eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 92/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Aktuelle Forschungsprojekte: Beiträge von erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigungen für ihr soziales (Begleit-)Umfeld in anthroposophischen Institutionen in der Schweiz

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Stefanie Schälin
Aufgrund eines defizitären Menschenbildes machen Menschen mit Beeinträchtigungen bis heute oftmals die Erfahrung, diskriminiert und ausgegrenzt zu werden. Aus diesem Grund sind die Sichtbarmachung und Anerkennung der Beiträge von Menschen mit Beeinträchtigungen für das gesellschaftliche Zusammenleben von zentraler Relevanz. Dies ist auch in Artikel 8 der UN-BRK festgehalten. Darin werden die Vertragsstaaten verpflichtet, das Bewusstsein für den Beitrag von Menschen mit Beeinträchtigungen zu fördern.
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VHN 3 | 2023 244 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Beiträge von erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigungen für ihr soziales (Begleit-)Umfeld in anthroposophischen Institutionen in der Schweiz Stefanie Schälin Hochschule Luzern Aufgrund eines defizitären Menschenbildes machen Menschen mit Beeinträchtigungen bis heute oftmals die Erfahrung, diskriminiert und ausgegrenzt zu werden. Aus diesem Grund sind die Sichtbarmachung und Anerkennung der Beiträge von Menschen mit Beeinträchtigungen für das gesellschaftliche Zusammenleben von zentraler Relevanz. Dies ist auch in Artikel 8 der UN-BRK festgehalten. Darin werden die Vertragsstaaten verpflichtet, das Bewusstsein für den Beitrag von Menschen mit Beeinträchtigungen zu fördern. Fragestellung Der Fokus dieses Forschungsprojektes ist es erstens, nach dem wesentlichen Beitrag von erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigung für ihr soziales Umfeld zu fragen und diesen qualitativ sichtbar zu machen. Ebenso steht die Wirkung im Sinne der Wirksamkeitserfahrung des Umfelds im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Beiträge und die Wirkung von Menschen mit Beeinträchtigungen bedeutsam sind und neue Perspektiven sowie Impulse bei der Bewältigung von gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen des Zusammenlebens eröffnen können. Die aufgeworfenen Fragen werden aus der Perspektive und Selbstwahrnehmung von Menschen mit Beeinträchtigungen sowie anhand von Aussagen des professionellen Begleitumfeldes von anthroposophischen Institutionen geklärt: Inwiefern erleben, verstehen oder intendieren Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Beiträge und ihre Wirksamkeit? Welche Rollen wollen Menschen mit Beeinträchtigungen in einer immer schneller werdenden Gesellschaft einnehmen? In welches Verhältnis können die Lebens- und Arbeitsweisen von Menschen mit Beeinträchtigungen zu (neoliberalen) Leistungsgesellschaften gesetzt werden? Inwiefern kann davon ausgegangen werden, dass Menschen mit Beeinträchtigungen ihrem Umfeld helfen, achtsamer und sinnorientierter zu werden oder allgemein als gelebter Gegenentwurf bestimmten Tendenzen der sogenannten Ökonomisierung des Sozialen entgegenzuwirken? Zudem stellt sich zweitens die Frage, in welchem Zusammenhang dieser Prozess mit dem beruflichen Selbstverständnis und Menschenbild der anthroposophisch begründeten Heil- und Sozialpädagogik (auch Sozialtherapie genannt) steht. Dies wird deshalb genauer untersucht, weil anthroposophisch orientierte Ansätze auf einem Selbstverständnis gründen, welches die gleichberechtigte Begegnung auf Augenhöhe, die dialogische Beziehungsgestaltung, den gegenseitigen Entwicklungsimpuls sowie die Vermittlungsrolle bei der Sichtbarmachung der Beiträge von Menschen mit Beeinträchtigungen als Teil ihres professionellen Handelns ins Zentrum stellen: Inwiefern lässt sich dieses explizit ausgesprochene und wertorientierte Selbstverständnis handlungsleitend für die Begleitaufgabe in anthroposophischen Institutionen wiederfinden? Auf welche Weise werden die Intentionen und Impulse für die Beiträge von Menschen mit Beeinträchtigungen erkannt, unterstützt und begleitend vermittelt? In welchem Verhältnis stehen berufliche Rahmenbedingungen im Spannungsfeld zum Berufs- und Selbstverständnis und wie wird mit diesen möglicherweise vorhandenen Ambivalenzen umgegangen? Methodisches Vorgehen Die Forschungsfragen werden auf der Grundlage von qualitativen Daten beantwortet, welche in der deutschsprachigen Schweiz erhoben werden. Anhand teilstrukturierter und leitfadengestützter Interviews werden einerseits die