eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 92/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Rezension: Hafner, Urs (2022): Kinder beobachten. Das Neuhaus in Bern und die Anfänge der Kinderpsychiatrie

11
2023
Christian Mürner
Die kinderpsychiatrische Beobachtungsstation Neuhaus in Bern wurde 1937 eröffnet. Sie war am Rand des Areals der Psychiatrischen Klinik Waldau untergebracht. Der Historiker und Journalist Urs Hafner legt eine prägnant geschriebene und aufschlussreiche Darstellung der damals neuartigen Institution vor. Es ist eine Studie zur Entwicklung, Etablierung, Forschungs- und Arbeitsweise der Einrichtung anhand der Krankenakten, Quellen und Dossiers. Ziel der Beobachtungsstation war die Abklärung für die kommende Behandlung und Platzierung der „schwierigen“ Kinder, z.B. in Heimen oder Pflegefamilien.
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VHN 1 | 2023 78 REZE NSION Hafner, Urs (2022): Kinder beobachten. Das Neuhaus in Bern und die Anfänge der Kinderpsychiatrie Zürich: Chronos Verlag. 142 S., € 28,- Die kinderpsychiatrische Beobachtungsstation Neuhaus in Bern wurde 1937 eröffnet. Sie war am Rand des Areals der Psychiatrischen Klinik Waldau untergebracht. Der Historiker und Journalist Urs Hafner legt eine prägnant geschriebene und aufschlussreiche Darstellung der damals neuartigen Institution vor. Es ist eine Studie zur Entwicklung, Etablierung, Forschungs- und Arbeitsweise der Einrichtung anhand der Krankenakten, Quellen und Dossiers. Ziel der Beobachtungsstation war die Abklärung für die kommende Behandlung und Platzierung der „schwierigen“ Kinder, z. B. in Heimen oder Pflegefamilien. Als Erster leitete der Berner Kinderpsychiater Arnold Weber (1894 -1976) das Neuhaus von 1937 - 1960 vorwiegend psychoanalytisch orientiert. Sein Nachfolger, der Zürcher Psychiater Walter Züblin (1919 -1990), hatte die Leitung von 1961 - 1985 inne; er bevorzugte Verfahren mit den neuen Psychopharmaka, obwohl er auf die weiße medizinische Arbeitskleidung verzichtete. Diese beiden Ausrichtungen unterschieden sich grundsätzlich. Weber analysierte die Träume und die Zeichnungen der ihm zugewiesenen „schwierigen“ Kinder, machte Rorschach- und IQ-Tests, diagnostizierte „Neurosen“, die er als „krankmachende Störung in der Verarbeitung von seelischen Konflikten“ (S. 29) definierte, und veranlasste Gesprächstherapien, die auch die familiäre und soziale Situation, das „Milieu“, miteinbezogen. Weber wohnte in der Nähe des Neuhauses und war stets anwesend. Von den Kindern wurde er Papa Weber genannt (S. 23). Seine Methode war sozusagen „antiautoritär“ und entsprechend instruierte er das vorwiegend weibliche Personal, u. a. die Heilpädagogin Simone Hubert, die Musiklehrerin Elisabeth Bernhard, die Sozialarbeiterin Kathrin Fischer. „Verwahrlosung“ entstehe durch „ungenügende Liebe und Sorge der Erzieher“ (S. 51). Damit brachte Weber „offen Empathie für die Betroffenen“ zum Ausdruck und „entkriminalisierte also verwahrloste Kinder“ (S. 53), notiert Hafner. Webers allgemeine Position beurteilt Hafner als ambivalent, dem fatalen nationalsozialistischen Zeitgeist gegenüber begegnete er eher durch „Vorsicht beim Diagnostizieren“, das „auffällige“ Kind sei eher ein Rätsel und nicht so einfach zu entschlüsseln (S. 61f.). Walter Züblin hatte den Spitznahmen „Holzbodenheiland“. Er galt als kauzig, offenherzig und enthusiastisch. „Züblin löste das Neuhaus von der Waldau und baute die ambulante Kinderpsychiatrie aus. […] Züblin war weniger vor Ort als Weber, nur zwei Tage die Woche, die restliche Zeit verbrachte er unter anderem in der Erziehungsberatung in der Stadt Bern, für die er ebenfalls arbeitete“ (S. 66f.), schreibt Hafner. „Schwierigen“ oder „auffälligen“ Kindern diagnostizierte Züblin ein „psychoorganisches Syndrom“ (POS). Es gelte, sie mit Psychopharmaka ruhigzustellen. Hafner bezeichnet dies als „Wende“ (S. 76f.) in der Ausrichtung des Neuhauses, der „ärztliche Blick“ verschob sich von der psychoanalytischen Vorgehensweise zur naturwissenschaftlich-biologischen