eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 92/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2023.art02d
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2023
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Fachbeitrag: Modell zur systemökologischen Situationsanalyse im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen in Institutionen

11
2023
Eva Büschi
Stefania Calabrese
Nadja Moramana
Natalie Zambrino
Im Rahmen eines nationalen Forschungsprojekts wurden herausfordernde Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in der Schweiz in Institutionen der Behindertenhilfe leben, untersucht. Mithilfe von quantitativen und qualitativen Methoden wurden die Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure erfasst. Das Ziel bestand unter anderem darin, förderliche und hinderliche Faktoren im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen zu finden. Basierend auf Bronfenbrenners ökosystemischem Entwicklungsmodell wurden die Ergebnisse auf verschiedenen Systemebenen angesiedelt und in 17 zentralen Faktoren gebündelt. Daraus entstand ein empirisch gestütztes Modell zur systemökologischen Situationsanalyse von herausfordernden Verhaltensweisen.
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VHN, 92. Jg., S. 8 -20 (2023) DOI 10.2378/ vhn2023.art02d © Ernst Reinhardt Verlag 8 Modell zur systemökologischen Situationsanalyse im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen in Institutionen Eva Büschi¹, Stefania Calabrese², Nadja Moramana¹, Natalie Zambrino² ¹ Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz ² Hochschule Luzern Soziale Arbeit Zusammenfassung: Im Rahmen eines nationalen Forschungsprojekts wurden herausfordernde Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in der Schweiz in Institutionen der Behindertenhilfe leben, untersucht. Mithilfe von quantitativen und qualitativen Methoden wurden die Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure erfasst. Das Ziel bestand unter anderem darin, förderliche und hinderliche Faktoren im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen zu finden. Basierend auf Bronfenbrenners ökosystemischem Entwicklungsmodell wurden die Ergebnisse auf verschiedenen Systemebenen angesiedelt und in 17 zentralen Faktoren gebündelt. Daraus entstand ein empirisch gestütztes Modell zur systemökologischen Situationsanalyse von herausfordernden Verhaltensweisen. Schlüsselbegriffe: Modell, systemökologisch, kognitive Beeinträchtigung, herausfordernde Verhaltensweisen, Institution A Systems-Ecological Model to Analyse Challenging Behaviour in Residential Settings Summary: In a nation-wide empirical study challenging behaviours of adults with intellectual disabilities who live in residential institutions in Switzerland were analysed. Using a mixed method design the different perspectives of all the parties involved were explored. The general objective was to determine beneficial as well as hindering factors when supporting adults who show challenging behaviours in institutional settings. Based on Bronfenbrenners ecological systems theory the resulting model shows 17 relevant aspects on different levels. The empirically deduced model thus allows an ecological systems analysis of challenging behaviour. Keywords: Model, systems-ecological, intellectual disability, challenging behaviour, residential settings FACH B E ITR AG 1 Ausgangslage: Ein systemökologisches Verständnis von herausfordernden Verhaltensweisen Erstmals wurden auf nationaler Ebene herausfordernde Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in der Schweiz in Institutionen der Behindertenhilfe leben, untersucht. Im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Forschungsprojekts wurde zuerst die Prävalenzrate eruiert, dann auf Entstehung, Umgang und Folgen von herausfordernden Verhaltensweisen fokussiert. Das Ziel bestand unter