eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2022.art39d
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Aktuelle Forschungsprojekte: Schweizer Längsschnittstudie StAr: Studienverläufe, Arbeitskontexte und Professionalisierung in der Schulischen Heilpädagogik

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Catherine Bauer
Caroline Sahli Lozano
Sabine Zingg
Denise Geiser
Michelle Willen
Christine Koller
In der Schweiz, wie auch in vielen anderen Ländern, herrscht aktuell ein Mangel an qualifizierten Schulischen Heilpädagog/innen (Ziehbrunner, Fäh & Gyseler, 2019 / Wolter et al., 2014). Dieser wird in der internationalen Forschung einem gestiegenen Bedarf, Schwierigkeiten bei der Rekrutierung, starken beruflichen Belastungen von Schulischen Heilpädagog/innen (SHP) sowie dem häufigen frühzeitigen Berufsausstieg zugeschrieben (vgl. z.B. Conley & You, 2013). Insbesondere der Bedarf an integrativ arbeitenden SHP nimmt europaweit zu, u.a. im Kontext der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die von den mittlerweile 175 Vertragsstaaten die Implementierung von integrativen Bildungssystemen fordert. Die Schweiz ratifizierte die Konvention im Jahr 2014. In der Schweiz sind systematische Forschungsergebnisse zu Studien- und Berufswahl, beruflicher Entwicklung und Arbeitssituation von SHP bislang noch rar und es fehlt an fundiertem Wissen um die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Verbesserung der Rekrutierung, der Arbeitssituation und des Berufsverbleibs von SHP. Die internationale Forschung zeigt in sonderpädagogischen Berufen eine geringere Arbeitszufriedenheit, eine hohe Stressbelastung sowie ein hohes Burnoutrisiko (z.B. Emery & Vandenberg, 2010), wobei beispielsweise Rollenkonflikte und fehlende Unterstützung als besonders relevante Risikofaktoren identifiziert wurden (Brunsting, Sreckovic & Lane, 2014). Besonders in integrativen Settings sind unklare Aufgabenverteilungen und Berufsrollen hohe Belastungsfaktoren (Melzer & Hillenbrand, 2013). Obwohl noch kaum entsprechende wissenschaftliche Daten für die Schweiz vorliegen, sprechen internationale Befunde und Erfahrungen aus der Praxis dafür, dass ähnliche Belastungsfaktoren auch für Schweizer SHP relevant sind. Studierende der Schulischen Heilpädagogik in der Schweiz sind oft bereits während des Studiums als SHP tätig und daneben mit den genannten Herausforderungen konfrontiert.
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VHN 4 | 2022 334 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Die beiden Beispiele veranschaulichen, was sich in der Gesamtschau der Erzählungen zu allen Lebensbereichen zeigt: Es wird durch ehemalige Lernende der Institutionen für Kinder mit Körperbehinderungen nicht nur von Erfahrungen der Missachtung in den Institutionen berichtet, sondern ebenso von solchen der Anerkennung, insbesondere durch Peers, Lehr- oder Betreuungspersonen und Eltern. Weitere Auskünfte und Literaturangaben können eingeholt werden bei: Prof. Dr. Carlo Wolfisberg carlo.wolfisberg@hfh.ch Der Forschungsbericht kann auf der HfH-Webseite eingesehen werden: https: / / www.hfh.ch/ projekt/ zwischenanerkennung-und-missachtung-erd-zam DOI 10.2378/ vhn2022.art38d Schweizer Längsschnittstudie StAr: Studienverläufe, Arbeitskontexte und Professionalisierung in der Schulischen Heilpädagogik Catherine Bauer, Caroline Sahli Lozano, Sabine Zingg, Denise Geiser, Michelle Willen, Christine Koller Pädagogische Hochschule Bern/ CH Ausgangslage und Problemstellung In der Schweiz, wie auch in vielen