eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2022.art38d
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2022
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Aktuelle Forschungsprojekte: Zwischen Anerkennung und Missachtung

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2022
Carlo Wolfisberg
Susanne Schriber
Mariama Kaba
Viviane Blatter
Lernende mit Körperbehinderungen wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrheitlich an Sonderschulen unterrichtet und lebten gerade in den Anfangszeiten der Institutionsgründungen oft in deren Internaten. Eine Besonderheit dieser Sonderschulen war die Tatsache, dass alle Maßnahmen der „Rehabilitation“ (pädagogische und viele medizinisch-therapeutische) unter einem Dach erfolgten (Bergeest & Boenisch, 2019). Menschen mit Körperbehinderungen berichten wiederkehrend von starken Spannungsfeldern zwischen Fürsorge und Zwang, Selbst- und Fremdbestimmung, zuweilen von traumatischen Erfahrungen in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik (Mürner & Sierck, 2009). Es stellt sich die Frage, wie deren Erfahrungen aussehen. Waren es ausschließlich solche der Missachtung oder zählten auch andere der Anerkennung dazu? Die Studie wird vor dem Hintergrund der Anerkennungstheorie referenziert, wonach auf den drei Ebenen individuelle Dimension (Beziehungen), strukturelle Dimension (Rechte) und kulturelle Dimension (soziale Wertschätzung) sowohl Anerkennung wie auch Missachtung aufgezeigt werden können (Dederich & Jantzen, 2009 / Ferdani, 2011 / Honneth, 2010). Das Studiendesign ist partizipativ angelegt, alle strategisch wichtigen Fragen wurden mit sechs Co-Forschenden aus der Deutsch- und Westschweiz im Rahmen von Round Tables erörtert und entschieden. Alle Co-Forschenden verfügen selbst über Erfahrungen der Sozialisation in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik und bringen aufgrund ihrer Ausbildungen hohe Kompetenzen der Reflexion mit.
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VHN 4 | 2022 332 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Zwischen Anerkennung und Missachtung Sozialisationserfahrungen von Menschen mit Körperbehinderungen in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik der Deutsch- und Westschweiz Carlo Wolfisberg, Susanne Schriber, Mariama Kaba, Viviane Blatter Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Das Projekt ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms 76 „Fürsorge und Zwang - Geschichte, Gegenwart, Zukunft“ 1 und wurde an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) am Institut für Behinderung und Partizipation bearbeitet. Es hat eine Laufzeit von Herbst 2018 bis Sommer 2022 (Schriber et al., 2020). Ausgangslage Lernende mit Körperbehinderungen wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrheitlich an Sonderschulen unterrichtet und lebten gerade in den Anfangszeiten der Institutionsgründungen oft in deren Internaten. Eine Besonderheit dieser Sonderschulen war die Tatsache, dass alle Maßnahmen der „Rehabilitation“ (pädagogische und viele medizinisch-therapeutische) unter einem Dach erfolgten (Bergeest & Boenisch, 2019). Menschen mit Körperbehinderungen berichten wiederkehrend von starken Spannungsfeldern zwischen Fürsorge und Zwang, Selbst- und Fremdbestimmung, zuweilen von traumatischen Erfahrungen in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik (Mürner & Sierck, 2009). Es stellt sich die Frage, wie deren Erfahrungen aussehen. Waren es ausschließlich solche der Missachtung oder zählten auch andere der Anerkennung dazu? Die Studie