Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Fachbeitrag: In welchem Maße können sich Menschen mit geistiger Behinderung in die Situation des Altseins hineinversetzen?
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2023
Lotte Habermann-Horstmeier
Lukas M. Horstmeier
Larissa Breinlinger
Bislang ist kaum etwas über die Fähigkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung bekannt, sich in zukünftige Situationen (z.B. das eigene Altsein) hineinzuversetzen. Eine solche Fähigkeit zum episodischen Zukunftsdenken (Episodic Future Thinking - EFT) kann jedoch erheblichen Einfluss auf ihre Möglichkeiten haben, aktiv bei gesundheitsfördernden Maßnahmen oder in inklusiven Forschungsprojekten mitzuwirken. Im Rahmen der vorliegenden Mixed-Method-Studie wurden daher leitfadengestützte Interviews mit 16 Frauen und Männern mit geistiger Behinderung durchgeführt. Im Durchschnitt wiesen die Teilnehmenden mit leichter geistiger Behinderung, sehr guten sprachlichen Fähigkeiten und einem sozio-emotionalen Entwicklungsgrad 5 (SEO 5) eine deutlich bessere EFT-Fähigkeit auf als solche mit stärkerer geistiger Behinderung, eingeschränkteren Sprachkenntnissen und SEO-Grad 4. Es fanden sich zudem erste Hinweise darauf, dass auch Geschlecht, Alter und Art der Behinderung die EFT-Fähigkeit beeinflussen können.
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111 VHN, 92. Jg., S. 111 -126 (2023) DOI 10.2378/ vhn2023.art13d © Ernst Reinhardt Verlag In welchem Maße können sich Menschen mit geistiger Behinderung in die Situation des Altseins hineinversetzen? Eine explorative Studie zum episodischen Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung Lotte Habermann-Horstmeier 1 , Lukas M. Horstmeier 2 , Larissa Breinlinger 3 1 Villingen Institute of Public Health 2 Universitätsklinikum Freiburg i. Br. 3 Hochschule Furtwangen Zusammenfassung: Bislang ist kaum etwas über die Fähigkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung bekannt, sich in zukünftige Situationen (z. B. das eigene Altsein) hineinzuversetzen. Eine solche Fähigkeit zum episodischen Zukunftsdenken (Episodic Future Thinking - EFT) kann jedoch erheblichen Einfluss auf ihre Möglichkeiten haben, aktiv bei gesundheitsfördernden Maßnahmen oder in inklusiven Forschungsprojekten mitzuwirken. Im Rahmen der vorliegenden Mixed-Method-Studie wurden daher leitfadengestützte Interviews mit 16 Frauen und Männern mit geistiger Behinderung durchgeführt. Im Durchschnitt wiesen die Teilnehmenden mit leichter geistiger Behinderung, sehr guten sprachlichen Fähigkeiten und einem sozio-emotionalen Entwicklungsgrad 5 (SEO 5) eine deutlich bessere EFT-Fähigkeit auf als solche mit stärkerer geistiger Behinderung, eingeschränkteren Sprachkenntnissen und SEO-Grad 4. Es fanden sich zudem erste Hinweise darauf, dass auch Geschlecht, Alter und Art der Behinderung die EFT- Fähigkeit beeinflussen können. Schlüsselbegriffe: Geistige Behinderung, episodisches Zukunftsdenken (EFT), episodisches Gedächtnis, SEO-Konzept, Alter Can People with Intellectual and Developmental Disabilities (IDD) Empathize with Being Old? An Exploratory Study of Episodic Future Thinking Among People with IDD Summary: So far, little is known about the ability of people with intellectual and developmental disabilities (IDD) to put themselves in future situations as in the position of being old. However, such Episodic Future Thinking (EFT) ability can have a significant impact on their ability to actively participate in health promotion activities or inclusive research projects. Guided interviews with 16 men and women with IDD were therefore conducted as part of a new mixed-method approach. On average, the participants with mild intellectual disabilities, very good language skills and a socio-emotional development level 5 (SEO 5) had a significantly better EFT ability than those with more severe intellectual disabilities, more limited language skills and SEO level 4. It was found also early evidence that gender, age, and type of disability can affect EFT ability. Keywords: Intellectual and developmental disabilities (IDD), episodic future thinking (EFT), episodic memory, SEO concept, old age FACH B E ITR AG VHN 2 | 2023 112 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG 1 Hintergrund In den letzten Jahrzehnten haben sich die Chancen der Menschen mit geistiger Behinderung, ein höheres Lebensalter zu erreichen, auch in Deutschland deutlich verbessert (Dieckmann & Metzler, 2013). Allerdings gibt es noch zu wenige Einrichtungen, die speziell auf deren Bedürfnisse eingestellt sind (Habermann-Horstmeier, 2022). Doch möchten Menschen mit geistiger Behinderung überhaupt im Alter in solchen Einrichtungen betreut werden? Nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) sollen sie ihre Vorstellungen aktiv in den Prozess der personenzentrierten Gesamtplanungen zur Ermittlung ihrer Teilhabebedarfe einbringen, damit dort ihre individuellen Fähigkeiten, Bedürfnisse und Ressourcen berücksichtigt werden können (BAGüS, 2018, S. 3). Bislang ist jedoch kaum etwas darüber bekannt, wie sich Menschen mit geistiger Behinderung ihr eigenes Alter vorstellen. Insbesondere ist unklar, ob sie grundsätzlich überhaupt dazu in der Lage sind, sich in ein zukünftiges Selbst hineinzuversetzen oder ob ihre Fähigkeit hierzu nicht von der Art und vom Grad ihrer geistigen Behinderung abhängt. Unter einer geistigen Behinderung wird hier eine Syndrom-ähnliche Konstellation verstanden, die (1) auf der Grundlage von Störungen in der regulären pränatalen oder frühkindlichen Gehirnentwicklung zu körperlichen und seelischen Erscheinungen, Symptomen und Faktoren sowie deren funktionalen Auswirkungen führt. Dabei schlägt (2) die Entwicklung des Gehirns sehr früh einen alternativen Weg ein, der sich (3) auf der Basis der nun andersartigen anatomischen/ physiologischen Gegebenheiten in Wechselwirkung mit