Mitglieder des Selbstvertreter/ innen-Beirats für Menschen mit Beeinträchtigungen von Anthrosocial (Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialpädagogik und Sozialpsychiatrie Schweiz) befragt. Andererseits sind die Gesichtspunkte des begleitenden Umfeldes von zentralem Interesse. Deshalb werden um die 16 Interviews mit Mitarbeitenden von anthroposophisch orientierten Institutionen geführt, welche nach dem theoretischen Sampling ausgewählt werden. Zielsetzung der rekonstruktiv angelegten Forschung ist die Herausarbeitung von Relevanzsystemen, VHN 3 | 2023 245 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE wobei insbesondere auf Sichtweisen, Deutungsmuster und Sinnkonstruktionen der Interviewten eingegangen wird. Ziele Ziel der Untersuchung ist es, den Beitrag von erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigungen für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft ein Stück weit aufzuzeigen sowie diese Vielfalt als Bereicherung und als möglichen Impuls für gesellschaftlichen Wandel darzustellen. Die gewonnenen Erkenntnisse über die Beiträge und die Wirkung von Menschen mit Beeinträchtigungen sollen dazu beitragen, die gleichberechtigte Anerkennung zu erhöhen und damit Vorurteilen, Fehlvorstellungen sowie damit einhergehenden Benachteiligungen entgegenzuwirken. Die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Beeinträchtigungen durch den Abbau von diskriminierenden Strukturen und sozialer Ungleichheit findet sich auch als ein zentrales Anliegen der UN-BRK wieder. Die darin beschriebene Überwindung von einstellungsbedingten Barrieren und die Bewusstseinsbildung für die Fähigkeit und den Beitrag von Menschen mit Beeinträchtigungen bildet ebenfalls ein zentrales Interesse des Forschungsprojektes. Außerdem stellt die Studie eine Bestandsaufnahme des beruflichen Selbstverständnisses und der Praxisarbeit des professionellen Begleitumfeldes in anthroposophischen Zusammenhängen dar. Kontext Das Forschungsprojekt findet unter der Trägerschaft des Anthroposophic Council for Inclusive Social Development und Anthrosocial (ehemals Verband für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie vahs) in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum Lebensqualität und Behinderung der Hochschule Luzern (HSLU) statt. Das Projekt wird von Juli 2022 bis Juni 2024 durchgeführt. Weitere Informationen sind auf https: / / www.hslu.ch/ de-ch/ hochschule-luzern/ forschung/ projekte/ detail/ ? pid=6204 zu finden. Kontakt für interessierte Lesende: Stefanie Schälin, s.schaelin@inclusivesocial.org DOI 10.2378/ vhn2023.art29d InDiVers - Inklusive Diagnostik in Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs? Zwischen angemessener Förderung und institutioneller Diskriminierung Julia Gasterstädt 1 , Katja Adl-Amini 2 , Florian Cristobal Klenk 2 , Anna-Lisa Kistner 1 , Julia Kadel 2 1 Universität Kassel 2 Technische Universität Darmstadt Das Projekt „InDiVers“ wird im Rahmen der Förderrichtlinie „Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung“ vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert (FKZ: 01NV2101A-B) und wird als Verbundprojekt an der TU Darmstadt und der Universität Kassel durchgeführt. Es hat eine Laufzeit von Mai 2021 bis Oktober 2024. Problemaufriss Mit der Forderung nach diskriminierungsfreier wie auch gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen an einem inklusiven Bildungssystem geht die Notwendigkeit einher, individuell angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Bedürfnisse der Einzelnen zu berücksichtigen sowie den Zugang zu Bildungseinrichtungen zu sichern (Art. 24 UN-BRK). Dazu müssen einerseits entsprechende Bedürfnisse festgestellt werden, ohne andererseits potenziell diskriminierende Zuschreibungen vorzunehmen. Die pädagogische Praxis bewegt sich somit in einem Spannungsfeld zwischen einer individuumsbezogenen Beschreibung notwendiger Hilfen und schulischer Unterstützungsangebote sowie der Gefahr von Stigmatisierung und Diskriminierung. Diskutiert wird dieses Spannungsverhältnis u. a. in der Debatte um De Kategorisierung (z. B. Katzenbach, 2015; Walgenbach, 2018) sowie um Ent/ Dramatisierung von Differenz (Budde & Hummrich, 2013; Messerschmidt, 2015). Auf Ebene der Institution und Organisation Schule schließt daran insbesondere die Frage nach der Ausgestaltung einer förderorientierten, prozess- und systembezogenen Diagnostik sowie nach den strukturellen Bedingungen an, die eine inklusive Diagnostik (z. B. Prengel, 2016; Simon & Simon, 2014) bis dato erschweren bzw. in Zukunft ermöglichen könnten.