eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2022.art31d
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Rezension: Ahrbeck, Bernd (2022): Jahrmarkt der Befindlichkeiten. Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft

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Christian Mürner
Der Name Bernd Ahrbeck ist im Einflussbereich der VHN bekannt. Von 1994 an hatte er einen Lehrstuhl am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, im Fachgebiet Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Seit 2016 ist er Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU). Aufsehen erregte Ahrbecks demonstrative Intervention gegen eine idealisierte Inklusion. Im neuen Essay wird diese Kritik (im 2. Kapitel) nun in den allgemeineren Zusammenhang der Forderung nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung (1. Kap.), der sozialen (Selbst-)Konstruktionen der Gender-Studien (3. und 4. Kap.), der Deutungshoheit der Identitätspolitik (5. Kap.) und der Vergangenheitsbewältigung (6. Kap.) gestellt. Ist dieser erweiterte Rahmen von Vorteil für das Verständnis von Ahrbecks Position?
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VHN 3 | 2022 262 REZE NSION Ahrbeck, Bernd (2022): Jahrmarkt der Befindlichkeiten. Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft Springe: zu Klampen Verlag. 155 S., € 16,- Der Name Bernd Ahrbeck ist im Einflussbereich der VHN bekannt. Von 1994 an hatte er einen Lehrstuhl am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, im Fachgebiet Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Seit 2016 ist er Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU). Aufsehen erregte Ahrbecks demonstrative Intervention gegen eine idealisierte Inklusion. Im neuen Essay wird diese Kritik (im 2. Kapitel) nun in den allgemeineren Zusammenhang der Forderung nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung (1. Kap.), der sozialen (Selbst-)Konstruktionen der Gender-Studien (3. und 4. Kap.), der Deutungshoheit der Identitätspolitik (5. Kap.) und der Vergangenheitsbewältigung (6. Kap.) gestellt. Ist dieser erweiterte Rahmen von Vorteil für das Verständnis von Ahrbecks Position? „Die Gesellschaft ändert sich gravierend“ (S. 7), stellt Ahrbeck zu Beginn fest. Und zwar, weil zunehmend die politische Korrektheit den Sprachgebrauch dominiere, weil die Identitätspolitik oder die homogene Gruppenzugehörigkeit den sozialen Zugang reguliere, weil die persönliche Betroffenheit gegenüber erbrachten Leistungen im Vordergrund stünde, weil die Inklusion, trotz mangelnder Definition (vgl. S. 46), den Anspruch einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Umgestaltung vertrete (vgl. S. 46/ S. 49). Eine „Realitätsprüfung“ (S. 35) ergebe nicht nur, dass es sich um fatale Entwicklungen handle, sondern auch, dass die damit verbundenen „ursprünglichen Aufklärungsbemühungen und Antidiskriminierungsbestreben […] auf ein falschen Gleis“ (S. 12) geraten seien. Wenn Ahrbeck im Inklusionskapitel korrektiv glaubt, an die Krüppelbewegung und deren autarken Standpunkt sowie an Franz Christoph und dessen Problematisierung der Integration erinnern zu müssen (S. 55), dann deutet das darauf hin, dass es ihm weniger um eine Darstellung im Detail als mehr um Pointierung um jeden Preis geht. Dass von Christoph auch diese Art des Zitierens mit der normalisierenden Vereinnahmung gemeint war, wäre aus einer präziseren Erläuterung der Quelle und des Kontexts hervorgegangen. An einigen Stellen des Essays findet sich ein epidemischer Jargon der Übertreibung, den Ahrbeck zu Recht kritisiert, allerdings auch oft für eigene Erklärungen übernimmt. Die zugrunde liegenden Absichten werden einerseits mit Standardsätzen abgehandelt: „Um einem Missverständnis vorzubeugen …“ (S. 84) wird zugestanden, dass eine offene und tolerante Gesellschaft vieles zulasse, aber es brauche auch „schützende“ Einrichtungen. Andererseits wird (selbstbezüglich) bedauert: „Auch in Deutschland haben es kritische Stimmen nicht leicht“ (S. 102). Ein konkretes Beispiel: Auf S. 51 wird kritisiert, dass es eine unzulässige Übertreibung sei, wenn das deutsche Sonderschulsystem mit einem „an Apartheid grenzenden Aussonderungssystem“ verglichen würde, auf S. 125 wird dann aber gesagt, dass die durch Übertreibung und Verkehrung erzeugten gesellschaftlichen Spaltungen die „Gefahr einer neuen ‚kulturellen Apartheid‘“ heraufbeschwören könnten. Was nun? Die Argumentation führt in eine Sackgasse. Die Befindlichkeiten drehen sich im Kreis. Ahrbecks Essay liefert keinen perspektivischen Befund für angemessene Auseinandersetzungen, sondern buchstäblich analog des Titels einen „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“ auf der einen wie der anderen Seite des gezogenen Zauns. Mit Ahrbeck ließe sich antworten: „Das binäre Modell ist der Motor allen Weiterlebens …“ (S. 132). Damit jedoch vergrößert sich meiner Einschätzung nach die problematische Methode des Essays. Diese besteht darin, dass es bei der Resonanz der thematischen Positionen nicht um deren Beschreibung geht, um sie dann zu kritisieren, sondern zuerst darum, Ahrbecks Standpunkt als Maßstab zuzulassen. Dabei entsteht allerdings kein insinuierter dialogischer (S. 135), sondern ein fingierter Zusammenhang. So hebt das letzte Kapitel hervor, dass es keine „Welt ohne Grenzen“, „ohne Benachteiligungen, ohne Behinderungen, ohne die bisherige Ge- VHN 3 | 2022 263 REZE NSION schlechterordnung“ (S. 130) gebe. Der „Zeitgeist der Grenzenlosigkeit“ habe mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun. Eine Welt - „vollkommen gerecht und inklusiv“ (S. 146) - sei ein Wunschtraum. Doch präsentiert Ahrbeck seinen Text unter der Hand als unvoreingenommene, „abwägende Darstellung“ (S. 96). (Seine) Einwände gegen Gender, Inklusion und Identitätspolitik würden diskreditiert und ebenso andere Widersprechende vom Diskurs ausgeschlossen und ins „grelle Licht des moralisch Illegitimen“ gestellt (S. 137, vgl. S. 97, S. 16, S. 102). Diese Klage der Kritik benennt ihre Befindlichkeit. Dr. phil. Christian Mürner Hamburg DOI 10.2378/ vhn2022.art31d VORSCHAU Vorschau auf die kommenden Hefte Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort - Eine Interviewstudie am Ende der Schulzeit zu Förderbedarf, Unterstützungsangeboten und zum Übergang in die Berufsausbildung Anja Theisel, Markus Spreer, Christian W. Glück Soziale Deprivation, schulische Fehlpassung, Dropout: Schule zwischen Punitivität und dem pädagogisch Notwendigen Heinrich Ricking Effekte der regulatorischen Rahmenbedingungen auf die Förderquoten im Rahmen verstärkter sonderpädagogischer Maßnahmen Monika T. Wicki, Katharina Antognini Gruppendiskussionen mit Kindern in der Inklusionsforschung. Methodische und forschungspraktische Überlegungen zur Erhebung kindlicher Perspektiven auf inklusiven Unterricht Carolin Gravel