Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2023.art01d
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2023
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Das Provokative Essay: Selektive Inklusion? Zur Kostenübernahme nichtinvasiver Pränataltests durch die gesetzlichen Krankenkassen
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2023
Marianne Irmler
Nichtinvasive Pränataltests ermöglichen eine scheinbar risikolose und gleichzeitig genaue Diagnostik von spezifischen Chromosomenanomalien eines ungeborenen Kindes. Vor dem Hintergrund der seit Juli 2022 geltenden Kostenübernahme nichtinvasiver Pränataltests durch die gesetzlichen Krankenkassen werden Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure betrachtet, die direkt oder indirekt von der Durchführung dieser Tests betroffen sind. Dadurch werden Aspekte eines Verfahrens für ethische Entscheidungsfindungsprozesse genutzt, um die Komplexität der ethischen Herausforderungen im Zusammenhang mit nichtinvasiven Pränataltests abzubilden. Dies wirft Fragen zum Grad der Einbindung der direkt betroffenen Personengruppen in die wesentlichen Entscheidungsprozesse auf.
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1 VHN, 92. Jg., S. 1 -7 (2023) DOI 10.2378/ vhn2023.art01d © Ernst Reinhardt Verlag Selektive Inklusion? Zur Kostenübernahme nichtinvasiver Pränataltests durch die gesetzlichen Krankenkassen Marianne Irmler Fachhochschule Kiel Zusammenfassung: Nichtinvasive Pränataltests ermöglichen eine scheinbar risikolose und gleichzeitig genaue Diagnostik von spezifischen Chromosomenanomalien eines ungeborenen Kindes. Vor dem Hintergrund der seit Juli 2022 geltenden Kostenübernahme nichtinvasiver Pränataltests durch die gesetzlichen Krankenkassen werden Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure betrachtet, die direkt oder indirekt von der Durchführung dieser Tests betroffen sind. Dadurch werden Aspekte eines Verfahrens für ethische Entscheidungsfindungsprozesse genutzt, um die Komplexität der ethischen Herausforderungen im Zusammenhang mit nichtinvasiven Pränataltests abzubilden. Dies wirft Fragen zum Grad der Einbindung der direkt betroffenen Personengruppen in die wesentlichen Entscheidungsprozesse auf. Schlüsselbegriffe: Nichtinvasiver Pränataltest, selektive Reproduktion, ethische Entscheidungsfindung, Pränataldiagnostik Selective Inclusion? Public Funding of Non-Invasive Prenatal Testing Summary: Non-invasive prenatal testing enables the ostensibly risk-free yet highly sensitive diagnosis of genetic anomalies in the unborn child. In July 2022, non-invasive prenatal testing became a publicly-funded procedure in Germany and it is against this backdrop that the perspectives of different actors who are directly or indirectly affected by the implementation of these tests are discussed. A model of ethical decision making is used to depict the complexity of ethical challenges accompanying non-invasive prenatal testing, including questions regarding the degree to which those directly affected should be involved. Keywords: Non-invasive prenatal testing, selective reproduction, ethical decision making, prenatal diagnosis DAS PROVOK ATIVE ESSAY Problemaufriss Als im Jahr 2012 der PraenaTest ® in Deutschland auf den Markt kam, wurde die Debatte zu pränataldiagnostischen Verfahren um herausfordernde ethische Fragen erweitert (Siebert & Speicher, 2019). Die Debatte konnte jedoch einen breiten Einsatz der nichtinvasiven Pränataltests (NIPT) nicht verhindern. So ist die Durchführung von NIPTs im Jahr 2021 in die Mutterschaftsrichtlinien aufgenommen worden, und zum 1. 7. 