anderem darin, förderliche und hinderliche Faktoren im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen zu finden und darauf basierend ein empirisch gestütztes Modell zur systemökologischen Situationsanalyse zu entwickeln. VHN 1 | 2023 9 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG Folgende theoriegeleitete Definition von herausfordernden Verhaltensweisen wurde von den Autorinnen für den Kontext der Sozial- und Sonderpädagogik erarbeitet: Herausfordernde Verhaltensweisen n umfassen externalisierende (z. B. fremdverletzende, gemeinschaftsstörende oder sachbeschädigende) Verhaltensweisen und/ oder internalisierende Verhaltensweisen (z. B. Antriebslosigkeit oder Rückzugstendenzen) und/ oder selbstverletzende Verhaltensweisen, n können sich mittels spezifischer Anzeichen ankündigen oder (scheinbar) abrupt und plötzlich auftreten, n können gezielt ausgeübt und gerichtet oder aber eher impulsiv, unkontrolliert und unberechenbar wirken und sich als Kontrollverlust zeigen, n zeigen sich über einen längeren Zeitraum, sind wiederholt beobachtbar und treten in einer bestimmten Häufigkeit und Intensität zutage (Wüllenweber, 2009), n sind kritisch für die Person selbst und für die soziale Umwelt (Wüllenweber, 2009), n sind doppelt herausfordernd: Einerseits sind sie Ausdruck von erlebten Herausforderungen der Person selbst und andererseits fordern sie Begleitpersonen, Mitbewohnende, Angehörige und Institutionsleitende heraus (Wüllenweber, 2009; Palmowski, 2015), n werden in einem spezifischen Kontext durch das Individuum oder die Umwelt als sozial oder kulturell unerwünscht wahrgenommen (Wolkorte, van Houwelingen & Kroezen, 2019). Die Definition bringt das ihr zugrunde liegende systemökologische Verständnis zum Ausdruck, wonach herausfordernde Verhaltensweisen als Wechselwirkung zwischen einem Individuum und seiner Umwelt zu sehen und daher nie rein personenbezogen sind (Theunissen, 2021). Vielmehr sind sie multifaktoriell bedingt und systemisch angelegt. Daher richtet sich der Blick bei ihrer Analyse nicht nur auf das Individuum, das herausfordernde Verhaltensweisen zeigt, sondern immer auch auf die weiteren Beteiligten in der Situation sowie auf die Situation an sich. Unter der systemökologischen Perspektive werden herausfordernde Verhaltensweisen somit als Ausdruck einer Individuum-Umwelt-Relation verstanden. Diese Sichtweise erweist sich als optimistischer bezogen auf Veränderungspotenziale von Menschen (Palmowski, 2015) und fokussiert entsprechend Möglichkeiten der Entwicklung und der Teilhabe. Zudem bietet sie mehr (päd-)agogische Herangehensweisen an (Theunissen, 2021). Sie ist dadurch charakterisiert, dass a) Beobachtungen und Zuschreibungen nicht nur auf Personen bezogen, sondern im dynamischen Beziehungs- und Situationskontext gesehen werden, b) die Funktionalität der herausfordernden Verhaltensweisen ergründet wird und c) nicht allein die Ursachen, sondern auch die aufrechterhaltenden Bedingungen und Zusammenhänge beleuchtet werden (Elbing, 2003). Systemökologisch werden herausfordernde Verhaltensweisen als multifaktoriell, kontextabhängig und relational verstanden. Entsprechend wird nicht nur das Individuum, sondern auch dessen Umwelt fokussiert, sodass das Mikrosystem (Tätigkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen und Rollen), das Mesosystem (Angehörige, Begleitpersonen im Arbeits-/ Beschäftigungs- und Wohnbereich, Freund/ innen, Mitbewohnende und Bekannte), das Exosystem (agogische Angebote und Institutionen mit ihren Rahmenbedingungen als System höherer Ordnung, die den Lebensbereich des Individuums prägen) und das Makrosystem (übergeordnetes System mit seinen gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen, politischen und juristischen Gegebenheiten) mitberücksichtigt werden (Bronfenbrenner, 1981). Die Autorinnen verwenden den Begriff systemökologisch zur