Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Nachruf: Zum Hinschied von Otto Speck
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Urs Haeberlin
Mit dem Hinschied von Otto Speck haben wir den letzten Vertreter jener Professoren verloren, welchen wir den Wiederaufbau der zur nationalsozialistischen Unheilpädagogik pervertierten deutschen Sonderpädagogik verdanken. Zusammen mit den schon verstorbenen Professoren Heinz Bach, Ulrich Bleidick und Gustav Kanter hat er die Sonderpädagogik zu den Grundsätzen einer Ethik der Achtung ausnahmslos aller Menschen zurückgeführt. Endlich war die Ideologie des „Nicht-Wertes“ von Menschen mit Behinderungen und mit anderen stigmatisierenden Zuschreibungen überwunden. Parteinahme für die in Schule und Gesellschaft benachteiligten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen prägt seither die Sonderpädagogik.
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257 NACH RU F Mit dem Hinschied von Otto Speck haben wir den letzten Vertreter jener Professoren verloren, welchen wir den Wiederaufbau der zur nationalsozialistischen Unheilpädagogik pervertierten deutschen Sonderpädagogik verdanken. Zusammen mit den schon verstorbenen Professoren Heinz Bach, Ulrich Bleidick und Gustav Kanter hat er die Sonderpädagogik zu den Grundsätzen einer Ethik der Achtung ausnahmslos aller Menschen zurückgeführt. Endlich war die Ideologie des „Nicht-Wertes“ von Menschen mit Behinderungen und mit anderen stigmatisierenden Zuschreibungen überwunden. Parteinahme für die in Schule und Gesellschaft benachteiligten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen prägt seither die Sonderpädagogik. Darauf gründete Otto Specks Verbundenheit mit der im gleichen Sinne parteinehmenden VHN, die ich während mehr als 30 Jahren betreut habe. Folgerichtig empfahl er „seinem“ Verlag (Reinhardt, München), sich um Aufnahme der VHN ins Verlagsprogramm zu bemühen. Seine Empfehlung trug Früchte. Seit 2004 ist das Heilpädagogische Institut der Uni Fribourg vom nicht mehr zeitgemäßen Betreiben eines Zeitschriftenverlags entlastet. Die VHN ist dem Anspruch auf hohe wissenschaftliche Standards und auf Wertgebundenheit treu geblieben. Mit Otto Specks Verständnis von Heilpädagogik teilt sie weiterhin die Verpflichtung zur „Verantwortung für heil- und sonderpädagogische Grundwerte und ihre Verankerung in der Tradition einer ethisch fundierten wissenschaftlichen und praktischen Pädagogik für immer wieder von neuem bedrohte Menschen mit Benachteiligungen. Selbstbestimmtes Leben in umfassender sozialer Teilhabe betrachten wir als oberstes Leitziel“ (Editorial in VHN 3/ 2004, S. 253). Nach Erhalt der Trauerkarte zu Otto Specks Hinschied versuchte ich mich an unsere frühesten Kontakte zu erinnern. Es war anfangs der 1970er-Jahre anlässlich meiner Bewerbung auf eine Professur an der PH München kurz vor deren Integration in die Universität. Specks kritisch reflektierende Fragen waren beeindruckend. Er schien wie ich auch das Dilemma zwischen wissenschaftlich-objektivem Forschen und an Werte gebundenem Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu spüren. Vermutlich ist es der wertorientierten Verbundenheit zu verdanken, dass ich auf die erste Stelle der Berufungsliste gesetzt wurde. Allerdings war der Berufungskommission nicht präsent, dass es sich um einen „Konkordatslehrstuhl“ handelte, d. h. um einen Lehrstuhl, bei dessen Besetzung die Katholische Kirche ein Einspruchsrecht hatte. Als Angehöriger der zwinglianischreformierten Kirche war ich natürlich kaum Zum Hinschied von Otto Speck Versuch einer Würdigung Bild: privat VHN 4 | 2023 258 URS