Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte: Sehen und Hören in Bayern
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Barbara Heindl
Der Anstieg des Lebensalters in Deutschland ist auch bei den Bewohner/innen besonderer Wohnformen zu beobachten. Eine Erhebung in speziellen Pflegeeinrichtungen in Westfalen-Lippe aus dem Jahr 2016 zeigte, dass 86,4% der Bewohner/innen spezieller Pflegeeinrichtungen 50 Jahre oder älter waren (Thimm et al. 2019, S.225). Es ist anzunehmen, dass altersbedingte körperliche Beeinträchtigungen, wie beispielsweise die Verringerung der Seh- oder Hörfähigkeit, und deren Auswirkungen im Alltag in der Praxis zunehmend an Relevanz gewinnen und berücksichtigt werden müssen.
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VHN 4 | 2023 310 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Sehen und Hören in Bayern Studie zur Identifizierung von Auffälligkeiten im Sehen und Hören sowie zur Verbesserung der Lebens- und Umweltbedingungen von erwachsenen Menschen mit sogenannter geistiger und komplexer Behinderung in Bayern (SuHB) Barbara Heindl Ludwig-Maximilians-Universität München Forschungshintergrund Der Anstieg des Lebensalters in Deutschland ist auch bei den Bewohner/ innen besonderer Wohnformen zu beobachten. Eine Erhebung in speziellen Pflegeeinrichtungen in Westfalen-Lippe aus dem Jahr 2016 zeigte, dass 86,4 % der Bewohner/ innen spezieller Pflegeeinrichtungen 50 Jahre oder älter waren (Thimm et al. 2019, S. 225). Es ist anzunehmen, dass altersbedingte körperliche Beeinträchtigungen, wie beispielsweise die Verringerung der Seh- oder Hörfähigkeit, und deren Auswirkungen im Alltag in der Praxis zunehmend an Relevanz gewinnen und berücksichtigt werden müssen. Havemann und Stöppler (2021, S. 41) gehen davon aus, dass das Hörvermögen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung „schon ab ungefähr dem 30. Lebensjahr“ verringert ist und Anzeichen einer altersbedingten Hörschädigung erkennbar sind. Die Ergebnisse von Fellinger et al. (2009), die in einer österreichischen Untersuchung mit 253 Bewohner/ innen mit sog. geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung eine doppelt so hohe Prävalenzrate für Hörbeeinträchtigungen im Vergleich zu der Allgemeinbevölkerung fanden, geben einen Hinweis darauf, dass ein großer Anteil der Menschen mit geistiger Behinderung zusätzlich Seh- und Hörschwierigkeiten hat. Forschungsprojekt und Ziele des Projekts Das Projekt „Sehen und Hören: Studie zur Identifizierung von Auffälligkeiten im Sehen und Hören sowie zur Verbesserung der Lebens- und Umweltbedingungen von erwachsenen Menschen mit sogenannter geistiger und komplexer Behinderung in Bayern (SuHB)“ nimmt die Teilhabe von Menschen mit komplexer Behinderung und Hörund/ oder Sehschwierigkeiten in den Blick. Das Kooperationsprojekt des Blindeninstituts Würzburg, der Universität Hamburg, der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Ludwig-Maximilians-Universität München, welches durch das bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gefördert wird, gliedert sich in mehrere Arbeitspakete: Arbeitspaket 1: Ermittlung der Prävalenz von Beeinträchtigungen des Sehens und Hörens bei Menschen mit geistiger bzw. komplexer Behinderung in Bayern. Arbeitspaket 2: Ermittlung der bisherigen andragogischen Rahmenbedingungen in bayerischen Einrichtungen der (nicht-sinnesspezifischen) Behindertenhilfe. Schwerpunkt der weiteren Ausführung ist Arbeitspaket 2, welches in gemeinsamer Verantwortung der LMU und der UHH liegt. Ziel der Arbeit ist es, die aktuellen Rahmenbedingungen für gutes Sehen und Hören im Lebensalltag der Zielgruppe darzustellen. Zudem sollen Ansatzpunkte für Veränderungen entsprechend dem Konzept des Universal Designs gewonnen werden. Dies beinhaltet, dass Produkte, Umfelder, Programme oder Dienstleistungen „in der Weise [gestaltet sind], dass sie von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpassung oder ein spezielles Design genutzt werden können“ (Artikel 2 UN-BRK, 2008). Dadurch kann eine umfassende und selbstständige Teilhabe aller Nutzer/ innen - möglichst ohne spezifische Anpassungen - realisiert werden. Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für die Formulierung von Handlungsempfehlungen. Forschungsfragen Das Forschungsvorgehen wird hierbei von folgenden Fragen geleitet: 1. Wie gestalten sich bislang strukturelle (räumliche Barrierefreiheit) Rahmenbedingungen für erwachsene Menschen mit geistiger bzw. komplexer Behinderung und zusätzlicher Sinnesbehinderung? VHN 4 | 2023 311 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE 2. Wie gestalten sich bislang fachliche (andragogisch-konzeptionelle) Rahmenbedingungen für erwachsene Menschen mit geistiger bzw. komplexer Behinderung und zusätzlicher Sinnesbehinderung? 3. Wie können die Rahmenbedingungen (im Sinne des Universal Designs) derart gestaltet werden, dass diese den Bewohner/ innen mit Seh- und Hörschädigung, aber auch allen anderen Bewohnenden wie auch den Mitarbeitenden nutzen? Erhebungsmethode und Untersuchungsteilnehmer Das Forschungsprojekt wird als Methodentriangulation durchgeführt. Dadurch ist es möglich, dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und sowohl die räumlichen Rahmenbedingungen als auch die Prozesse genauer zu untersuchen. Die aktuellen Rahmenbedingungen bezüglich Sehen und Hören in besonderen Wohnformen werden mithilfe eines Analysebogens erfasst, der von der Projektgruppe entwickelt wurde. Die Datenerhebung erfolgt durch eine Begehung der Wohneinrichtung. Die Untersuchungsbereiche werden auf den Eingangsbereich, Wohn- und Gemeinschaftsräume, ausgewählte Gänge und Flure, Aufzüge und Sanitärräume begrenzt. Dabei werden sowohl objektive Kenndaten aus den Bereichen Sehen und Hören zur Beleuchtung, zum Kontrast und zur Akustik quantitativ erhoben als auch Beobachtungen zu den Räumlichkeiten qualitativ ergänzt. Die qualitative Beobachtung einer Essenssituation je Einrichtung ermöglicht einen detaillierten Einblick in das Forschungsfeld und in darin stattfindende interaktive Prozesse. Dabei werden Informationen zur Kommunikation zwischen Mitarbeitenden und Bewohnenden, zur Kommunikation in der Gruppe, zu Handlungen und Objekten, wie auch zur Teilhabe an Prozessen gesammelt. Mithilfe eines problemzentrierten Interviews werden praxisrelevante Ansatzpunkte für Veränderung erarbeitet. Zunächst berichten Mitarbeiter/ innen über bisherige Erfahrungen in Bezug auf Sehen und Hören und inwiefern diese im Alltag ihrer Wohngruppe berücksichtigt werden. Erzählgenerierende Stellvertretergeschichten fokussieren Situationen des Wohngruppenalltags. Diese beziehen sich auf folgende Themenfelder: gemeinsames Miteinander im Alltag, Beteiligung an gemeinsamen Entscheidungen, gemeinsame Mahlzeiten und gemeinsame Ausflüge und Freizeitaktivitäten der Wohngruppe. Dadurch können Sicht- und Vorgehensweisen der Mitarbeitenden ohne direkten Bezug zu konkreten Personen in den Wohneinrichtungen besser nachvollzogen werden. Im Vordergrund steht dabei die Dokumentation von Lösungen und positiven Beispielen, welche in einem engen Bezug zur Alltagspraxis von Wohneinrichtungen stehen. Stichprobe Die Datenerhebung findet in verschiedenen Einrichtungen der Behindertenhilfe in Bayern statt. Angestrebt wird eine Datenerhebung in 19 Wohneinrichtungen. Die Stichprobe beinhaltet mindestens zwei Einrichtungen je Regierungsbezirk. Zusätzlich werden Einrichtungen mit Sitz in Ballungsräumen einbezogen. Des Weiteren werden Wohnangebote von verschiedenen Trägern, mit unterschiedlicher Größe, Häuser aus unterschiedlichen Bestandszeiten wie auch Wohnkomplexe oder einzelne Häuser näher betrachtet. Die Stichprobenzahl wurde zudem durch die Teilnahmebereitschaft der Einrichtungen beeinflusst. Ausblick Das Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt und begann im September 2021. Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit vorliegenden Forschungsergebnissen im Zusammenhang mit Hörbehinderung und Wohnsituation von Menschen mit geistiger Behinderung und der Entwicklung des Erhebungsinstruments in enger Zusammenarbeit mit der Universität Hamburg erfolgt gegenwärtig die Sammlung der Daten in bayerischen Einrichtungen der Behindertenhilfe. Die nächste Phase der Datenauswertung wird derzeit vorbereitet wie auch die Ideensammlung zur Erstellung einer Handreichung für die Einrichtungen, deren Veröffentlichung zum Projektende vorgesehen ist. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei: Barbara.Heindl@edu.lmu.de DOI 10.2378/ vhn2023.art37d
