipf/ menschen rechte/ diskriminierung/ diskriminierungsverbotdossier/ Safranski, R. (2021). Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. München: Hanser. Sanyal, M. M. (2021). Identitti. München: Hanser. Sen, A. (2012). Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. 2. Aufl. München: dtv Anschrift der Autorin Prof. tit. em. Dr. Barbara Jeltsch-Schudel Universität Freiburg Departement für Sonderpädagogik Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: barbara.jeltsch@unifr.ch