HAEBERLIN Zum Hinschied von Otto Speck -Versuch einer Würdigung NACH RU F berufbar. Specks spürbar positive Haltung mir gegenüber änderte sich dadurch nicht. Sehr viel später hat er mir verraten, dass er seit seinen Erlebnissen während des Krieges ein gebrochenes Verhältnis zur Kirche habe. In einem seiner Alterswerke hat er seine Überwindung des kirchengebundenen Gottesbildes offengelegt und sich „zu einem befreienden Gottesbild und damit zu einer weniger kirchengebundenen Religiosität“ bekannt (vgl. meine Rezension des Buches „Spirituelles Bewusstsein“ in VHN 4/ 2015, S. 352 - 356). Damit teilt er die auf den Heilpädagogik-Pionier Heinrich Hanselmann zurückgehende Denkweise über Religiosität, welche kirchlich verwaltetem Gottesglauben kritisch gegenübersteht (vgl. meine Gratulation zum 90. Geburtstag in VHN 2/ 2016, S. 161). In seinen zahlreichen Fachbüchern erkennt man Speck durchgehend als Vertreter einer wertgeleiteten Wissenschaft. Das bis heute verwendete Lehrbuch zur Erziehung von Menschen mit Geistiger Behinderung ist in erster Auflage 1970 erschienen. Seither ist es (jeweils überarbeitet und mit einem dem jeweiligen Zeitgeist leicht angepassten Titel) bereits in der 13. Auflage auf dem Buchmarkt. 1979 behandelte Speck in einem weiteren Fachbuch das Thema „Grundlagen der Verhaltensgestörtenpädagogik“. Sehr viel verdanken wir ihm bezüglich der heilpädagogischen Frühförderung. 1982 initiierte er die Zeitschrift „Frühförderung interdisziplinär“, bis heute eine führende deutschsprachige Zeitschrift zu diesem Themenbereich und Organ der 1983 ebenfalls von Speck initiierten „Vereinigung für Interdisziplinäre Forschung e.V.“. Typisch für die Entwicklung von Specks Interessenspektrum scheint mir, dass er sich mit zunehmendem Alter auf allgemeinere Probleme der Heil-/ Sonderpädagogik wie auch der Pädagogik insgesamt sowie auf ethische Grundfragen konzentrierte: 1988 „System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung“ (6. Aufl. 2008); 1991 „Chaos und Autonomie in der Erziehung. Erziehungsschwierigkeiten unter moralischem Aspekt“ (2. Aufl. 1997); 1997 „Erziehung und Achtung vor dem Anderen. Zur moralischen Dimension der Erziehung“; 1999 „Die Ökonomisierung sozialer Qualität. Zur Qualitätsdiskussion in Behindertenhilfe und Sozialer Arbeit“; 2005 „Soll der Mensch biotechnisch machbar werden? Eugenik, Behinderung und Pädagogik“; 2008 „Hirnforschung und Erziehung. Eine pädagogische Auseinandersetzung mit neurobiologischen Erkenntnissen“ (2. Aufl. 2009). In bereits hohem Alter griff Speck mit zwei Büchern kritisch und ohne ideologische Verhärtung in die bis heute aktuelle Inklusionsdebatte ein: 2010 „Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht. Rhetorik und Realität“ und 2019 „Dilemma Inklusion“. Das außerordentlich reichhaltige und umfangreiche Werk von Otto Speck lässt sich in einer kurzen Würdigung leider nur ganz rudimentär und oberflächlich darstellen. Neben den zahlreichen Monografien hat er über 300 Aufsätze in Fachzeitschriften, Sammelbänden sowie Zeitungen publiziert. Schon ein Überblick über die wichtigsten Monografien zeigt, wie sich Speck mit zunehmendem Alter philosophischethischen Themen zuwandte, die jeweils auch in den Kontext seines heilpädagogischen Verständnisses passen. Und ein Blick auf sein Curriculum verrät seine enge Verbundenheit mit den Realitäten (heil-)pädagogischer Praxis, was ihn bis zum Hinschied vor einem ideologisch verhärteten Theorieblick zu schützen vermochte. Nach den Prüfungen für das Lehramt an Volksschulen (1947, 1950) und für das Lehramt an Sonderschulen (1951) war er während insgesamt etwa 17 