wird vor dem Hintergrund der Anerkennungstheorie referenziert, wonach auf den drei Ebenen individuelle Dimension (Beziehungen), strukturelle Dimension (Rechte) und kulturelle Dimension (soziale Wertschätzung) sowohl Anerkennung wie auch Missachtung aufgezeigt werden können (Dederich & Jantzen, 2009; Ferdani, 2011; Honneth, 2010). Das Studiendesign ist partizipativ angelegt, alle strategisch wichtigen Fragen wurden mit sechs Co-Forschenden aus der Deutsch- und Westschweiz im Rahmen von Round Tables erörtert und entschieden. Alle Co-Forschenden verfügen selbst über Erfahrungen der Sozialisation in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik und bringen aufgrund ihrer Ausbildungen hohe Kompetenzen der Reflexion mit. Forschungsvorhaben und Fragestellungen Folgende Fragen wurden bearbeitet: n Was erzählenMenschenmitKörperbehinderungen retrospektiv über ihre Erfahrungen in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik im Zeitraum von 1950 bis 2010? Welche Brennpunkte lassen sich aus diesen Erzählungen ableiten? n Wie werden die Brennpunkte, welche aus den Erfahrungen der ehemaligen Lernenden der Sonderinstitutionen abgeleitet wurden, in den Quellen der Institutionen aus den Jahren 1950 -2010 abgebildet? n Welche Konvergenzen und Divergenzen ergeben sich, wenn die Erzählungen der Menschen, die in den Institutionen sozialisiert wurden, den durch Quellenmaterial gewonnenen Aussagen der Institutionen gegenübergestellt werden? Forschungsmethodisches Vorgehen Zur Bearbeitung der ersten Frage wurden insgesamt 42 narrative Interviews durchgeführt (26 in der Deutsch-, 16 in der Westschweiz). Dabei wurde das Sample in drei Kohorten unterteilt (geboren um 1950, 1970 bzw. 1990), um Entwicklungen aufzeigen zu können. Die Interviewmethode wurde gewählt, um den interviewten Personen den größtmöglichen Spielraum zu belassen, ihre Erzählungen zu steuern. Dies auch im Interesse, Retraumatisierungen zu verhindern (Huonker, 2015). Die Interviews wurden in neun Hauptkategorien codiert, welche wichtige Lebensbereiche in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik abbilden: Medizin, Therapie (Physio- und Ergotherapie, Logopädie), Pflege, Bildung (Schule und 1 NFP 76 „Fürsorge und Zwang - Geschichte, Gegenwart, Zukunft“: https: / / www.snf.ch/ de/ ufHROEnf7ecQJN8F/ seite/ fokusForschung/ nationale-forschungsprogramme/ nfp-76 VHN 4 | 2022 333 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Ausbildung), Erziehung (Betreuung und Familie), Bezugspersonen, Freizeit, Psychologie sowie Religion. Zusammen mit den Co-Forschenden wurden aus den zusammengefassten Erzählungen Brennpunkte zu den einzelnen Lebensbereichen herausgearbeitet, um die erste Frage zu dokumentieren. Entlang dieser Brennpunkte erfolgte eine historische Diskursanalyse, indem Quellen (Jahresberichte, Jubiläumsschriften, Presseberichte usw.) ausgewertet wurden, um die zweite Frage beantworten zu können. Schließlich wurden die zusammenfassenden Ergebnisse aus den Interviews den Synthesen der Diskursanalysen pro Lebensbereich gegenübergestellt. Damit konnte in einer Metaanalyse die dritte Frage bearbeitet werden. Ausgewählte Untersuchungsergebnisse Aus den neun Lebensbereichen werden nachfolgend zwei ausgewählt und exemplarisch Teilergebnisse aus den Metaanalysen dazu referiert, nämlich Therapie bzw. spezifisch Physiotherapie, sowie Bildung, dazu Schule. Die zwei Bereiche fallen durch die Fülle an Erzählungen und die Eindringlichkeit der Brennpunkte auf. Lebensbereich Schule: Unterforderung und Wunsch nach Integration Über alle Epochen hinweg berichten