Betonung, dass er sich sowohl auf eine systemische wie auch eine sozioökologische Herleitung stützt (Theunissen, 2021). VHN 1 | 2023 10 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG 2 Methodisches Vorgehen Das SNF-Projekt umfasste ein Mixed-Methods- Vorgehen mit insgesamt fünf Phasen. In den ersten beiden Phasen erfolgten quantitative Online-Befragungen von Leitungs- und Begleitpersonen aus Institutionen in der ganzen Schweiz, bevor anschließend in den Phasen drei und vier qualitative Datenerhebungen realisiert wurden. Dabei wurden die Sichtweisen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ebenso erfasst wie jene ihrer Begleitpersonen und ihrer Angehörigen. In Phase fünf wurden die Ergebnisse trianguliert. Nachfolgende Ausführungen stützen sich auf die qualitativ erhobenen Daten aus den Phasen drei und vier ab. In Phase drei wurden insgesamt 17 Fälle bearbeitet. In 16 dieser 17 Fälle wurden Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen, die herausfordernde Verhaltensweisen zeigen und in Institutionen leben, interviewt beziehungsweise beobachtet. In einem Fall konnte keine Erhebung gemacht werden. Um ihre Perspektive aufzuzeigen, wurden sie je abgestimmt auf ihre individuellen Vorlieben und kommunikativen Möglichkeiten entweder individuell leitfadengestützt interviewt (vier Personen), mit Videoaufzeichnung beobachtet (neun Personen) oder im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung begleitet (drei Personen). Es handelte sich dabei um fünf Frauen und elf Männer im Alter zwischen 20 und 61 Jahren. Davon hatten, nach Einschätzung ihrer Begleitpersonen, acht Personen eine schwere und je vier eine mittlere oder eine leichte kognitive Beeinträchtigung. In Phase vier konnten in allen 17 Fällen Gruppendiskussionen mit den involvierten Begleitpersonen und zudem in 15 von 17 Fällen auch Einzelinterviews mit Angehörigen (Eltern oder Geschwistern) durchgeführt werden. Die Forschungsfragen nach Art und Entstehung der herausfordernden Verhaltensweisen sowie nach dem Umgang (Prävention, Deeskalation, Nachsorge) damit und den daraus resultierenden Folgen wurden somit aus unterschiedlichen Perspektiven beantwortet. Alle Interviews und Gruppendiskussionen wurden wörtlich transkribiert. Während und nach den teilnehmenden Beobachtungen wurden ausführliche Beobachtungsprotokolle erstellt. Alle Daten wurden gemäß Datenschutzvorgaben anonymisiert. Schließlich erfolgte die Kodierung und inhaltsanalytische Auswertung der Daten mit der Software MAXQDA 2020 nach Kuckartz (2018). Dabei wurden zum einen deduktiv Kategorien (Art, Entstehung, Verlauf, Folgen, Prävention, Deeskalation und Nachsorge) anhand der Forschungsfragen gebildet und zum andern ergänzende Kategorien induktiv aus dem Datenmaterial entwickelt (Wünsche und Haltungen). Bei den Videoaufnahmen wurden Sequenzen, die herausfordernde Verhaltensweisen oder potenziell herausfordernde Situationen enthielten, ausgewählt und mit der Videointeraktionsanalyse nach Knoblauch (2004) ausgewertet. Dieses Verfahren wertet Interaktionen verstehend aus, indem das Interaktionsgeschehen rekonstruiert wird. Die Videointeraktionsanalyse stützt sich auf die Konversationsanalyse und die Sequenzanalyse, um die Wirklichkeit der sequenziell aufeinander bezogenen Handlungen zu analysieren (Tuma, 2018). Bei der Auswertung im Rahmen der Ergebnistriangulation (Flick, 2011) wurden alle Daten unter Berücksichtigung der verschiedenen Systemebenen (Mikro-, Meso-, Exo-, Makrosysteme) auf förderliche und hinderliche Faktoren untersucht in Bezug auf die Entstehung von und/ oder den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen. Alle relevanten Faktoren wurden in 17 thematischen Clustern gebündelt. Diese wurden innerhalb des Forschungsteams validiert und schließlich auf einer höheren Abstraktionsebene neutral formuliert. Die so erzielten 17 thematischen