bzw. hirnorganischen, die psychische Krankheiten in einem „Hirnschaden“ lokalisierte und mit Medikamenten behandelte. Dennoch, obwohl es nun weniger um Beobachten als mehr um Therapieren und Normalisieren ging, wurde im Neuhaus weiter gemalt und Theater gespielt. Simone Hubert favorisierte und praktizierte das Psychodrama (vgl. S. 87ff.). Das faszinierende Cover von Hafners Buch zeigt als Titelbild eine Zeichnung von S. X. aus dem Archiv des Neuhauses: einen das Blatt formatfüllenden schwarzen Teufel mit grünen Augen, einem lachenden roten Mund und einem kleinen blauen Vogel, der ihn auf den Kopf pickt. Wenn man von einem „schwierigen Kind“ sagt, „du bist wie der Teufel“, könnte man die Zeichnung als Selbstbildnis deuten, vielleicht ist sie aber ein Porträt des Beobachters, der mit Vergnügen das Kind mit den derb dargestellten Krallenhänden zu fassen versucht. Zumindest wird die teuflische Figur als sehr dominierend erlebt. Wenn Hafner in der Einleitung schreibt, dass er bei der Darstellung des Neuhauses deskriptiv (S. 11f.) und nicht wertend verfahre, ist die Wahl dieses Titelbildes allein schon ein Kommentar, wie auch die Zeichnung der zarten Ballerina von N. A. aus dem Jahr 1947 (S. 37), VHN 1 | 2023 79 REZE NSION die ebenso gut auf das Cover gepasst hätte. Das sind meine Projektionen, wie das Personal des Neuhauses die Zeichnungen interpretierte, ist unbekannt (S. 36). In den Bildmotiven kommt der kindliche Blick zum Ausdruck. Ein Vorzug von Hafners Buch ist, dass er stets kurze biografische Verweise der Kinder, die mit Initialen gekennzeichnet sind, einfügt. Die Antworten der Kinder sind zwar einsilbig, aber direkt. Der Knabe S. antwortet, auf die Frage, wo er dann den Vater kitzelte: „Ich darfs nicht sagen.“ (S. 25). Nach drei Monaten Beobachtung „wurde N., die Tanderil und Pertofran erhielt, im Mädchenheim Kehrsatz platziert“ (S. 92). Nach dem Aufenthalt im Neuhaus ist meistens von den Kindern nichts Weiteres mehr zu erfahren, die Eigenart einer Beobachtungs-Durchgangsstation. In ihrer „kulturkonservativen Zivilisationskritik“ (S. 100) stimmten Weber und Züblin überein, der amerikanische „way of life“ war ihrer Ansicht nach das Übel. Es gelte „neue Familienstrukturen“ einzuführen. Damit kündigte sich die systemische Familientherapie an (S. 108). Zum Schluss problematisiert Hafner „das Anormale und das Normale“ (S. 109ff.). Er beruft sich auf eine Vortragsreihe der Erziehungsberaterin Martha Sidler von 1927. Er hätte sich auch auf den Heilpädagogen Heinrich Hanselmann und dessen Antrittsvorlesung von 1924 unter dem Titel „Wer ist normal? “ beziehen können. Wer eine solche Frage aufwerfe, könne „selbst nicht ganz normal sein“, konstatierte Hanselmann. „Das Anormale ist unter uns“ (S. 121), sagt Hafner und zitiert den Wissenschaftstheoretiker Georges Canguilhem, der das Polemische und Dynamische des Normalitätsbegriffs betonte. Er hätte auch das gesellschaftskritische Normalitätsmodell des (Anti-)Psychiaters Giovanni Jervis hinzuziehen können. „Das Verhältnis von Normalem und Anormalem“ (S. 121) ist offen, ambivalent und komplex. Hafners Buch bietet eine detaillierte, eindrückliche Geschichte der Auseinandersetzung anhand der Beobachtungsstation Neuhaus. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2023.art09d VORSCHAU Vorschau auf die kommenden Hefte Zum Bedarf postklinischer Berufsintegrationsprogramme im Kanton Zürich Andreas Wepfer, Carmelo Campanello, Andreas Andreae Produktion von Unbewusstheit durch Schulstatistiken? Intersektionale Perspektiven auf Migration, Geschlecht und Förderbedarf unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunkts emotional-soziale Entwicklung Bernhard Rauh, Philipp Abelein Ethische Reflexionen im Forschungsprozess mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Nadja Moramana, Irina Bühler, Natalie Zambrino, Eva Büschi, Stefania Calabrese Und demnächst online in VHN plus : Sprachliche und emtional-soziale Beeinträchtigungen - Komorbiditäten und Wechselwirkungen Stephanie Zwirnmann, Carina Lüke, Roland Stein VHN plus