2022 wurde die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen beschlossen (Albert, 2022). Zeitgleich vollzieht Deutschland die Implementierung der Prinzipien der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK). In der UN-BRK ist u. a. in Artikel 8 festgehalten, dass sich die Vertragsstaaten dazu verpflichten, die Bewusstseinsbildung im Kontext Behinderung in der Gesellschaft zu VHN 1 | 2023 2 MARIANNE IRMLER Selektive Inklusion? DAS PROVOK ATIVE ESSAY unterstützen und weiterzuentwickeln (BMAS, 2008). Wie im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung erläutert wird, äußerte sich der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung im Jahr 2015 besorgt darüber, „dass die von Deutschland getroffenen Maßnahmen zum Abbau der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen, […] wirkungslos geblieben sind und fordert die Erarbeitung einer Strategie zur Bewusstseinsbildung […]“ (BMAS, 2016, S. 220). Diese Aufforderung zur Bewusstseinsbildung trifft auf zunehmend zielgerichtetere pränataldiagnostische Maßnahmen, nach deren Durchführung mit positivem Befund meist ein Schwangerschaftsabbruch steht (Lou et al., 2018). Im vorliegenden Beitrag werden Aspekte einer Methode ethischer Entscheidungsfindung genutzt, um sich den ethischen Implikationen zu nähern, die mit der Einführung und Kassenzulassung des NIPT verbunden sind. Es wurden vier Gruppen von Akteurinnen und Akteuren identifiziert, die von dem Verfahren direkt oder indirekt betroffen sind. Ziel des Beitrags ist es, die Komplexität der ethischen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem NIPT anhand der eingebundenen Personengruppen aufzuzeigen. Zur Einführung in die Thematik wird zunächst eine Erläuterung des NIPT vorgenommen, um anschließend Facetten von Verfahren zur ethischen Entscheidungsfindung zu betrachten und die Perspektiven der unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure zu beleuchten. NIPT Mithilfe des NIPT können im ersten Trimester einer Schwangerschaft durch Blutentnahme der schwangeren Frau verschiedene Chromosomenanomalien festgestellt werden. Die drei am häufigsten auftretenden Syndrome sind die Trisomien 21, 18 und 13. Das mütterliche Blut wird bezüglich zellfreier DNA analysiert und daraus eine Wahrscheinlichkeit für die genannten Trisomien errechnet (Gil & Nicolaides, 2019). Da für den Test nur eine Blutentnahme der Mutter notwendig ist, gilt das Verfahren als risikolos. Neben den genannten Trisomien kann z. B. auch die Bestimmung des Geschlechts vorgenommen werden. Potenziell besteht die Möglichkeit, eine komplette Genomsequenz des Fötus zu erstellen (Rehmann-Sutter & Schües, 2020). Die Sensitivität und Spezifität der Tests werden mit 99 % bei einer Trisomie 21 angegeben (Beerheide & Richter-Kuhlmann, 2021). Die aus den technischen Möglichkeiten des NIPT entstehenden ethischen Fragestellungen beziehen sich u. a. darauf, dass (a) dieses Verfahren explizit auf die Detektion von drei Trisomien ausgerichtet ist, (b) zur genaueren Abklärung einem positiven Befund immer ein invasives Verfahren folgt, (c) das Verfahren aufgrund seiner risikolosen Durchführung eine geringere Hemmschwelle zur Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik und damit einen Anstieg an Schwangerschaftsabbrüchen zur Folge haben kann und (d) die potenziell komplette Genomsequenzierung zu vielen weiteren ethischen Herausforderungen führt (Rehmann-Sutter & Schües, 2020). Ethische Entscheidungsfindung Ethische Entscheidungsfindungsmodelle dienen in der Praxis dazu, ethische Fallbesprechungen zu strukturieren und Einflussfaktoren auf die ethischen Entscheidungen zu identifizieren (Dolgoff, Harrington & Loewenberg, 2012). Diese Modelle sind meist in Stufen der Fragestellungsbearbeitung gegliedert, um Einflussfaktoren zu erkennen und z. B. die persönliche Moral von der Berufsethik zu trennen. Zu den einzelnen Stufen der Modelle gehören eine Identifikation des ethischen Problems, eine