Clus- VHN 1 | 2023 11 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG ter bilden das hier präsentierte Modell zur systemökologischen Situationsanalyse im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen. Damit konnte, wie von Epp (2018) gefordert, das ökosystemische Entwicklungsmodell nach Bronfenbrenner (1981) als theoretisches Betrachtungsraster für empirische Phänomene genutzt werden. Die verschiedenen Systemebenen wurden bei der Analyse der Daten berücksichtigt. Eine Validierung in zwei Workshops mit erfahrenen Theoretikern und Praktiker/ innen 1 führte zu leichten Überarbeitungen des Modells, das nachfolgend präsentiert wird. 3 Ergebnisse: Förderliche und hinderliche Faktoren für die Entstehung von herausfordernden Verhaltensweisen Als Ergebnis konnten 17 Cluster gebildet werden, die sich aus der Auswertung der erhobenen Daten ergeben haben. Abbildung 1 zeigt diese 17 Cluster und damit alle in den zugrunde liegenden empirischen Daten gefundenen und relevanten Faktoren in den Strukturen der Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosysteme nach Bronfenbrenner (1981). Jeder dieser Faktoren lässt sich in verschiedene Aspekte unterteilen. Die Faktoren wurden idealtypisch voneinander getrennt dargestellt, beeinflussen sich jedoch gegenseitig und können auch überlappende Aspekte beinhalten. 3.1 Mikrosystem Im Mikrosystem sind all jene „Faktoren gefasst, die einem Individuum und seinem Handeln durch ein anderes Individuum zugeschrieben werden, also bestimmte äußerliche Merkmale, Fähigkeiten usw.“ (Epp, 2018, o. S.). Dieser Faktor wird hier die „Fokussierte Person“ genannt. Dabei handelt es sich um die Person mit kognitiver Beeinträchtigung, die herausfordernde Verhaltensweisen zeigt. Unter dem Faktor „fokussierte Person“ werden Aspekte subsumiert wie die vorhandenen Kompetenzen und das subjektive Erleben und Wohlbefinden (inkl. biografische Ereignisse und physische sowie psychische Gesundheit) der fokussierten Person. Mit der Klärung dieser Aspekte ist jedoch erst der Einzelfaktor „Fokussierte Person“ im Mikrosystem berücksichtigt. Gemäß systemökologischem Ansatz gilt es auch die Faktoren der weiteren Systeme zu berücksichtigen und fundiert zu analysieren. SYSTEMEBENE RELEVANTE FAKTOREN Mikrosystem Fokussierte Person Mesosystem Angehörige Weitere Personen Begleitpersonen/ Team Mitbewohnende Agogisches Wissen Angebote Leitungspersonen Interdisziplinarität Intrainstitutionelle Zusammenarbeit Organisationskultur Exosystem Infrastruktur Organisationsstruktur Personalstruktur Makrosystem Gesellschaft Finanzen Politik Abb. 1: Relevante Faktoren für den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen geordnet nach Systemebenen gemäß Bronfenbrenner (1981) (eigene Darstellung) VHN 1 | 2023 12 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG 3.2 Mesosystem Im Mesosystem werden laut dem ökosystemischen Entwicklungsmodell nach Bronfenbrenner „Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist“ genannt (Epp, 2018, o. S.). Daher werden die Faktoren „Mitbewohnende“ (Gruppenzusammensetzung, -dynamik, Haltung), „Weitere Personen“ (wie Freund/ innen, Kolleg/ innen und deren Haltung, Beziehung zur fokussierten Person) und „Angehörige“ (Beziehung zur fokussierten Person, Haltung gegenüber der Institution und Kooperation mit Begleit- und Leitungspersonen) in den Blick genommen. Auch die „Begleitpersonen“, die als Bezugspersonen oder als Begleitperson im Team der Institution fungieren, in der die fokussierte Person lebt, werden auf dieser Ebene einbezogen. Begleitpersonen sind sowohl ausgebildete pädagogische Fachkräfte als auch Personen ohne spezifische Ausbildung. Dadurch können sich unterschiedliche Voraussetzungen für die nachfolgenden Aspekte ergeben, die sich auf erworbenes Wissen und Kompetenzen beziehen. Bei den Begleitpersonen haben sich in den Daten beispielsweise Aspekte, die