anderen Ländern, herrscht aktuell ein Mangel an qualifizierten Schulischen Heilpädagog/ innen (Ziehbrunner, Fäh & Gyseler, 2019; Wolter et al., 2014). Dieser wird in der internationalen Forschung einem gestiegenen Bedarf, Schwierigkeiten bei der Rekrutierung, starken beruflichen Belastungen von Schulischen Heilpädagog/ innen (SHP) sowie dem häufigen frühzeitigen Berufsausstieg zugeschrieben (vgl. z. B. Conley & You, 2013). Insbesondere der Bedarf an integrativ arbeitenden SHP nimmt europaweit zu, u. a. im Kontext der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die von den mittlerweile 175 Vertragsstaaten die Implementierung von integrativen Bildungssystemen fordert. Die Schweiz ratifizierte die Konvention im Jahr 2014. In der Schweiz sind systematische Forschungsergebnisse zu Studien- und Berufswahl, beruflicher Entwicklung und Arbeitssituation von SHP bislang noch rar und es fehlt an fundiertem Wissen um die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Verbesserung der Rekrutierung, der Arbeitssituation und des Berufsverbleibs von SHP. Die internationale Forschung zeigt in sonderpädagogischen Berufen eine geringere Arbeitszufriedenheit, eine hohe Stressbelastung sowie ein hohes Burnoutrisiko (z. B. Emery & Vandenberg, 2010), wobei beispielsweise Rollenkonflikte und fehlende Unterstützung als besonders relevante Risikofaktoren identifiziert wurden (Brunsting, Sreckovic & Lane, 2014). Besonders in integrativen Settings sind unklare Aufgabenverteilungen und Berufsrollen hohe Belastungsfaktoren (Melzer & Hillenbrand, 2013). Obwohl noch kaum entsprechende wissenschaftliche Daten für die Schweiz vorliegen, sprechen internationale Befunde und Erfahrungen aus der Praxis dafür, dass ähnliche Belastungsfaktoren auch für Schweizer SHP relevant sind. Studierende der Schulischen Heilpädagogik in der Schweiz sind oft bereits während des Studiums als SHP tätig und daneben mit den genannten Herausforderungen konfrontiert. Die Rekrutierungsschwierigkeiten, die vorhandenen Spannungsfelder und der Umstand, dass das Studium der Schulischen Heilpädagogik oft berufsbegleitend erfolgt, rücken deshalb neben der beruflichen Entwicklung auch den Studienverlauf von Schulischen Heilpädagog/ innen in den Fokus des Forschungsinteresses. Während bei Regellehrpersonen relevante personengebundene Merkmale (z. B. Berufswahlmotivation, Ausbildungsverläufe) innerhalb des berufsbiografischen Forschungsthemenfeldes bereits gut erforscht sind (vgl. Terhart, 2014), gibt es dazu sowie zu Gelingensbedingungen und Risikofaktoren in der Ausbildung von Fachkräften für inklusive Bildungssysteme aktuell kaum empirische Ergebnisse (Hillenbrand, Melzer & Hagen, 2013). Hier setzt das längsschnittlich angelegte Forschungsprojekt StAr an. Projekt und zentrale Fragestellungen Das gesamtschweizerische Forschungsprojekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert. Während der Laufzeit von vier Jahren wird untersucht, wer in der Schweiz Schulische Heilpädagogik studiert, welche Gründe zur Stu- VHN 4 | 2022 335 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE dien- und Berufswahl führen, welche Bedingungen den Studienverlauf beeinflussen, in welchen Arbeitskontexten berufsbegleitend Studierende tätig sind und welche Faktoren den Studienabbruch und/ oder den Berufsausstieg beeinflussen. Sämtliche Schweizer Hochschulen, welche den Masterstudiengang in Schulischer Heilpädagogik anbieten, haben sich bereits im Vorfeld der Studie zur Teilnahme bereit erklärt. Im Zentrum der Forschungsarbeiten stehen vier Hauptfragestellungen: 1: Welche Eingangsmerkmale (Studien- und Berufswahlmotive, Vorqualifikationen, Berufserfahrung) bringen Studierende der Heilpädagogik mit? 2: Inwiefern hängen bestimmte Eingangsmerkmale mit Ausbildungserfahrungen (z. B. Studienzufriedenheit), mit gewissen Aspekten der Kompetenzentwicklung (z. B. Selbstwirksamkeitserwartung, berufsbezogenen Einstellungen) sowie mit dem Studienerfolg (z. B. Studienverbleibabsicht, Studienabbruch) zusammen? 