der physischen und psychosozialen Umwelt im weiteren Leben fortsetzt. (4) Nicht nur die kognitiven Fähigkeiten (wie Wahrnehmung, Lernen, Erinnern, Vorstellen, Denken usw.) sind in unterschiedlichem Maße betroffen, sondern auch der sozio-emotionale, psychosoziale und psychomotorische Bereich (Habermann-Horstmeier, 2022). Um die Frage zu beantworten, in welchem Maße sich Menschen mit geistiger Behinderung in zukünftige Situationen hineinversetzen können, müssen daher nicht nur ihre intellektuellen Einschränkungen, sondern z. B. auch ihre sozioemotionalen Fähigkeiten berücksichtigt werden. Die hier verwendete Einordnung der sozioemotionalen Fähigkeiten beruht auf dem SEO- Konzept nach Došen (2010) und Sappok und Zepperitz (2019), das das sozio-emotionale Leistungsniveau von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung dem Lebensalter zuordnet, in dem dieses normalerweise im Verlauf der kindlichen Entwicklung erreicht wird (Referenzalter). Hiernach entspricht SEO 3 beispielsweise einem Referenzalter von 1,5 bis 3 Jahren (SEO 4: 3 bis 6/ 7 Jahre, SEO 5: 6/ 7 bis 12 Jahre). Došen ordnet zudem den einzelnen SEO-Phasen verschiedene Grade der intellektuellen Behinderung zu, betont aber, dass es sich hierbei um eine grob vereinfachende Zuordnung handelt und es u. a. unter dem Einfluss des umgebenden Milieus auch deutliche Unterschiede zwischen kognitivem und sozio-emotionalem Niveau geben kann. Entwicklungspsychologische Studien zeigen, dass sich die Fähigkeit zum episodischen Zukunftsdenken (Episodic Future Thinking, EFT) bei normal entwickelten Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren in ersten Ansätzen zeigt (Atance, 2008; Suddendorf & Redshaw, 2013; Atance, 2015) und dass sich diese Fähigkeit dann während der mittleren Kindheit weiter verbessert (Coughlin, Lyons & Ghetti, 2014; Ferretti et al., 2018). Das Vermögen, sich in ein zukünftiges Selbst hineinzuversetzen, gehört neben dem Hineinversetzen in eine andere Person zu den wichtigen Aspekten der Theory of Mind (Atance & O’Neill, 2005). Es gibt Hinweise darauf, dass das EFT Individuen befähigt, Handlungen zu planen, die auf zukünftige Ziele und Herausforderungen ausgerichtet sind (Prabhakar, Cough- VHN 2 | 2023 113 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG lin & Ghetti, 2016). Dabei ist die Entwicklung dieser Fähigkeit eng mit der Entwicklung des episodischen Gedächtnisses verknüpft (Suddendorf, Nielsen & von Gehlen, 2011). Ob und in welchem Ausmaß EFT auch bei Menschen mit geistiger Behinderung vorhanden ist, wurde bislang in ersten Ansätzen v. a. bei Menschen mit einer Autismus-Spektrum- Störung (ASS) untersucht. Hier zeigte sich, dass diese zwar Einschränkungen beim episodischen Gedächtnis aufweisen. Ob bei ihnen auch Beeinträchtigungen des episodischen Zukunftsdenkens vorkommen, ist noch unklar (Lind, Williams, Bowler & Peel, 2014; Wojcik et al., 2020). Wir stellten uns daher die folgenden Forschungsfragen: (1) Beeinflussen die kognitiven und sozioemotionalen Beeinträchtigungen bei Menschen mit geistiger Behinderung auch ihre Fähigkeit zum episodischen Zukunftsdenken (z. B. im Hinblick auf das zukünftige Altsein)? (2) Wenn ja: Welche Faktoren können darüber hinaus ihre EFT-Fähigkeit beeinflussen? Erste Erkenntnisse hierzu sollten im Rahmen einer explorativen Studie mithilfe eines hybriden Ansatzes aus qualitativen und quantitativen Methodenelementen gewonnen werden. Die Ergebnisse hieraus sind als Anstoß für eine möglichst breite, interdisziplinäre Diskussion und für weitere, umfangreichere, repräsentative Forschungsarbeiten gedacht. 2 Methode 2.1 Stichprobenerstellung Um bei den hierfür geplanten fokussierten, teilstrukturierten Interviews eine kontrastierende Stichprobenzusammenstellung zu erreichen, wurden aus der Grundgesamtheit „erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung“ möglichst verschiedene Personen ausgesucht, die unterschiedliche Merkmale repräsentieren sollten (Reichweite als Gütekriterium einer qualitativen Studie). Für die Teilnahme an der Studie konnten schließlich 16 erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung (62,5 % Frauen) im Alter von 24 bis 59 Jahren (Mittelwert: 43,06 J.; Standardabweichung: ± 11,64 J.) gewonnen werden. Alle Personen stammten aus Süddeutschland, wo sie in verschiedenen stationären Wohneinrichtungen (n = 6) und Außenwohngruppen stationärer Einrichtungen (n = 6) betreut wurden bzw. in inklusiven Wohngemeinschaften (n = 2) und im ambulant betreuten Einzelwohnen (n = 2) lebten. 2.2 Kontaktaufnahme Der Kontakt zu ihnen wurde jeweils über eine Betreuungskraft hergestellt. Sobald sich eine Person zur Teilnahme bereiterklärt hatte, wurde (falls vorhanden) von den gesetzlichen Betreuenden eine Einwilligungserklärung zur Studienteilnahme eingeholt. Die Teilnehmenden selbst wurden vorab mit einem kurzen, in Leichter Sprache verfassten Schreiben über das Vorhaben informiert. Vor dem Interview wurden die Betreuungskräfte gebeten - wenn möglich gemeinsam mit den Proband/ innen -, einen kurzen Fragebogen zur interviewten Person (Name, Alter, Geschlecht der interviewten Person, Art und Grad ihrer geistigen Behinderung, sprachliche Fähigkeiten, zusätzliche Erkrankungen/ psychische Störungen, Angaben zu Fähigkeiten, aus denen sich auf den sozio-emotionalen Entwicklungsgrad schließen ließ) auszufüllen. Bei der Terminvereinbarung wurden die Wünsche der Teilnehmenden berücksichtigt. VHN 2 | 2023 114 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG 2.3 Studienteilnehmende Da viele Menschen mit schwerer geistiger Behinderung eingeschränkte kommunikative Fähigkeiten haben, können fokussierte Interviews nur mit Personen durchgeführt werden, die einen leichten bis mittleren Behinderungsgrad aufweisen. Die Betreuer/ innen schätzten - ggf. gemeinsam mit den Teilnehmenden - deren sprachliche Fähigkeiten auf einer Intervall-Skala von „sehr gut“ (1) bis „sehr schlecht“ (5) in neun Fällen als „sehr gut“ (1), in fünf Fällen als „gut“ (2) und in zwei Fällen als „mittel“ (3) ein. Als Ursache der geistigen Behinderung der Befragten wurden das Down- Syndrom (Trisomie 21; n = 2), eine Autismus-Spektrum-Störung (n = 5) und das Prader-Willi-Syndrom (n = 1) genannt. Bei acht Teilnehmenden gab es hierzu keine näheren Angaben. Zusätzlich zur geistigen Behinderung wurde bei sieben Proband/ innen eine psychiatrische Diagnose (Verhaltensauffälligkeiten, affektive Störung/ Depression, Psychose, Zwangserkrankung, Borderline-Störung, Anpassungsstörung) genannt. Auch den Grad der geistigen Behinderung schätzten die Betreuenden (ggf. gemeinsam mit den Proband/ innen) auf einer Skala von „sehr leicht“ (1) bis „sehr stark“ (5) ein. Wie bei den sprachlichen Fähigkeiten handelte es sich um eine subjektive Einschätzung, es wurden bewusst keine Erläuterungen zu den einzelnen Skalenpunkten gegeben. In drei Fällen wurde der Grad der geistigen Behinderung als „sehr leicht“ (1) und in jeweils sechs Fällen als „leicht“ (2) bzw. „mittel“ (3) eingeschätzt. Eine Betreuungskraft gab den Behinderungsgrad als „leicht bis sehr leicht“ an, was bei der statistischen Auswertung der Daten mit 1.5 übernommen wurde. Das sozio-emotionale Leistungsniveau der Proband/ innen wurde auf der Basis des SEO- Konzepts nach Došen (2010) und Sappok und Zepperitz (2019) anhand von fünf Aussagen zu zentralen Fähigkeiten aus den Bereichen „Umgang mit dem eigenen Körper“, „Umgang mit Bezugspersonen“, „Umgang mit Peers“, „Kommunikation“ und „Affektregulation“ ermittelt, die im Verlauf der SEO-Entwicklungsstufe 5 erreicht werden (s. Tab. 1). Domäne 1: Umgang mit dem eigenen Körper Der Studienteilnehmer/ die Studienteilnehmerin kann seine/ ihre körperlichen Leistungsmöglichkeiten realistisch wahrnehmen und einschätzen. Domäne 2: Umgang mit Bezugspersonen Der Studienteilnehmer/ die Studienteilnehmerin kann soziale Regeln übernehmen und hält sie ohne die Anwesenheit von Autoritätspersonen (z. B. Betreuungskräften) ein. Domäne 5: Umgang mit Peers Der Studienteilnehmer/ die Studienteilnehmerin orientiert sich an Peers (z. B. an Mitbewohner/ innen oder Freund/ innen, nicht an Autoritätspersonen) und möchte dazu gehören. Domäne 7: Kommunikation Der Studienteilnehmer/ die Studienteilnehmerin stellt Fragen zu Ursache bzw. Wirkung von Dingen oder Vorgängen und zeigt durch Fragen, dass er/ sie einen Zusammenhang genau erkannt, geistig erfasst und sachlich richtig begriffen hat. Domäne 8: Affektregulation Der Studienteilnehmer/ die Studienteilnehmerin denkt von selbst darüber nach, was in einer Situation gut oder falsch gelaufen ist. Tab. 1 Die entsprechend dem Diagnostik-Instrument SEED abgefragten, zentralen Fähigkeiten aus den SEO-Domänen 1, 2, 5, 7 und 8, die im Verlauf der SEO-Entwicklungsstufe 5 erreicht werden VHN 2 | 2023 115 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG Gruppen Alter [Jahre] Sprachliche Fähigkeiten (1 = sehr gut, 2 = gut, 3 = mittel, 4 = schlecht, 5 = sehr schlecht) Grad der geistigen Behinderung (1 = sehr leicht, 2 = leicht, 3 = mittel, 4 = stark, 5 = sehr stark) SEO-Grad (SEO 4, 4 bis 5 [4,5] und 5) GESAMT (n = 16) 43.06 (11.64) 41 24 -59 1.56 (0.73) 1 1 -3 2.16 (0.77) 2 1 -3 4.59 (0.46) 4.75 4 -5 Geschlecht weiblich (n = 10) 45.80 (12.67) 51 27 -59 1.50 (0.71) 1 1 -3 2.10 (0.74) 2 1 -3 4.60 (0.46) 4.75 4 -5 männlich (n = 6) 38.50 (8.78) 39.5 24 -51 1.67 (0.82) 1.5 1 -3 2.25 (0.88) 2.5 1 -3 4.58 (0.49) 4.75 4 -5 Altersgruppen < 45 J. (n = 9; 4 w, 5 m) 34.11 (5.90) 36 24 -41 1.22 (0.44) 1 1 -2 1.94 (0.73) 2 1 -3 4.67 (0.43) 5 4 -5 ≥ 45 J. (n = 7; 6 w, 1 m) 54.57 (4.16) 56 47 -59 1.86 (0.69) 2 1 -3 2.43 (0.79) 3 1 -3 4.50 (0.50) 4.5 4 -5 Wohnformen Stationäre Einrichtung + Außenwohngruppe einer stationären Einrichtung (n = 12) 45.17 (12.71) 49 24 -59 1.75 (0.75) 2 1 -3 2.29 (0.69) 2 1 -3 4.54 (0.45) 4.5 4 -5 Inklusive Wohngruppe + ambulant betreutes Einzelwohnen (n = 4) 36.75 (3.77) 37 32 -41 1 (0) 11 1.75 (0.96) 1.5 1 -3 4.75 (0.50) 5 4 -5 Art der Behinderung Trisomie 21 (n = 2) 44.50 (9.19) 44,5 38 -51 2.00 (1.41) 2 1 -3 3.00 (0) 33 4.50 (0.71) 4,5 4 -5 Autismus-Spektrum-Störung (n = 5) 38.00 (12.31) 36 24 -57 1.60 (0.55) 2 1 -2 2.10 (0.89) 2 1 -3 4.50 (0.50) 4.5 4 -5 Andere Form der geistigen Behinderung (n = 9) 45.56 (12.00) 47 27 -59 1.44 (0.73) 1 1 -3 2.00 (0.71) 2 1 -3 4.67 (0.43) 5 4 -5 Angegeben sind jeweils: M (SD) Median Spannweite Tab. 2 Beschreibung der Studienteilnehmer/ innen (n = 16) Anmerkungen: n = Anzahl, w = weiblich, m = männlich; M = Mittelwert, SD = Standardabweichung; SEO-Grad: Grad der sozio-emotionalen Entwicklung VHN 2 | 2023 116 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG Die Aussagen wurden dem Diagnostik-Instrument SEED - Skala der Emotionalen Entwicklung (Sappok, Zepperitz, Fergus Barrett & Došen, 2018) entnommen und den sprachlichen Erfordernissen unseres Fragebogens angepasst. Dieses Vorgehen erlaubt nur eine grobe Einordnung des sozio-emotionalen Entwicklungsstandes. Eine vollständige SEO-Testung wäre jedoch zu zeitintensiv gewesen. Auch hier schätzten die Proband/ innen bzw. ihre Betreuer/ innen die Fähigkeiten der Teilnehmenden mithilfe einer Skala ein. Jeder angekreuzten Aussage wurde ein Punktwert zugeordnet. Antwortmöglichkeiten waren hier „Ja“ (1), „Ja, mit leichten Einschränkungen“ (2), „Ja, mit deutlichen Einschränkungen“ (3), „Nein“ (4). Die Einordnung in die SEO-Entwicklungsstufe 5 erfolgte dann, wenn in mehr als der Hälfte der Fälle „Ja“ bzw. „Ja, mit leichten Einschränkungen“ angekreuzt wurde und der errechnete durchschnittliche Punktwert bei gleich oder kleiner 2.0 von 4 lag. Eine Einordnung in die SEO-Entwicklungsstufe 4 wurde dann vorgenommen, wenn überwiegend „Ja, mit deutlichen Einschränkungen“ bzw. „Nein“ angekreuzt wurde und der errechnete durchschnittliche Punktwert über 2.0 lag. Dem SEO-Grad 4.5 wurden Proband/ innen dann zugeordnet, wenn zwar überwiegend „Ja“ bzw. „Ja, mit leichten Einschränkungen“ angekreuzt wurde, der durchschnittliche Punktwert aber über 2.0 lag. Die Einordnung in die SEO-Entwicklungsstufe 4 bzw. 4 bis 5 erfolgte unter der begründeten Annahme, dass keine/ r dieser Proband/ innen einen SEO-Grad ≤ 3 aufwies, da sich bei ihnen in den Interviews nur sehr vereinzelt und nicht durchgängig Anhaltspunkte für ein SEO 3-typisches Verhalten zeigte (Beispiel für SEO 3-typisches Verhalten im Interview: „Kommuniziert überwiegend über das Hier und Jetzt.