Identifikation der Beteiligten, eine Darstellung von Handlungsoptionen, eine Erörterung von Vor- und Nachteilen der einzelnen Optionen sowie der Einbezug ethischer Parameter VHN 1 | 2023 3 MARIANNE IRMLER Selektive Inklusion? DAS PROVOK ATIVE ESSAY (z. B. Berufsethik). Ein wesentlicher Inhalt ethischer Entscheidungsfindungsmodelle besteht im Anhören der einzelnen Positionen eingebundener Akteurinnen und Akteure (Leith, 2021). Die Anwendung ist in erster Linie für konkrete Einzelfälle gedacht. Leith (2021) verweist darauf, dass auch das eindeutigste Entscheidungsfindungsmodell nicht garantiert, zu einer ethisch akzeptablen Lösung zu finden. Akteurinnen und Akteure in der ethischen Entscheidungsfindung zum Einsatz der NIPT Auch wenn die Übertragung der ethischen Entscheidungsfindungsmodelle nicht gänzlich auf gesamtgesellschaftliche ethische Fragestellungen möglich ist, wird im Folgenden eine Stufe der Verfahren genutzt, um die Komplexität der gesellschaftlichen Frage um den Einsatz von NIPT hervorzuheben. Es werden explizit die Perspektiven von vier Gruppen dargestellt, die indirekt oder direkt von nichtinvasiven Pränataltests betroffen sind. Neben zwei professionsbezogenen Perspektiven, die Medizin(ethik) und die Heilpädagogik, werden zusätzlich Stellungnahmen von direkt betroffenen Personen vorgestellt, den schwangeren Frauen und den Menschen mit Behinderung. Zu jeder der genannten Gruppen werden zwei Quellen vorgestellt und deren Perspektiven auf die ethischen Implikationen des NIPT durch ausgewählte Zitate genauer betrachtet. Dies gibt einen ersten Einblick in die Tragweite der ethischen Dilemmata und bildet keine vollständige Darstellung der Debatte ab. Die Auswahl der analysierten Quellen und Zitate geschah nach folgenden Kriterien: (a) Publikationen nach Einführung des NIPT, (b) der Autor oder die Autorin gehört der ausgewählten Personengruppe an, (c) die identifizierten Zitate ergänzen sich in ihren Argumentationen, anstatt sich wiederholende Aussagen abzubilden. Mit diesen Kriterien sollte ein möglichst breites Spektrum an Perspektiven zusammengetragen werden. Medizin(ethik) Die Medizin ist diejenige Profession, deren Angehörige die NIPT durchführen. Die Medizinethik befasst sich mit den ethischen Implikationen von Pränataldiagnostik. Aus dieser Gruppe wurden zwei Artikel identifiziert, von denen sich der erste generell mit Fragen selektiver Reproduktion auseinandersetzt, der zweite mit der spezifischen Frage nach der Kostenübernahme der NIPT. Der Medizinethiker Wilkinson und die Philosophin Garrard publizierten 2013 ein Dokument mit dem Titel „Eugenics and the Ethics of Selective Reproduction“. In der Darstellung von Zielen der selektiven Reproduktion beschreiben sie sechs Argumentationen, die potenziell eine Ablehnung selektiver Reproduktion rechtfertigen könnten, und widerlegen diese größtenteils (Wilkinson & Garrard, 2013). In einem dieser Argumente geht es um eine mögliche Veränderung in der Ressourcenverteilung sowie um eine Bewertung von Behinderung: “As for the suggestion that selective reproduction could harm existing people with disabilities we found that there is probably some truth in this. […] if there were fewer people with disabilities then fewer resources might be allocated to making social institutions and the built environment accessible and ‘disability-friendly’. These dangers are real but need to be weighed against the benefits of selective reproduction and, in particular, the reduction in the amount of functional limitation and pain that might ensue if the prevalence of impairments and painful conditions in the population could be reduced” (ebd., S. 16). In einer deutschen Übersetzung von Rehmann- Sutter (2022, S. 15) wird in diesem Argument der englische Begriff „pain“ mit „Leid“ übersetzt, wodurch eine direkte Verbindung von Behinderung und Leid hergestellt wird. Eine zweite Perspektive aus der Medizinethik stellt die Argumentation der deutschen Medizinethikerin Alena Buyx aus dem Jahr 2018 dar. VHN 1 | 2023 4 MARIANNE IRMLER Selektive Inklusion? