Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Rezension: Kohler, Jürgen (2022): Wissenschaftlich denken und handeln in der Heil- und Sonderpädagogik. Zur Gemeinsamkeit von Forschung und Praxis
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2023
Christian Rietz
Die Notwendigkeit und Wichtigkeit von professionsspezifischen Handreichungen (nicht nur im Methodenbereich) wird leider durchgängig in der Forschung und der Lehre unterschätzt. Und dies gilt im Besonderen für „weiche“ Fächer wie die Heil- und Sonderpädagogik, die Rehabilitationswissenschaft, Sozialarbeit und die neueren Studiengänge z.B. im Bereich Pflege, Ergotherapie oder die Hebammenausbildung.
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VHN 4 | 2023 322 REZE NSION E N Linie wichtig, ein „Klima der Inklusion“ (S. 234) zu schaffen, in dem „Gleichwertigkeit und Einzigartigkeit“ (S. 235) aller Schülerinnen und Schüler sowohl strukturell als auch interaktionell zum Ausdruck gelangen. Etwas unklar bleibt, ob die Verfasserin eine inklusive Schule vorrangig als sozialen Gestaltungs- und Verwirklichungsraum personalen Wohlergehens verstanden wissen will (vgl. S. 179 - 182) - oder nicht vielmehr als demokratisches Experimentierfeld für „eine reichhaltige, vielfältige und lebendige Gesellschaft […], in der Menschen einander als gleichwertige Kooperationspartner sehen“ (S. 234). Unterwirft man freilich individuelle Inklusionsansprüche vorschnell dem politischen Ziel einer „Förderung von Gemeinsinn und Gemeinwohl“ (S. 237), droht die (von der Verfasserin selbst durchaus immer wieder benannte) Gefahr, dass plurale Realisierungsoptionen selbstbestimmter Lebensführung „unter eine gesellschaftliche und pädagogische Verpflichtungsdoktrin“ (S. 238) gestellt werden. Hier macht sich bemerkbar, dass die vielleicht entscheidende Frage nach dem Bedingungswie Spannungsverhältnis von sozialer Zugehörigkeit und individueller Freiheit über das gesamte Buch hinweg seltsam in der Schwebe bleibt. Prof. Dr. Lars Klinnert D-44803 Bochum DOI 10.2378/ vhn2023.art39d Kohler, Jürgen (2022): Wissenschaftlich denken und handeln in der Heil- und Sonderpädagogik. Zur Gemeinsamkeit von Forschung und Praxis Weinheim: Beltz Juventa. 322 S., € 24,95 Die Notwendigkeit und Wichtigkeit von professionsspezifischen Handreichungen (nicht nur im Methodenbereich) wird leider durchgängig in der Forschung und der Lehre unterschätzt. Und dies gilt im Besonderen für „weiche“ Fächer wie die Heil- und Sonderpädagogik, die Rehabilitationswissenschaft, Sozialarbeit und die neueren Studiengänge z. B. im Bereich Pflege, Ergotherapie oder die Hebammenausbildung. Egal ob wir jetzt über Statistik, Forschungsmethoden oder über Wissenschaftstheorie sprechen - es gibt hier keine Ansätze, die gemäß der Devise „one fits all“ ohne größeren Adaptationsaufwand, vor allem aber ohne intensiveres Verständnis für das „Funktionieren“ eines Faches, übertragen werden können (der Autor hat das am eigenen Leibe erfahren, als er als ausgebildeter quantitativer Psychologe eine Professur für Forschungsmethoden an einem Department für Heilpädagogik und Rehabilitation übernommen hat). Letztendlich führt die wenig reflektierte Übernahme aus anderen Disziplinen aber auch zu einer „Verwässerung“ und ggfs. zu Standards, die den den Fächern inhärenten Forschungsgegenständen nicht angemessen sind. Umso wichtiger sind Bücher wie das von Jürgen Kohler, die das anspruchsvolle Ziel verfolgen, Methodik und auch Wissenschaftstheorie vor dem Hintergrund langjähriger Erfahrungen in dem Fach in eine kodifizierte Form zu bringen und die als Grundlagenwerke für Studierende, für Forschende und Praktiker/ innen verstanden werden können. Damit das gelingen kann, ist natürlich eine differenzierte und fundierte Auseinandersetzung mit der Entwicklung des eigenen Faches sowie seiner Forschungstraditionen und -paradigmen unumgänglich. Dieser Herausforderung wird Jürgen Kohler an vielen Stellen seines Buches (wenn auch häufig implizit) gerecht, auch wenn ich mir an der einen oder anderen Stelle mehr Selbstbewusstsein „des Faches“ gewünscht hätte. Das Buch enthält insgesamt zwölf Kapitel und spinnt einen (in seinem Aufbau nicht immer nachvollziehbaren) Faden von wissenschaftstheoretischen Vorüberlegungen über die Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Theorie“ (über den sich vortrefflich streiten ließe), die Sammlung von Daten, das Lesen von Theoriearbeiten, experimentelle Designs, Gütekriterien, die Planung und den Ablauf von wissenschaftlichem sonderpädagogischem Denken und Handeln bis hin zu Forschungsfragen und Exkursen zu weiteren VHN 4 | 2023 323 REZE NSION E N relevanten Begrifflichkeiten und abschließenden Literaturempfehlungen. Und natürlich stellt sich die gerechtfertigte Frage, ob das nicht ein „Zuviel“ an Themen ist. In den einzelnen Kapiteln gelingt es Jürgen Kohler immer wieder sehr gut, die Verbindung zu ausgewählten heil- und sonderpädagogischen Beispielen und Handlungsfeldern herzustellen, wobei die Auswahl der Beispiele in den jeweiligen Kapiteln zum Teil „gewollt“ wirkt. Wahrscheinlich wäre es - das schmälert aber den Wert des Werkes in keiner Weise - hilfreich gewesen, zwei oder drei prototypische heil- und sonderpädagogische Fragen auszuwählen, die dann die jeweiligen Kapitel und Inhalte strukturiert hätten. Gerade wenn es um die Breite geht, verliert das Buch an einigen Stellen an Präzision, Verständlich- und Nachvollziehbarkeit (z. B. in den Kapiteln über Wissenschaftstheorie, Gütekriterien oder Statistik). Das ist aber andererseits auch mehr als verständlich, da die Komplexität der Teildisziplinen nur schwer bzw. eigentlich überhaupt nicht auf einige Druckseiten zu reduzieren ist. Deshalb sei mir an dieser Stelle die Anmerkung erlaubt, dass ein „Weniger“ in Kombination mit stringent durchdeklinierten Beispielen ein „Mehr“ hätte sein können. Besonders positiv hervorheben möchte ich aber, dass Kohler dem Untertitel seines Buches „Zur Gemeinsamkeit von Forschung und Praxis“ gerecht wird und oft nur schwer verständliche wissenschaftliche Konzepte (wie z. B. das der Reliabilität) ohne komplizierte Umwege für die Anwender/ innen begreifbar beschreibt. Und zwar so, dass ein Wort „Reliabilität“ nicht mehr benötigt wird und durch ein entsprechendes Konzept (wenn ich mehrfach nacheinander einen Sachverhalt messe, sollten identische Ergebnisse resultieren) anschaulich substituiert wird. Ich habe selbst mehrere Jahre lang eine Vorlesung zu Forschungsmethoden in der Heilpädagogik und Rehabilitation gehalten und hätte mir so ein Buch wie das von Jürgen Kohler mehr als gewünscht - es hätte mir auf der einen Seite viel Anpassungsaufwand erspart, auf der anderen Seite aber (gerade für mich als externe Person) eine anschauliche und pragmatische Orientierung in dem Fach erlaubt. Und das ist nach meiner Auffassung, trotz aller kleineren Monita, ein Alleinstellungsmerkmal. Mir hat das Lesen des Buches wirklich große Freude bereitet, und ich kann es Kolleg/ innen, die in der Heil- und Sonderpädagogik lehren, forschen oder arbeiten, nur wärmstens empfehlen. Es gelingt Jürgen Kohler wirklich exzellent, die Perspektive des Fachs anschaulich zu vermitteln. Prof. Dr. Christian Rietz D-69120 Heidelberg DOI 10.2378/ vhn2023.art40d Heine, Matthias (2022): Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache Berlin: Dudenverlag. 301 S., € 22,- Es lässt sich behaupten, Unwörter gebe es nicht - trotz der bekannten sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“. Die Negation eines Wortes wäre dessen Nichtvorhandensein. Gibt es aber kaputte Wörter? Also Wörter, die nicht wieder verwendbar, außer Gebrauch oder verboten sind, verhängnisvolle, verunglimpfende, verletzende Wörter? Der Sprachwissenschaftler und Journalist Matthias Heine hat fast 80 Wörter analysiert, die im öffentlichen Umgang kritisiert werden oder als kontaminiert gelten. Die Wörter stammen im Allgemeinen aus den Bereichen Politik und Geschichte oder thematisieren Fremdheit, Geschlecht und Alltägliches wie Asylant, Jude, Indianer, Fräulein, Negerkuss. Ein Anteil von zehn Prozent der von Heine versammelten Wörter gehören zum Thema Beeinträchtigung: behindert, Hasenscharte, invalid, Liliputaner, mongoloid, taubstumm, Wasserkopf, Zwerg. Matthias Heine gliedert seine jeweils meistens etwa drei Druckseiten langen Texte zu den einzelnen, einmal mehr, einmal weniger kaputten Wörtern in überzeugender und übersichtlicher Weise in Ursprung, Gebrauch, Kritik und Einschätzung. Beispielsweise stehe der Ursprung der Hasen-