“). Eine ausführliche statistische Beschreibung der Proband/ innen, auch hinsichtlich ihrer sprachlichen Fähigkeiten, des Grades ihrer geistigen Behinderung und des grob eingeschätzten SEO-Grades zeigt Tabelle 2. 2.4 Interviews Die Interviews fanden im September/ Oktober 2021, also während der Covid-19-Pandemie, als telefonische Befragungen (n = 12) oder über Video-Telefonie (n = 4) statt. Eine Durchführung der Interviews vor Ort war aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen nicht möglich. Ursprünglich angestrebt war daher, alle Teilnehmer/ innen über Video-Telefonie zu interviewen. Dies hätte den Informationsaustausch für beide Seiten erleichtert, da dann zwei Sinneskanäle (Hören und Sehen) einbezogen worden wären. In den meisten Fällen ließ sich das jedoch aufgrund technischer Probleme seitens der Wohngruppen nicht umsetzen. Die Teilnehmenden führten die Telefonate in einem ruhigen Raum selbstständig durch und trugen dabei keine Maske. Wenn gewünscht, war während der Interviews eine Betreuungskraft (z. T. mit Maske) anwesend, um bei möglichen Kommunikationsproblemen zu unterstützen. Weitere Schutzmaßnahmen waren nicht nötig, da sich die Studienteilnehmenden innerhalb ihrer eigenen Wohngruppe bzw. ihrer eigenen Wohnung befanden. Die Interviewdauer betrug zwischen 13 und 27 Minuten (Mittelwert: 20 min 43 sec, SD: 4 min 52 sec; Median 20 min 31 sec). Die Interviews wurden mit Zustimmung der Proband/ innen aufgezeichnet. Im Rahmen der Interviews wurden die einzelnen Fragenbereiche jeweils zu Beginn mit Leitfragen bzw. Erzählaufforderungen eingeleitet (z. B. „Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie ein Kind waren? “). Falls die Proband/ innen hierauf nur sehr einsilbig antworteten, wurden zusätzlich Aufrechterhaltungsfragen gestellt. Wenn auch dies nicht zum Ziel führte, wurde konkret nachgefragt. Angesprochen wurden zuerst die Kindheit der Befragten und ihr jetziges Leben, anschließend die Charakteristika des Altseins, die Einordnung des eigenen Alters (alt oder jung? ), mögliche altersassoziierte Gesundheitseinschränkungen einschließlich entsprechender Hilfen sowie die Möglichkeiten VHN 2 | 2023 117 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG Items Untergliederungsoptionen Punktzahl 1. Nennt Charakteristika des Altseins (z. B. graue Haare, in Rente sein, gesundheitliche Einschränkungen) a. spontan b. mit Unterstützung/ teilweise c. nein 1 P. 0.5 P. 0 P. 2. Kennt eignes Alter a. spontan b. mit Unterstützung c. nein 1 P. 0.5 P. 0 P. 3. Kann eigenes Alter als jung oder alt einordnen a. ja b. nein/ unklar 1 P. 0 P. 4. Kennt sinnvolle Unterstützungsmöglichkeiten bei gesundheitlichen Einschränkungen im Alter a. spontan b. mit Unterstützung c. nein 1 P. 0.5 P. 0 P. 5. Kann sich in die Situation des Altseins hineinversetzen a. spontan b. mit Unterstützung/ teilweise c. nein 1 P. 0.5 P. 0 P. 6. Nennt auf sich bezogene realistische Möglichkeiten des Wohnens im Alter a. ja b. wiederholt hier unreflektiert Möglichkeiten, die offensichtlich von Bezugspersonen stammen oder bezieht sich auf aktuelle Situation bzw. nennt Möglichkeiten nur auf Nachfrage/ mit Unterstützung c. nein 1 P. 0.5 P. 0 P. 7. Nennt auf sich bezogene realistische Möglichkeiten der Freizeitgestaltung im Alter a. ja b. nennt hier seine/ ihre aktuellen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, ohne die physischen/ psychischen Gegebenheiten im Alter zu berücksichtigen bzw. nennt Möglichkeiten nur auf Nachfrage/ mit Unterstützung c. nein 1 P. 0.5 P. 0 P. 8. Nennt auf sich bezogene realistische Möglichkeiten, wer im Alter bei ihm/ ihr sein soll a. ja b. mit Unterstützung bzw. berücksichtigt nicht das eigene Altwerden der Bezugsperson c. nein 1 P. 0.5 P. 0 P. 9. Hat schon einmal über das Altwerden nachgedacht oder mit jemandem darüber gesprochen a. ja b. nein 1 P. 0 P. 10. Verbindet das Altern spontan mit dem Tod a. ja b. nein 1 P. 0 P. GESAMT max. 10 P. Tab. 3 Zuordnung der Interview-Antworten zu verschiedenen Merkmalen des Altseins, um den Grad der EFT-Fähigkeit der Proband/ innen zu ermitteln VHN 2 | 2023 118 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG des Wohnens, der Freizeitgestaltung und der Betreuung im Alter, wobei jeweils angestrebt wurde, einen Bezug zur Situation des eigenen Altseins herzustellen. Die Transkription der Interviews erfolgte durch Personen mit langjähriger Erfahrung im persönlichen Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung. Die Ergebnisse der qualitativen, inhaltsanalytischen Auswertung der leitfadengestützten Interviews sind bereits in einer separaten Publikation erschienen (Habermann-Horstmeier & Breinlinger, 2022). Auf einige der im Zusammenhang mit den vorgestellten Daten relevanten Ergebnisse wird in der Diskussion vergleichend eingegangen. 