die interviewten Personen von schulischen Unterforderungen. Erst beim Wechsel in die Integration oder beim Übertritt in die Ausbildung wurden die Lernenden mit adäquaten Leistungsanforderungen konfrontiert. Dies korrespondiert mit den Darstellungen aus den Quellen der Institutionen insofern, als in diesen die Relativierung der Lehrplanorientierung in qualitativer Hinsicht mehrmals thematisiert wurde. Dies, weil das verminderte Arbeitstempo und die Therapieprogramme der Lernenden, so verschiedene Quellenaussagen, an Grenzen in der Planung der wöchentlichen Stundentafeln führten. Auch wollte man die Lernenden nicht zu stark dem Leistungsdruck der Volksschule aussetzen. Dies erlebten viele der interviewten Personen als „Schonraum“, wodurch sie Benachteiligungen auf ihrem Bildungsweg erfuhren, was sie auf der Ebene der strukturellen und kulturellen Dimension als Erfahrung der Missachtung bewerten (Blatter et al., 2021). Interessanterweise brachten nahezu alle interviewten Personen das Thema schulische Integration ein, welches insbesondere in den 1990er-Jahren auch dank der Institutionen an Bedeutung gewinnt, ungeachtet dessen, ob sie auf eigene Integrationserfahrungen blicken konnten oder nicht (Blatter et al., 2022; Kaba et al., 2023; Schriber & Schwere, 2012). Aus Erzählungen geht hervor, dass die Institutionen zum Teil unterstützend wirkten. Einige der ehemaligen Lernenden hatten sich jedoch mehr Anerkennung ihrer Wünsche und Bestrebungen durch die Institutionen gewünscht. In vielen Erzählungen wird zudem dargelegt, dass Eltern eine bedeutende Rolle spielten bei der Planung der Integration bzw. bei der Unterstützung von weiterführenden Bildungswegen. Mehrheitlich drücken die interviewten Personen Anerkennung auf dieser individuellen Ebene der Beziehungen des Familiensystems aus (Blatter et al., 2022). Lebensbereich Physiotherapie: Kommunikation zu Sinn und Zweck Die Physiotherapie war seit den Gründungszeiten ein zentrales Element im Alltag der Institutionen der Körperbehindertenpädagogik. In den Erzählungen finden sich dazu Elemente der Anerkennung wie auch der Missachtung auf der individuellen Ebene, wobei hier vor allem die Beziehungsqualität zu den Therapiefachpersonen ausschlaggebend war. Auffallend ist, wie oft die Betroffenen von einer ungenügenden Kommunikation über Sinn und Zweck der oft schmerzhaften und fremdbestimmten Therapien berichten. In den Quellen der Institutionen gibt es zu diesen Themen keine Darstellungen. Dagegen werden der Fachkräftemangel und die Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Therapien thematisiert. Der Wunsch nach höheren Therapiefrequenzen wurde von den interviewten Personen vorgebracht. Demnach äußern sie Erfahrung der Missachtung ihrer Bedürfnisse auf struktureller Ebene. Ab den 1980er-Jahren scheint sich das therapeutische Paradigma der Norm- und Objektorientierung hin zu einem der Subjektorientierung zu wandeln. Individuelle Zuwendung, Mitbestimmung und Behandlung auf Augenhöhe rückten in den Therapien zunehmend in den Vordergrund (Graser et al., 2021). VHN 4 | 2022 334 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Die beiden Beispiele veranschaulichen, was sich in der Gesamtschau der Erzählungen zu allen Lebensbereichen zeigt: Es wird durch ehemalige Lernende der Institutionen für Kinder mit Körperbehinderungen nicht nur von Erfahrungen der Missachtung in den Institutionen berichtet, sondern ebenso von solchen der Anerkennung, insbesondere durch Peers, Lehr- oder Betreuungspersonen und Eltern. Weitere Auskünfte und Literaturangaben können eingeholt werden