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die Stellungnahme bezieht sich auf die damals noch bevorstehende Kostenübernahme der NIPT durch die gesetzlichen Krankenkassen. Sie fokussiert auf den grundlegenden ethischen Konflikt zur Einführung des NIPT: „Auf der einen Seite muss die reproduktive Selbstbestimmung von prospektiven Eltern und ihr Wunsch nach Wissen über den Gesundheitszustand ihres zukünftigen Kindes respektiert werden; […] Auf der anderen Seite ist die gegenwärtig vielfach formulierte Sorge durchaus nachvollziehbar: könnte eine durch die GKV finanzierte Technologie, die für Trisomie 21 ebenso sensitiv und spezifisch ist wie die invasiven Methoden, aber nicht deren Eingriffsrisiken hat (etwa für Fehlgeburten), auch Schwangere/ Paare dazu bringen, eine Diagnostik und in der Folge einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, die dies vielleicht vorher nicht getan hätten? “ (Buyx, 2018, S. 1). Buyx (2018) verweist im weiteren Verlauf auf die noch geringe Datenlage zu Folgen der früheren Einführung der nichtinvasiven Testungen in Dänemark sowie auf die ohnehin schon hohen Zahlen von Schwangerschaftsabbrüchen bei vorgeburtlichen Trisomie-21-Diagnosen. Schwangere Frauen Ein Blick nach Dänemark ermöglicht es nicht nur, Erkenntnisse über Schwangerschaftsabbruchraten nach Ersttrimestertestungen zu erfahren, sondern auch den Entscheidungsprozess schwangerer Paare nach der Diagnose Trisomie 21. Lou et al. (2018) veröffentlichten hierzu eine Studie, in der 21 dänische Paare mithilfe halbstrukturierter Interviews zu ihrem Entscheidungsprozess nach einer Trisomie-21- Diagnose des ungeborenen Kindes befragt wurden. In Dänemark beträgt die Schwangerschaftsabbruchrate nach einer Trisomie-21-Diagnose über 95 %, die Ersttrimesterscreenings werden von über 90 % der Paare wahrgenommen (Lou et al., 2018, S. 1228). In der Studie von Lou et al. (2018) zeigt sich, dass ein wesentlicher Aspekt des elterlichen Entscheidungsprozesses davon bestimmt ist, dass es sich um eine erzwungene Entscheidung handelt. Alle Paare beschrieben die Entscheidung als belastend, und ein Großteil der Paare berichtete von einer erzwungenen Verantwortlichkeit aufgrund der Diagnose: “The couples mentioned that if they were to give birth to a DS child without that prior knowledge, they would love it and fight for it endlessly. However, the prenatal diagnosis made non-choice impossible, and 19 couples mentioned that the situation forced them to accept responsibility for ending a potential life” (ebd., S. 1234). Zur Ergänzung der zweiten Akteursperspektive wird auf eine Studie aus den Niederlanden zurückgegriffen. Crombag et al. (2016) untersuchten im Rahmen von Fokusgruppen die Gründe von schwangeren Frauen für oder gegen die Inanspruchnahme des niederländischen Downsyndrom Screenings (DSS) im ersten Trimester. Die Inanspruchnahme des DSS ist in den Niederlanden vergleichsweise gering: Weniger als 30 % der schwangeren Frauen nehmen das Screening in Anspruch (Crombag et al., 2016, S. 2). Von den 46 Teilnehmerinnen an der Studie entschieden sich 24 für ein Screening, 22 dagegen. Einzelne Begründungen für die Entscheidungen lassen sich in Zitaten der Studienteilnehmenden abbilden: “‘I don’t think I could make decisions on this (Down syndrome), so that’s why I prefer not to be informed, to avoid unnecessary stress’ […] ‘I am already 34, people say the older you get, the more chance that complications will arise, I do not want invasive testing due to the risks involved, combined testing is therefore a good option’ […] ‘…there is no harm in taking the test, but I am not sure what I’d do with a positive test result …’” (ebd., S. 6). Eine wesentliche Komponente wird in beiden Studien aus Sicht der schwangeren Frauen im Vergleich zu Angehörigen medizinischer Berufe ergänzt: die direkten Auswirkungen auf die eigenen Lebensentwürfe und die persönlichen Wertesysteme. VHN 1 | 2023 5 MARIANNE IRMLER Selektive Inklusion? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Heilpädagogik Die dritte Akteursperspektive bildet erneut eine professionsbezogene Sichtweise ab, die der Heilpädagogik. Als Profession, die sich mit Menschen mit Behinderung befasst, ist sie in einer Positionierung zum NIPT relevant. 2012, kurz nach Einführung des Tests, verfasste Martina Schlüter einen Artikel hierzu. In ihrer deutlichen Aufforderung an die Professionsmitglieder, sich an der Debatte um den NIPT zu beteiligen, rekurriert sie vor allem auf die Inklusionsdebatte und die UN-BRK mit der wesentlichen Frage, zu welchem Zeitpunkt die Forderung nach Inklusion eigentlich beginne: „Die aktuelle Inklusionsdebatte mit dem Ziel der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und vor allem der Schwerpunktsetzung der schulischen Inklusion nimmt zu wenig Bezug auf den Anfang des Lebens. Auch der Inklusionsgedanke verliert an Glaubwürdigkeit, wenn er die Umsetzung des Artikels 10 der BRK nicht vehement einfordert. Es kann kein Zufall sein, dass die Debatte so verläuft“ (Schlüter, 2012, S. 476). Im Artikel 10 der UN-BRK ist das gleichberechtigte inhärente Recht auf Leben von Menschen mit Behinderung verankert (BMAS, 2008). Tatsächlich hat die Aufforderung Schlüters wenig Nachhall in der Heilpädagogik erfahren. Ein Artikel einer weiteren Akteurin dieser Profession konnte identifiziert werden. Tina Mattenklodt (2012) bezieht in ihrer Perspektive von Inklusion nicht nur die (nicht) geborenen Menschen mit Behinderung ein, sondern auch deren Angehörige, die ebenso - so von ihr hypothetisiert - Exklusionserfahrungen befürchten: „Für schwangere Frauen wird durch die Verfügbarkeit eines risikolosen, aber sicheren Tests der Druck weiter steigen, selektive Pränataldiagnostik in Anspruch zu nehmen. ‚Widersetzen‘ sie sich und/ oder bekommen ein Kind mit Behinderung, könnten vermehrte Schuldzuweisungen und eine fortschreitende gesellschaftliche Entsolidarisierung die Folge sein, denn angeblich hatten sie ‚die Wahl‘ (Samerski 2011, 43). Ein weiteres Mal erführe damit die Verantwortung für das vermeintlich vermeidbare Leben mit einem behinderten Kind eine (weibliche! ) Individualisierung“ (Mattenklodt, 2012, S. 326). Menschen mit Behinderung Als letzte Akteursperspektive werden Personen mit Behinderung in den Fokus gesetzt. Da im Speziellen durch den NIPT Trisomie 21 diagnostiziert werden soll, wurden Stellungnahmen von Menschen mit Trisomie 21 ausgewählt. Sebastian Urbanski positionierte sich unter anderem 2019 auf einer öffentlichen Kundgebung in Berlin gegen den Einsatz von NIPT. Als Mensch mit Trisomie 21 steht für ihn im Zentrum der Diskussion das Lebensrecht und die Diskussion um ein Recht auf ein „perfektes Kind“: „Ich war gegen diesen Test und bin es auch heute noch. Ich bin auch dagegen, dass die Krankenkassen den Test einfach so wie eine Reihenuntersuchung bezahlen, weil damit Babys vor der Geburt aussortiert werden. Sie sollen nicht leben dürfen, weil sie einen Gendefekt haben und behindert sein würden. […] Ich bin der Meinung, auch diese Kinder haben das Recht zu leben, so wie ich. […] Natürlich wird nicht alles perfekt sein. Aber das Recht auf ein perfektes Kind hat keiner. […] Manchmal, wenn ich irgendwo auftrete und vorgestellt werde, wird gesagt, Sebastian Urbanski leidet am Down-Syndrom. Ich leide aber nicht am