2.5 Datenbearbeitung und Datenanalyse Um den Grad der Fähigkeit der Teilnehmenden, sich in die Situation des Altseins hineinzuversetzen, messbar zu machen, wurden ihre Interview-Antworten verschiedenen Merkmalen des Alterns/ Altseins (z. B. den Vorstellungen vom Alter, dem Bewusstsein des eigenen Alters) zugeordnet. Tabelle 3 zeigt die zehn Aussagen, die verschiedene Aspekte des Hineinversetzens in das eigene Altsein widerspiegeln. Entsprechend den Untergliederungsoptionen wurden die Antworten der Proband/ innen dann jeweils mit 0 bis 1 Punkt bewertet (max. Punktzahl: 10). Um mögliche Zusammenhänge zwischen der Fähigkeit, sich ins eigene Altsein hineinzuversetzen, und den in Tab. 2 dargestellten Variablen (Alter, Geschlecht, Art und Grad der geistigen Behinderung, sprachliche Fähigkeiten, SEO- Grad) auszuloten, wurde eine quantitative deskriptive Beschreibung der Werte und möglicher Wechselbeziehungen vorgenommen. Die Fähigkeit zum Zurückversetzen in die eigene Kindheit wurde auf der Basis der Interviews anhand einer Skala von 1 (sehr gut) über 2 (eher gut) und 3 (eher schlecht) bis 4 (sehr schlecht) eingeschätzt 1 . 3 Ergebnisse Im Folgenden werden nun die so ermittelten Ergebnisse in Bezug auf das Alter und Geschlecht der Proband/ innen, ihre Wohnform, die Art ihrer Behinderung, ihre sprachlichen Fähigkeiten, den Grad ihrer geistigen Behinderung und ihre SEO-Einordnung betrachtet. Im Durchschnitt konnten sich die 16 Studienteilnehmenden „eher gut“ (M: 6.65; SD: 2.21; Median: 6.5) in die Situation des Altseins hineinversetzen (Tab. 4). Den befragten Frauen gelang dies etwas besser als den Männern (M: 7.03 vs. 6.02), wobei ihre Werte eine größere Streubreite aufwiesen. Einen noch größeren Unterschied gab es zwischen den jüngeren (< 45 Jahre) und den älteren (≥ 45 Jahre) Teilnehmenden (M: 7.62 vs. 5.39). Proband/ innen mit einer ASS konnten sich im Durchschnitt weniger gut ins Altsein hineinversetzen als solche mit einer anderen Behinderungsart (M: 6.37 vs. 7.17). Die Teilnehmer/ innen, die sich „eher gut“ bis „sehr gut“ in die Situation des Altseins hineinversetzen konnten (≥ 6 Punkte), hatten im Vergleich zu denen, die dies „eher schlecht“ bis „sehr schlecht“ konnten (< 6 Punkte), im Durchschnitt deutlich bessere sprachliche Fähigkeiten (M: 1.20 vs. 2.17), einen etwas geringeren Grad einer geistigen Behinderung (M: 2.00 vs. 2.42) und eine leicht höhere SEO- Einstufung (M: 4.75 vs. 4.42). Andererseits konnten sich die Proband/ innen mit „sehr guten“ sprachlichen Fähigkeiten deutlich besser in die Situation des Altseins hineinversetzen als Personen mit „guten“ oder „mittleren“ sprachlichen Fähigkeiten (M: 8.00 vs. 4.91). Erstere hatten auch einen geringeren Behinderungsgrad (M: 1.67 vs. 2.64) und eine etwas höhere SEO-Einstufung (M: 4.78 vs. 4.43). Recht deutliche Unterschiede zeigten sich auch zwischen den Personen mit einer leichten bis sehr leichten geistigen Behinderung und denen mit einem mittleren Behinderungsgrad im VHN 2 | 2023 119 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG Variablen Angegeben sind jeweils: M (SD) Median Spannweite Sich in die Situation „Altsein“ hineinversetzen können (1 -10 Punkte) Sprachliche Fähigkeiten (1 = sehr gut, 2 = gut, 3 = mittel, 4 = schlecht, 5 = sehr schlecht) Grad der geistigen Behinderung (1 = sehr leicht, 2 = leicht, 3 = mittel, 4 = stark, 5 = sehr stark) SEO-Grad (SEO 4, 4 -5 [= 4,5] und 5) Sprachliche Fähigkeiten (1 = sehr gut, 2 = gut, 3 = mittel, 4 = schlecht, 5 = sehr schlecht) sehr gut (1; n = 9) 8.00 (1.67) 8.00 5.6 -10 1.67 (0.71) 2 1 -3 4.78 (0.36) 5 4 -5 gut bis mittel (2, 3; n = 7) 4.91 (1.49) 5.50 3 -7 2.64 (0.63) 3 1.5 -3 4.43 (0.45) 4.5 4 -5 Grad der geistigen Behinderung (1 = sehr leicht, 2 = leicht, 3 = mittel, 4 = stark, 5 = sehr stark) leicht bis sehr leicht (1, 1,5 2; n = 10) 7.40 (2.10) 7.25 3.5 -10 1.30 (0.64) 1 1 -3 4.65 (0.45) 5 4 -5 mittel (3; n = 6) 5.39 (1.53) 5.8 3 -7 2.00 (0.58) 2 1 -3 4.50 (0.41) 4.5 4 -5 SEO-Grad (SEO 4, SEO 4 -5, SEO 5) SEO 5 (n = 8) 7.26 (2.44) 7.25 3 -10 1.38 (0.74) 1 1 -3 2.00 (0.76) 2 1 -3 SEO 4 und SEO 4 -5 (n = 8) 6.03 (1.91) 6.05 3.5 -9.4 1.75 (0.71) 2 1 -3 2.31 (0.80) 2.5 1 -3 Sich in die Situation „Altsein“ hineinversetzen können (1 -10 Punkte) ≥ 6 P. (n = 10) 1.20 (0.42) 1.00 1 -2 2.00 (0.82) 2.00 1 -3 4.75 (0.35) 5 4 -5 < 6 P. (n = 6) 2.17 (0.75) 2.00 1 -3 2.42 (0.66) 2.50 1.5 -3 4.42 (0.49) 4.25 4 -5 GESCHLECHT ALTERSGRUPPE ART DER BEHINDERUNG Weiblich (n = 10) Männlich (n = 6) < 45 Jahre (n = 9) ≥ 45 Jahre (n = 7) Trisomie 21 (n = 2) ASS (n = 5) Andere gB (n = 9) Sich in die Situation „Altsein“ hineinversetzen können (1 -10 Punkte) GESAMT (n = 16) M (SD) Median Spannweite 6.65 (2.21) 6.5 3.5-10 7.03 (2.45) 6.5 3.5 -10 6.02 (1.76) 6.3 3 -8 7.62 (1.73) 7.00 5.5 -10 5.39 (2.22) 5.60 3 -9.4 5.00 (2.83) 5.00 3 -7 6.37 (2.33) 5.60 3.75 -10 7.17 (2.10) 6.50 3.5 -10 Tab. 4 Beschreibung der EFT-Fähigkeiten der Proband/ innen, unterschieden nach Alter, Geschlecht, Art und Grad der geistigen Behinderung, sprachlichen Fähigkeiten und Grad der sozio-emotionalen Entwicklung (SEO-Grad) (n = 16) Anmerkungen: EFT: Episodic Future Thinking, ASS: Autismus-Spektrum-Störung, gB: geistige Behinderung; weitere Abkürzungen s. Tab. 1 VHN 2 | 2023 120 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG Items Sich an die Kindheit erinnern können (1 = sehr gut, 2 = eher gut, 3 = eher schlecht, 4 = sehr schlecht) GESAMT (n = 16) 2.13 (1.15) 2.00 1 -4 Geschlecht weiblich (n = 10) 2.3 (1.27) 2 1 -4 männlich (n = 6) 1.83 (0.75) 2 1 -3 Altersgruppen < 45 J. (n = 9; 4 w, 5 m) 1.67 (1.00) 1 1 -4 ≥ 45 J. (n = 7; 6 w, 1 m) 2.71 (1.03) 3 1 -4 Wohnformen Stationäre Einrichtung + Außenwohngruppe einer stationären Einrichtung (n = 12) 2.42 (1.00) 2 1 -4 Inklusive Wohngruppe + ambulant betreutes Einzelwohnen (n = 4) 1.00 (0.00) 11 Art der Behinderung Trisomie 21 (n = 2) 2.00 (1.41) 2 1 -3 Autismus-Spektrum-Störung (n = 5) 1.6 (0.55) 2 1 -2 Andere Form der geistigen Behinderung (n = 9) 2.44 (± 1.33) 2 1 -4 Sprachliche Fähigkeiten (1 = sehr gut, 2 = gut, 3 = mittel, 4 = schlecht, 5 = sehr schlecht) sehr gut (1; n = 9) 1.79 (1.09) 1 1 -4 gut bis mittel (2, 3; n = 7) 2.57 (1.13) 2 1 -4 Grad der geistigen Behinderung (1 = sehr leicht, 2 = leicht, 3 = mittel, 4 = stark, 5 = sehr stark) leicht bis sehr leicht (1, 1.5, 2; n = 10) 2.00 (1.18) 2 1 -4 mittel (3; n = 6) 2.17 (1.17) 2 1 -4 SEO-Grad (SEO 4, SEO 4 bis 5 [4,5] und SEO 