bei: Prof. Dr. Carlo Wolfisberg carlo.wolfisberg@hfh.ch Der Forschungsbericht kann auf der HfH-Webseite eingesehen werden: https: / / www.hfh.ch/ projekt/ zwischenanerkennung-und-missachtung-erd-zam DOI 10.2378/ vhn2022.art38d Schweizer Längsschnittstudie StAr: Studienverläufe, Arbeitskontexte und Professionalisierung in der Schulischen Heilpädagogik Catherine Bauer, Caroline Sahli Lozano, Sabine Zingg, Denise Geiser, Michelle Willen, Christine Koller Pädagogische Hochschule Bern/ CH Ausgangslage und Problemstellung In der Schweiz, wie auch in vielen anderen Ländern, herrscht aktuell ein Mangel an qualifizierten Schulischen Heilpädagog/ innen (Ziehbrunner, Fäh & Gyseler, 2019; Wolter et al., 2014). Dieser wird in der internationalen Forschung einem gestiegenen Bedarf, Schwierigkeiten bei der Rekrutierung, starken beruflichen Belastungen von Schulischen Heilpädagog/ innen (SHP) sowie dem häufigen frühzeitigen Berufsausstieg zugeschrieben (vgl. z. B. Conley & You, 2013). Insbesondere der Bedarf an integrativ arbeitenden SHP nimmt europaweit zu, u. a. im Kontext der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die von den mittlerweile 175 Vertragsstaaten die Implementierung von integrativen Bildungssystemen fordert. Die Schweiz ratifizierte die Konvention im Jahr 2014. In der Schweiz sind systematische Forschungsergebnisse zu Studien- und Berufswahl, beruflicher Entwicklung und Arbeitssituation von SHP bislang noch rar und es fehlt an fundiertem Wissen um die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Verbesserung der Rekrutierung, der Arbeitssituation und des Berufsverbleibs von SHP. Die internationale Forschung zeigt in sonderpädagogischen Berufen eine geringere Arbeitszufriedenheit, eine hohe Stressbelastung sowie ein hohes Burnoutrisiko (z. B. Emery & Vandenberg, 2010), wobei beispielsweise Rollenkonflikte und fehlende Unterstützung als besonders relevante Risikofaktoren identifiziert wurden (Brunsting, Sreckovic & Lane, 2014). Besonders in integrativen Settings sind unklare Aufgabenverteilungen und Berufsrollen hohe Belastungsfaktoren (Melzer & Hillenbrand, 2013). Obwohl noch kaum entsprechende wissenschaftliche Daten für die Schweiz vorliegen, sprechen internationale Befunde und Erfahrungen aus der Praxis dafür, dass ähnliche Belastungsfaktoren auch für Schweizer SHP relevant sind. Studierende der Schulischen Heilpädagogik in der Schweiz sind oft bereits während des Studiums als SHP tätig und daneben mit den genannten Herausforderungen konfrontiert. Die Rekrutierungsschwierigkeiten, die vorhandenen Spannungsfelder und der Umstand, dass das Studium der Schulischen Heilpädagogik oft berufsbegleitend erfolgt, rücken deshalb neben der beruflichen Entwicklung auch den Studienverlauf von Schulischen Heilpädagog/ innen in den Fokus des Forschungsinteresses. Während bei Regellehrpersonen relevante personengebundene Merkmale (z. B. Berufswahlmotivation, Ausbildungsverläufe) innerhalb des berufsbiografischen Forschungsthemenfeldes bereits gut erforscht sind (vgl. Terhart, 2014), gibt es dazu sowie zu Gelingensbedingungen und Risikofaktoren in der Ausbildung von Fachkräften für inklusive Bildungssysteme aktuell kaum empirische Ergebnisse (Hillenbrand, Melzer & Hagen, 2013). Hier setzt das längsschnittlich angelegte Forschungsprojekt StAr an. Projekt und zentrale Fragestellungen Das gesamtschweizerische Forschungsprojekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert. Während der Laufzeit von vier Jahren wird untersucht, wer in der Schweiz Schulische Heilpädagogik studiert, welche Gründe zur Stu-