3: Welche beruflichen Anforderungen und Arbeitsressourcen haben berufsbegleitend Studierende, wie verändern sich diese im Laufe der Studienzeit und wie hängen sie zusammen mit Arbeitsengagement, beruflicher Belastung und den Absichten, aus dem Beruf auszusteigen? 4: Wie erleben bereits im integrativen Setting arbeitende, berufsbegleitend studierende SHP ihre Arbeitsbedingungen (Ressourcen, Belastungen) und welche motivationalen und gesundheitsbezogenen Prozesse sind mit einer befriedigenden Etablierung im Beruf verbunden? Methode Das Projekt ist als Längsschnitt mit einem Multi- Methoden-Design angelegt. Sämtliche SHP-Studierende der Schweiz mit Studienbeginn im Herbstsemester 2020 werden längsschnittlich durchs Studium begleitet (vgl. Abbildung 1). Während Fragestellung 1 explorativ untersucht wird, können zu den Fragestellungen 2 und 3 aus der internationalen Forschung gewisse Hypothesen abgeleitet werden. Für die quantitativ ausgerichteten Fragen 1 -3 werden die relevanten Konstrukte zu drei Messzeitpunkten mittels Fragebogenerhebung erfasst und anhand von deskriptiven Querschnittsanalysen, Panelanalysen mit Mehrebenenmodellen sowie Strukturgleichungsmodellen analysiert. Fragestellung 4 ist wiederum explorativ ausgerichtet, folgt einem qualitativen Forschungsdesign und ist dementsprechend offen formuliert. Für die Bearbeitung dieser Fragestellung wird eine Teilstichprobe von rund 30 berufsbegleitend Studierenden, die in integrativen Settings arbeiten, mit qualitativen Leitfadeninterviews je zweimal befragt. Die Daten werden mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet. Bedeutung des Projekts und Ausblick Da zu Studien- und Berufsverläufen bzw. zur erfolgreichen beruflichen Etablierung von Schweizer SHP noch keine systematischen empirischen Befunde existieren, liegt ein bedeutsamer Mehrwert der Studie in der Tatsache, dass diese Fragestellungen wissenschaftlich fundiert, theorie- und empiriegeleitet bearbeitet werden. Ein weiterer Mehrwert liegt im Multi-Methoden-Ansatz: Qualitative sowie quantitative Methoden stehen sich im geplanten Projekt gleichwertig gegenüber und können jeweils eigenen, für das Berufsfeld relevanten Fragestellungen nachgehen. Schließlich sind die zu erwartenden Ergebnisse für die Frage, wie SHP zukünftig erfolgreich rekrutiert und in ihrer beruflichen Etablierung unterstützt werden können, aufgrund der bisherigen Forschungslücke von großem Interesse. Im Fokus der aktuellen Arbeiten steht nach der erfolgreichen Durchfüh- Abb. 1 Erhebungszeitpunkte der Längsschnittstudie StAr Onlinebefragung t1 Interview t1 Onlinebefragung t2 Onlinebefragung t3 Interview t2 HS 2020 FS 2021 HS 2021 FS 2022 FS 2022 VHN 4 | 2022 336 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE rung der letzten quantitativen und qualitativen Datenerhebungen im Frühlingssemester 2022 sowie den ersten Analysen der querschnittlichen Daten vor allem die Bereinigung aller Daten, sodass in einem nächsten Schritt die Datensätze verbunden und längsschnittliche Analysen durchgeführt werden können. Zudem werden die