5) SEO 5 (n = 8) 1.75 (0.89) 1.5 1 -3 SEO 4 und SEO 4 -5 (n = 8) 2.50 (1.31) 2 1 -4 Sich in die Situation „Altsein“ hineinversetzen können (1 -10 Punkte) ≥ 6 P. (n = 10) 1.80 (1.03) 1.5 1 -4 < 6 P. (n = 6) 2.67 (1.21) 2.5 1 -4 Angegeben sind jeweils: M (SD) Median Spannweite Tab. 5 Beschreibung der Erinnerungsfähigkeit der Proband/ innen, unterschieden nach Alter, Geschlecht, Art und Grad der geistigen Behinderung, sprachlichen Fähigkeiten, SEO-Grad und EFT-Fähigkeit (n = 16) VHN 2 | 2023 121 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG Hinblick auf ihre Fähigkeit, sich in das eigene Altsein hineinzuversetzen (M: 7.40 vs. 5.39), und ihre sprachlichen/ narrativen Fähigkeiten (M: 1.30 vs. 2.00). Bezüglich der SEO-Einstufung war der Unterschied zwischen beiden Gruppen jedoch nur minimal (M: 4.65 vs. 4.50). Auch zwischen den SEO 5-Proband/ innen einerseits und denen mit einem SEO-Grad 4 bzw. 4 bis 5 andererseits zeigten sich leichte Unterschiede. SEO 5-Proband/ innen konnten sich im Durchschnitt besser in die Situation des Altseins hineinversetzen (M: 7.26 vs. 6.03), hatten im Durchschnitt etwas bessere sprachliche Fähigkeiten (M: 1.38 vs. 1.75) und eine leichtere Form der geistigen Behinderung (M: 2.00 vs. 2.31). An die eigene Kindheit konnten sich die Teilnehmenden im Durchschnitt „eher gut“ erinnern (M: 2.13 von 4; s. Tab 4). Frauen schnitten hierbei etwas schlechter ab als Männer (M: 2.3 vs. 1.83). Jüngere Proband/ innen (< 45 Jahre) erinnerten sich im Durchschnitt deutlich besser als ältere (≥ 45 Jahre; M: 1.67 vs. 2.71). Alle vier Proband/ innen, die in inklusiven Wohngemeinschaften lebten bzw. ambulant betreut in einer Einzelwohnung, erinnerten sich „sehr gut“ an ihre Kindheit, während die Erinnerungsfähigkeit der in stationären Einrichtungen oder Außenwohngruppen lebenden Personen deutlich eingeschränkter war (M: 2.42). Teilnehmende mit „sehr guten“ sprachlichen Fähigkeiten erinnerten sich im Durchschnitt deutlich besser als solche mit „guten“ bzw. „mittleren“ sprachlichen Fähigkeiten (M: 1.79 vs. 2.57), ebenso diejenigen mit einer SEO 5-Einschätzung im Vergleich zu denen mit einem SEO 4bzw. SEO-4 bis 5-Grad (M: 1.75 vs. 2.50), während der Grad der geistigen Behinderung kaum Einfluss auf die Erinnerungsfähigkeit der Proband/ -innen hatte (M: 2.00 vs. 2.17). Proband/ innen mit guter oder sehr guter Fähigkeit, sich in das eigene Alter hineinzuversetzen (≥ 6 P.), konnten sich im Durchschnitt besser an ihre Kindheit erinnern als solche mit einer schlechten bis sehr schlechten Fähigkeit (M: 1.80 vs. 2.67) und umgekehrt (M: 7.39 P. vs. 5.02 P.). 4 Diskussion Das zentrale Ziel der vorliegenden explorativen Studie war es, erste Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob die bei Menschen mit geistiger Behinderung vorliegenden Beeinträchtigungen Einfluss auf ihre Fähigkeit des Hineinversetzens in das eigene Altsein haben könnten und wenn ja, welche Faktoren hierbei möglicherweise eine Rolle spielen könnten. Unsere Studienergebnisse zeigten, dass sich die von uns befragten Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung, sehr guten sprachlichen/ narrativen Fähigkeiten und einem SEO-Grad 5 besser in die Situation hineinversetzen konnten, alt zu sein, als Personen mit stärkeren Einschränkungen. So zeigte sich im Rahmen der qualitativen Auswertung der Daten, dass Proband/ innen mit stärkeren Einschränkungen etwa bei der Einschätzung des eigenen Alters und des Alters anderer Personen (jung oder alt? ) Probleme hatten, während dies Personen mit geringeren Einschränkungen in der Regel recht gut gelang. Auch konnten sich Proband/ innen mit leichteren intellektuellen bzw. sozio-emotionalen Einschränkungen deutlich besser in die Situation hineinversetzen, im Alter mit einer Seh-, Hör-, Geh- oder kognitiven Behinderung zu leben, als Personen mit stärkeren Einschränkungen (Habermann-Horstmeier & Breinlinger, 2022). Wir gehen davon aus, dass bei einer möglichen Wiederholung der Interviews mit diesem Sample bzw. bei der Durchführung entsprechender Interviews mit einem ähnlich zusammengesetzten Sample ähnliche Ergebnisse erzielt werden können. Für eine Generalisierung der Forschungsergebnisse braucht es jedoch noch weitere umfangreiche Studien mit einem repräsentativen Sample. Bei der Suche nach möglichen Einflussfaktoren auf die Entwicklung des episodischen Zukunftsdenkens haben frühere Studien eine Verbindung mit der Entwicklung des episodischen Gedächtnisses hergestellt (Prabhakar et al., 2016). Nach Atance (2015) werden Details aus vergangenen VHN 2 | 2023 122 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG Ereignissen flexibel neu kombiniert, um zukünftige Episoden zu simulieren. Da zukünftige Ereignisse nach Coughlin et al. (2014) für Personen im mittleren Kindesalter schwerer vorstellbar sind als vergangene und häufiger in der Dritten-Person-Perspektive betrachtet werden, scheint es hierbei jedoch noch zusätzlicher Fähigkeiten zu bedürfen, als alleine die Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren (Suddendorf & Redshaw, 2013). Neben der Gedächtnisleistung (Suddendorf et al., 2011) spielt hier wohl auch das kurzzeitige phonologische und verbale Arbeitsgedächtnis eine wichtige Rolle (Ferretti et al., 2018). In unserer Studie lag die Erinnerungsfähigkeit einer Frau mit einem durch das Prader-Willi-Syndrom eingeschränkten Arbeitsgedächtnis (Veltzé Bollerslev, 2006) deutlich unter dem Durchschnitt ihrer Altersgruppe, während ihre Fähigkeit des Hineinversetzens in das eigene Altsein mit 6.5 Punkten durchschnittlich war. Eine Erklärung hierfür könnten ihre sehr guten Sprachkenntnisse liefern, die ihr möglicherweise trotz des begrenzten episodischen Gedächtnisses ein gewisses Nachdenken über ihre eigene Zukunft ermöglichten. Grundsätzlich zeigen unsere Studienergebnisse einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit des Hineinversetzens in