Down-Syndrom. An mir ist alles dran, in mir ist alles drin“ (Urbanski, 2019, S. 1f.). Urbanski selbst negiert ein Leid aufgrund der Trisomie 21, während dies u. a. als Begründung zur Durchführung von selektiver Reproduktion genutzt wird (Wilkinson & Garrard, 2013). Natalie Dedreux hat als Frau mit Trisomie 21 eine Petition gegen die Kostenübernahme der NIPT durch die gesetzlichen Krankenkassen erstellt. Sie bringt als wesentliche Ergänzung der letzten Perspektive eine Emotion in die Debatte, die in keinem anderen zitierten Artikel so explizit dargestellt wird: „Aber ich habe Angst, VHN 1 | 2023 6 MARIANNE IRMLER Selektive Inklusion? DAS PROVOK ATIVE ESSAY dass es weniger Menschen mit Down-Syndrom geben wird, wegen dem Bluttest bei schwangeren Frauen auf Down-Syndrom. […] Wenn die schwangeren Frauen sehen, ob das Ungeborene Down-Syndrom hat, dann werden sie sich gegen uns erst mal entscheiden. Ich glaube, die wollen uns nicht haben, weil die Angst haben“ (Dedreux, 2019, S. 13). Dedreux (2019) beschreibt das Gefühl von Angst demnach auf beiden Seiten der betroffenen Personengruppen. Betrachtet man vor diesem Hintergrund erneut den Artikel 8 der UN-BRK, so wird aus Dedreux’s Perspektive deutlich, dass ein wesentlicher Auftrag im Rahmen der Bewusstseinsbildung darin liegen könnte, Ängste bei der Begegnung mit Behinderung abzubauen. Ausblick Es ist der Kern eines ethischen Dilemmas, dass es keine allein gute Entscheidung geben kann (Leith, 2021). Dennoch soll mit dem Aufzeigen der unterschiedlichen Akteursperspektiven verdeutlicht werden, dass es in der Diskussion ethischer Dilemmata darum gehen sollte, auch die Akteursperspektiven zu berücksichtigen. Folgt man der Struktur ethischer Entscheidungsfindungsmodelle, wäre ein möglicher nächster Schritt die Verknüpfung der verschiedenen Akteursperspektiven, um eine Entscheidung zu finden, in der Konflikte persönlicher, gesellschaftlicher und professioneller Werte minimiert werden (Dolgoff, Harrington & Loewenberg, 2012). Bei konkreten einzelnen ethischen Fallentscheidungen in der Praxis hätte hierbei die Perspektive der direkt Betroffenen in der Regel das größte Gewicht. Bei gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen stellen in Deutschland die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrates eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Politik dar. Gerade im Kontext der Pränataldiagnostik verdeutlicht die letzte Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, dass es hierzu auch aufseiten dieses Gremiums keine Einigkeit gibt (Deutscher Ethikrat, 2013). In zwei Sondervoten, die der eigentlichen Stellungnahme angehängt sind, distanzieren sich Mitglieder des Gremiums von Teilen des Dokuments, u. a. mit der Begründung, dass dieses im Konflikt mit Prinzipien der UN-BRK stehe (ebd., S. 182). Für eine realistische Zukunft der Förderung immanenter Werte von Inklusion, wie in der UN-BRK gefordert, erscheint es unabdingbar, die genannten Akteursperspektiven (und solche darüber hinaus) intensiver zueinanderzubringen und das gesellschaftlich vorherrschende Bewusstsein von Behinderung zu hinterfragen. Dies könnte in der Planung von Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung gemäß Artikel 8 der UN-BRK eine entscheidende Rolle spielen. Literatur Albert, K. (2022). PraenaTest® wird Kassenleistung ab 01. 07. 2022. Abgerufen am 24. 6. 2022 von https: / / lifecodexx.com/ praenatest-kassenleis tung-ab-01-07-2022/ Beerheide, K. & Richter-Kuhlmann, E. (2021). Nichtinvasive Pränataltests. Kassen sollen ab 2022 zahlen. Deutsches Ärzteblatt, 118 (37), A1630 - A1631. 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Anschrift der Autorin Prof. Dr. Marianne Irmler Fachhochschule Kiel Sokratesplatz 2 D-24149 Kiel E-Mail: marianne.irmler@fh-kiel.de