Interviewdaten laufend transkribiert, damit möglichst rasch mit den geplanten qualitativen Auswertungen begonnen werden kann. Im Rahmen der Projektarbeit entstehen zwei Dissertationen, wovon eine die quantitativen Fragestellungen (1 -3) in den Blick nimmt und die andere die qualitative Fragestellung (4) beantwortet. Das Projekt StAr läuft noch bis im Frühjahr 2024, eventuell mit Aussicht auf Verlängerung. Weitere Angaben sowie Literaturangaben: caroline.sahli@phbern.ch www.phbern.ch/ star DOI 10.2378/ vhn2022.art39d Bringing Mentalisation-based Education to Switzerland (MentEd.ch) Pierre-Carl Link 1 , Nicola-Hans Schwarzer 2 , Holger Kirsch 3 , Peter Fonagy 4 , Noëlle Behringer 3 , Tillmann Kreuzer 2 , Agnes Turner 5 , Michael Wininger 6 , Melanie Henter 7 , Joost Hutsebaut 8 , Stephan Gingelmaier 2 1 Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich (Lead) 2 Pädagogische Hochschule Ludwigsburg 3 Evangelische Hochschule Darmstadt 4 University College London 5 Universität Klagenfurt 6 Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten 7 Universität Koblenz-Landau 8 De Viersprong Institute & Tilburg University Abstract Mentalisierungsbasierte Pädagogik fokussiert auf die reflexive Professionalisierung schulischer Heilpädagog/ innen und Psychomotoriktherapeut/ innen auf Basis sinnverstehender psychoanalytischer, entwicklungspsychologischer und soziale Kognition betreffender Konzepte, um mit Kindern und Jugendlichen, die auffälliges Verhalten zeigen, in Beziehung treten zu können. MentEd.ch setzt sich zum Ziel, die Mentalisierungsbasierte Pädagogik in der Schweizer Heilpädagogik zu adaptieren. Dies geschieht auf hochschulischer Ebene durch die curriculare Verankerung über die HfH mit Unterstützung durch ein international etabliertes Netzwerk. Nach erfolgreichen Förderphasen durch die DFG und Erasmus+ erreicht die Arbeit des Netzwerkes durch MOVETIA eine neue Reichweite und leistet einen Beitrag zur Qualität und Innovation des Schweizer Bildungssystems. Gefördert wird das Projekt von der Schweizerischen Stiftung für die Förderung von Austausch und Mobilität MOVETIA im Rahmen ihres Internationalen Programms (Projektnr.: 2022-1-CH01- IP-0046; Laufzeit: Oktober 2022 - Oktober 2024). Ausgangslage Im Zentrum des Projekts steht das noch junge und zunächst klinisch geprägte Mentalisierungskonzept, welches seit den 1990er-Jahren von der Gruppe um Peter Fonagy und Kolleg/ innen am University College London entwickelt wird und Beiträge verschiedener Disziplinen in einer Theorie des Mentalen integriert. Mentalisieren ist „ein imaginatives Wahrnehmen oder Interpretieren von Verhalten unter Bezugnahme auf intentionale mentale Zustände“ (Allen, Fonagy & Bateman, 2011, S. 24). Die Mentalisierungsfähigkeit gestattet es demnach, dass „psychische oder mentale Befindlichkeiten genutzt werden, um zu verstehen, wie sich das eigene und das Verhalten anderer begründet“ (Taubner, 2015, S. 17f.). Mentalisierende Beziehungserfahrungen können die Mentalisierungsfähigkeit verbessern (Fonagy & Allison, 2014) und wirken unterstützend bei der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Affektregulation und psychischer Gesundheit (z. B. De Meulemeester et al., 2018), dem kognitiven, sozio-emotionalen Lernen (Fonagy et al., 2015) und dem Interagieren in sozialen Bezügen (Fonagy et al., 2021). Folglich ist anzunehmen, dass das Mentalisierungskonzept auch für die Heil- und Sonderpädagogik anschlussfähig ist. Die Mentalisierungsbasierte Pädagogik ist ein innovativer Praxis- und Forschungsansatz, des-