das eigene Altsein und der Fähigkeit, sich an die eigene Kindheit zu erinnern. Personen mit guten/ sehr guten Fähigkeiten, sich in das eigene Altsein hineinzuversetzen, konnten im Durchschnitt häufiger spontan oder auf Nachfrage einige/ mehrere wichtige Ereignisse und Meilensteine aus der Kindheit erzählen. Auch hier kam es vor, dass diejenigen Personen, die beides nicht so gut beherrschten, häufiger in der Dritten-Person-Perspektive sprachen. Nach Atance (2015) spielt Sprache in Form von sprachlichen/ narrativen Fähigkeiten eine grundlegende und vielleicht sogar notwendige Rolle bei der Entstehung des episodischen Zukunftdenkens. Auch unsere Studienergebnisse weisen deutlich darauf hin, dass die sprachlichen Fähigkeiten zu den Faktoren gehören könnten, die Einfluss auf die Entwicklung der Fähigkeit bei Menschen mit geistiger Behinderung haben könnten, sich in das eigene Altsein hineinzuversetzen. Proband/ innen mit sehr guten sprachlichen Fähigkeiten konnten sich im Durchschnitt deutlich besser in die Situation des Altseins hineinversetzen als Teilnehmende mit guten bis mittleren sprachlichen Fähigkeiten, und auch umgekehrt hatten Proband/ innen, die sich gut oder sehr gut in die Situation des Altseins hineinversetzen konnten (≥ 6 P.), im Durchschnitt deutlich bessere sprachliche Fähigkeiten. Dieser mögliche Zusammenhang war beim episodischen Zukunftsdenken noch stärker ausgeprägt als beim Erinnern an die Kindheit. Ein weiterer, hiermit möglicherweise zusammenhängender Faktor ist das Geschlecht. Seit Langem ist bekannt, dass die Sprachentwicklung durch das Geschlecht beeinflusst wird, wobei Mädchen im Durchschnitt eine schnellere Sprachentwicklung zeigen als Jungen (Jenni, 2020). Dies könnte ein Grund dafür sein, dass die weiblichen Probandinnen im Durchschnitt etwas bessere sprachliche Fähigkeiten aufwiesen als die Männer, obwohl sie durchschnittlich älter waren als diese, ältere Teilnehmende aber schlechtere sprachliche Fähigkeiten hatten. Die interviewten Frauen und Männer unterschieden sich im Durchschnitt nicht im SEO-Grad. Der Grad der geistigen Behinderung wurde von den Betreuenden bei den Frauen im Vergleich zu den Männern als etwas leichter eingeschätzt, allerdings könnten bei dieser subjektiven Einschätzung die besseren sprachlichen Fähigkeiten ebenfalls eine Rolle gespielt haben. In den letzten Jahren haben sich erste Publikationen auch damit beschäftigt, inwiefern sich neurologische Beeinträchtigungen auf das episodische Gedächtnis und das episodische Zukunftsdenken auswirken (Bulley & Irish, 2018). So wurde z. B. gezeigt, dass sich Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) durch VHN 2 | 2023 123 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG ein vermindertes episodisches Gedächtnis auszeichnen. Nach Lind und Bowler (2010) sowie Lind et al. (2014) ist es noch unklar, ob auch ihr episodisches Zukunftsdenken beeinträchtigt ist, während Wojcik et al. (2020) davon ausgehen, dass dies der Fall ist. Bei den von uns interviewten Personen mit einer ASS war die Fähigkeit, sich in das eigene Altsein hineinzuversetzen, im Durchschnitt etwas weniger gut ausgeprägt als bei den Proband/ innen mit einer anderen, nicht spezifizierten Art der geistigen Behinderung, während die Fähigkeit, sich an die Kindheit zu erinnern, bei den ASS-Personen deutlich besser war. Ein Grund für Letzteres könnte sein, dass die ASS-Proband/ innen im Durchschnitt deutlich jünger waren, ihre Kindheit also noch nicht lange zurücklag. Zudem zeigten zwei Teilnehmende mit einer nicht spezifizierten geistigen Behinderung während des Interviews deutliche Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen. Bulley und Irish (2018) gehen davon aus, dass neben neurokognitiven Störungen auch das Alter selbst Einfluss auf das episodische Gedächtnis und das episodische Zukunftsdenken hat. Sie berichten, dass ältere Menschen im Vergleich zu jungen deutlich weniger episodische Details nennen, was jedoch durch einen höheren semantischen Detailreichtum ausgeglichen werde. Im Alter stünden die Gesamtbedeutung und der Kontext im Vordergrund, weniger die Spezifität und das Detail. Zudem datierten Ältere imaginierte zukünftige Ereignisse und zukünftige Selbstbilder viel näher an der Gegenwart als Jüngere. Nach Lyons et al. (2014) gehören die Einschränkungen des episodischen Gedächtnisses zu den auffälligsten kognitiven Defiziten im späten Erwachsenenalter. Sie berichten, dass auch die Fähigkeit, episodisches Zukunftsdenken funktional adaptiv anzuwenden, im späten Erwachsenenalter beeinträchtigt ist. In unserer Untersuchung zeigten sich hinsichtlich der Erinnerungsfähigkeit der Proband/ innen deutliche Unterschiede zwischen jüngeren (< 45 Jahre) und älteren Personen (≥ 45 Jahre). Jüngere konnten sich im Durchschnitt deutlich besser an ihre Kindheit erinnern, aber auch besser in die Situation des Altseins hineinversetzen als Ältere. Mögliche Gründe hierfür könnten die durchschnittlich besseren sprachlichen Fähigkeiten und der etwas geringere Grad der geistigen Behinderung bei den Jüngeren sein, aber auch der Faktor, dass alle drei Personen mit zusätzlichen Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen in der Gruppe der Älteren zu finden waren. Die deutlichen Unterschiede hinsichtlich des episodischen Gedächtnisses und der Fähigkeit des Hineinversetzens in das eigene Altsein zwischen den Proband/ innen aus stationären Einrichtungen und deren Außenwohngruppen einerseits und solchen aus inklusiven Wohngemeinschaften und dem ambulant betreuten Einzelwohnen andererseits könnten ebenfalls mit dem geringeren Grad der geistigen Behinderung, den besseren sprachlichen Fähigkeiten und dem höheren SEO-Grad in der letzteren Gruppe zusammenhängen. Inwiefern sich die Qualität des episodischen Gedächtnisses und die Fähigkeit zum episodischen Zukunftsdenken bei Menschen ohne Behinderung auch auf deren Entscheidungsfindung