Jahren mit wechselnden (Teil-)Pensen als Sonderschullehrer in Schulen und Heimen tätig. Daneben absolvierte er seine Studien in Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Dogmatik an der Ludwig- Maximilians-Universität München. Es folgten nebenamtliche Dozententätigkeiten an den Staatlichen Heilpädagogischen Ausbildungslehrgängen in Bayern, an der Höheren Fach- VHN 4 | 2023 259 URS HAEBERLIN Zum Hinschied von Otto Speck -Versuch einer Würdigung NACH RU F schule für Sozialarbeit in München (seit 1959) und am Institut für Katechetik und Homiletik München. Außerdem gab er Kurse für Väter und Familienerziehung an der Münchener Mütterschule und hielt Fortbildungsvorträge zur Lehrerbildung und zur Familienerziehung. Nachdem er ab 1964 Leiter der staatlichen Sonderschullehrerausbildung in Bayern war, wurde er 1971 als ordentlicher Professor für Sonderpädagogik an die Pädagogische Hochschule München berufen, die ein Jahr darauf in die Universität München integriert wurde. Dank seiner Ausstrahlung als Universitätslehrer fungierte er 1974/ 75 auch als Gründungsprofessor für Sonderpädagogik an der Universität Würzburg. Bis zu seiner Emeritierung auf eigenen Antrag prägte er die Sonderpädagogik nicht nur an der Uni München, sondern auch in weiteren universitären Umfeldern wie beispielsweise 1991 - 1994 durch seine Lehrtätigkeit an der Universität Potsdam oder die Leitung der Evaluationskommission für Rehabilitationspädagogik an der Humboldt-Universität Berlin. Seine Ehrungen, beginnend mit der Verleihung des Bayerischen Verdienstordens (1986), sind so zahlreich, dass eine Aufzählung den für diesen Nachruf zur Verfügung stehenden Platz sprengen würde. Besonders erwähnenswert für ein abgerundetes Gedenken an Otto Speck scheint mir seine unvergessliche Begabung des Vortragens sowohl in wissenschaftlichen wie auch in praxisnahen Umfeldern. Entgegen der seit Jahrzehnten zunehmenden Verwendung von technischen Hilfsmitteln wie Hellraumprojektor und später Projektion aus Computern faszinierten Specks Vorträge einzig und allein durch perfekte Sprache ohne jede Visualisierungstechnik. Er hielt die Vorträge ohne Manuskript in perfektem Aufbau und verständlicher Sprache. Wir alle erinnern uns wohl staunend an seine jeweils einzige Stütze: ein kleines Fetzchen Papier von maximal 10 mal 10 cm! Es ist zu hoffen, dass Specks Gedanken und ethische Grundlagen auch nach seinem Hinschied für die Sonder- und Heilpädagogik prägend bleiben werden. Seine Wertschätzung der auf Heinrich Hanselmann und Paul Moor zurückgehenden Grundlegung der Heil- und Sonderpädagogik ist unverkennbar. Dies wird in den diesen Nachruf abschließenden Sätzen aus Specks Aufsatz „Spiritualität - Zugang zu einer neuen Sinnorientierung“ (vgl. VHN 1/ 2016, S. 69) meines Erachtens recht deutlich: „Spiritualität wird als Intuition, als Ergriffensein, als Ahnung, Erleuchtung oder als plötzliche Idee erlebt, die man sich jedoch nicht hinreichend erklären kann. Was dabei zutiefst angesprochen wird, ist das ‚Herz‘. Dieses gilt in allen Kulturen als die Mitte des Menschen, als der tiefste und wirkliche Grund seines Wesens - nicht der Kopf! “ … „Das Thema Spiritualität dürfte für die Heilpädagogik insofern besonders wichtig sein, als es bei einer Behinderung um besonders herausfordernde Lebenslagen geht, die durch soziale oder pädagogische Arrangements allein nicht nachhaltig bewältigt werden können. Die helfende Wirkung der Religiosität für die Bewältigung schicksalhafter Belastungen, z. B. durch eine Behinderung, ist wissenschaftlich belegt.“ Prof. Dr. Urs Haeberlin, Zürich Emeritus der Universität Freiburg (Schweiz)