im Rahmen von gesundheitsbezogenen Verhaltensentscheidungen auswirken, lässt sich bislang noch nicht eindeutig sagen (Naudé et al., 2021; Segovia, Palma & Nayga Jr., 2020). Unsere Studienergebnisse legen nahe, dass die Fähigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung, sich in eine zukünftige Situation hineinzuversetzen (z. B. alt zu sein oder übergewichtig und krank zu sein), durchaus Einfluss auf ihre Möglichkeiten zur Partizipation im Rahmen verhaltenspräventiver Maßnahmen oder inklusiver Forschungs- und Public-Health-Projekte haben könnte. Auf der Basis der Ergebnisse dieser explorativen Studie stellen wir somit die folgenden Thesen zur Diskussion: VHN 2 | 2023 124 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG (1) Menschen mit geistiger Behinderung sind erst ab einem SEO-Grad von 4 bis 5 in Ansätzen in der Lage, sich in eine fernere Zukunft (z. B. das eigene Altsein) hineinzuversetzen. (2) Diese Fähigkeit ist insbesondere von den sprachlichen/ narrativen Fähigkeiten der Person mit geistiger Behinderung abhängig. (3) Weitere Faktoren, die sich möglicherweise auf ihre Fähigkeit, sich in eine ferne Zukunft hineinzuversetzen, auswirken können, sind das Geschlecht, der Grad und die Art der geistigen Behinderung sowie das Vorhandensein zusätzlicher neurokognitiver Störungen. (4) Eine eingeschränkte Fähigkeit zum episodischen Zukunftsdenken kann Einfluss auf die Möglichkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung haben, im Rahmen verhaltenspräventiver Maßnahmen oder inklusiver Forschungs- und Public-Health- Projekte mitzuwirken. Diese Thesen sollen die Basis für zukünftige qualitative und quantitative Studien bilden, mit dem Ziel, das Wissen über die Fähigkeit zum episodischen Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung weiter auszubauen. Wünschenswert wären v. a. größere, möglichst repräsentative Studien, die unter Anwendung quantitativer statistischer Methoden und etablierter Tests (z. B. zur Feststellung des Grads der geistigen Behinderung) belastbare Ergebnisse bringen könnten. Auf der Basis dieser grundlegenden Erkenntnisse könnten dann später auch gesundheitsfördernde Maßnahmen (einschl. sonderpädagogischer Maßnahmen zur Förderung des episodischen Zukunftsdenkens) erarbeitet werden. 5 Limitationen der Studie Zu den grundlegenden Limitationen dieser ersten explorativen Studie gehört die relativ kleine Anzahl an Proband/ innen (n = 16). Gründe hierfür waren die geringen für die Studie zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie die Covid-19-Pandemie, durch die die Möglichkeiten des Kontakts zu den Proband/ innen eingeschränkt waren. Aufgrund von Krankheits- und Quarantäne-Fällen bei den angefragten Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Betreuungskräften war es nicht einfach, die Unterstützung der Betreuungskräfte zu gewinnen und Personen für ein Interview zu akquirieren. Da für die Durchführung mündlicher Interviews eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit vorliegen muss, kamen als Proband/ innen nur Menschen mit einer leichteren geistigen Behinderung und entsprechenden kommunikativen Fähigkeiten infrage. Nicht eingeschlossen werden konnten Menschen mit schwerer geistiger Behinderung und/ oder einem SEO-Grad < 4. Die Gewinnung der Proband/ innen war nur über Einrichtungen möglich, in denen Menschen mit Behinderung leben bzw. durch die sie ambulant betreut werden. Wie in anderen Studien (Buchner, 2008) trafen auch hier Betreuungskräfte als ‚Gatekeeper‘ die Vor-Auswahl und sprachen die aus ihrer Sicht passenden Personen an. Die Anwesenheit einer Betreuungskraft während des Interviews kann theoretisch zu sozial erwünschten Antworten führen. Auch können Betreuungskräfte bei Verständnisproblemen verschiedene Antwortmöglichkeiten direkt vorgeben. Nach der Analyse der Interviews lässt sich beides hier jedoch weitgehend ausschließen. Eine weitere Limitation könnte in der verwendeten Technik liegen. Die ursprünglich vorgesehene Video-Telefonie hätte einen intensiveren Kontakt mit den Teilnehmenden über die Sinneskanäle Hören und Sehen ermöglicht. Dies war jedoch aufgrund der technischen Ausstattung der Einrichtungen größtenteils nicht möglich. Der Grad der geistigen Behinderung der Teilnehmenden und der Grad ihrer sprachlichen Fähigkeiten wurde von ihren Betreuungskräften subjektiv eingeschätzt, da hierzu bei den meisten Menschen mit geistiger Behinderung keine Werte vorliegen, die über objektive Messverfahren erhoben wurden. Ähnliches gilt für den sozio-emotionalen Ent- VHN 2 | 2023 125 LOTTE HABERMANN-HORSTMEIER, LUKAS M. HORSTMEIER, LARISSA BREINLINGER Episodisches Zukunftsdenken bei Menschen mit geistiger Behinderung FACH B E ITR AG wicklungsgrad. So ist z. B. in Deutschland nur bei wenigen Menschen mit geistiger Behinderung die SEO-Einstufung oder der Intelligenzquotient (IQ) bekannt. Eine entsprechende umfangreiche Testung war in den vorliegenden Fällen v. a. aufgrund der zeitlich stark eingeschränkten Möglichkeiten der Betreuenden, die Testdurchführung zu unterstützen, nicht möglich. Dank Die Autor/ innen bedanken sich herzlich bei allen Studienteilnehmer/ innen und ihren Betreuungskräften, dass sie ihre Zeit für die Studie zur Verfügung gestellt haben. Anmerkung 1 Kriterien für die Zuordnung zu den einzelnen Skalenpunkten: 1 P.: Schildert spontan mehrere wichtige Ereignisse und Meilensteine aus der Kindheit; 2 P.: Schildert einzelne/ wenige Ereignisse und Meilensteine aus der Kindheit oder schildert Ereignisse/ Meilensteine nur auf Nachfrage; 3 P.: Bestätigt wichtige Meilensteine aus der Kindheit nur auf Nachfrage mit Ja oder Nein; 4 P.: Ist unfähig, sich in die eigene Kindheit zurückzuversetzen (redet z. B. allgemein über Kinder oder über die aktuelle Situation). Literatur Atance, C. M. (2008). Future thinking in young children. 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