zur professionellen Haltung gehören, wie die Bedürfnisorientierung, ein aufmerksamer Umgang (inkl. Wahrnehmung und Beobachtung der fokussierten Person) und die flexible, individuelle Begleitung der fokussierten Person, als relevant erwiesen. Auch die Kooperation mit Angehörigen und weiteren Personen gehört hierzu. Hinzu kommen professionelle Kompetenzen der Begleitpersonen wie ihre kommunikativen Kompetenzen, die Beziehungskompetenz und die Reflexionsfähigkeit, die auf ihrer fachspezifischen Ausbildung basieren. In Bezug auf herausfordernde Verhaltensweisen sind speziell Analyse- und Fallbearbeitungskompetenzen (insbesondere das Erkennen von Auslösern, Ursachen, aufrechterhaltenden Bedingungen und Funktionen von herausfordernden Verhaltensweisen) zu erwähnen. Zudem ist es wichtig, dass Begleitpersonen ein Setting gestalten können, das Sicherheit und Orientierung bietet. Auch sollten sie über Handlungssicherheit im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen verfügen (Präventionsmaßnahmen ergreifen, Deeskalationsstrategien kennen, bei Eskalationssituationen mit der fokussierten Person in Beziehung bleiben, bei Bedarf Begleitpersonenwechsel initiieren, Ablenken oder Alternativen anbieten können und Nachsorge betreiben). Auch auf der Ebene der Begleitpersonen ist die psychische Gesundheit relevant, so sind das Selbstwirksamkeitsempfinden und die psychische Belastbarkeit Aspekte, die ihren Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen beeinflussen. Ebenfalls auf der Ebene der Begleitpersonen sind die gemeinsame Haltung des Teams, der Austausch und die Koordination innerhalb des Teams sowie der damit verbundene Rückhalt und die Reflexion (auch im Rahmen von Supervision) enthalten. Beim Faktor der „Leitungspersonen“ sind Aspekte wie die Haltung gegenüber den fokussierten Personen und den Begleitpersonen zentral. Auch die Unterstützung der Begleitpersonen und deren Teams ist wesentlich, genau wie die Tatsache, dass eine Leitungsperson als Ansprechperson für alle gelten sollte. Weiter ist die Kooperation mit Angehörigen und weiteren Personen ein wichtiger Aspekt. Unter dem Faktor „Agogisches Wissen“ wird spezifisches Fach- und Methodenwissen verstanden, das im Rahmen einer Ausbildung erworben und durch Fach- und Fallberatungen sowie in Weiterbildungen ergänzt wird. Auch die Nutzung spezifischer Theorien und Methoden VHN 1 | 2023 13 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG (wie UK, TEACCH usw.) und die Unterstützung durch externe Fachpersonen wird hier zugeordnet. Demgegenüber sind im Faktor „Angebote“ individualisierte Angebote für die fokussierte Person gemeint. Diese umfassen präventive und deeskalierende Angebote ebenso wie Angebote zur Nachsorge (nach Eskalationen). Dabei kann es sich um adäquate Beschäftigungsangebote für Arbeit und Freizeit handeln, um musische (Therapie-)Angebote, körper- und bewegungsorientierte (therapeutische) Angebote und naturbezogene Angebote. Auch Angebote im Bereich der Sexualität fallen darunter (inklusive Konzepte, geeignete Räumlichkeiten usw.). Weiter gehören psychologische beziehungsweise psychotherapeutische sowie psychiatrische Angebote dazu. Ebenfalls im Mesosystem angesiedelt werden können die Faktoren „intrainstitutionelle Zusammenarbeit“, „Interdisziplinarität“ und „Organisationskultur“. Die „intrainstitutionelle Zusammenarbeit“ meint die Kooperation unter verschiedenen Fachpersonen (nicht nur im Team der Begleitpersonen, sondern auch mit Therapeut/ innen oder Arbeitsagog/ innen) innerhalb der Institution und die Verfügbarkeit von Austauschgefäßen und -zeiten. Hierbei geht es um die konkrete Zusammenarbeit der Personen im Alltag und wie diese gestaltet ist. Die „Interdisziplinarität“ beinhaltet die Zusammenarbeit von Fachpersonen aus unterschiedlichen Disziplinen inner- und außerhalb der Institution in Bezug auf spezifische Themen und Ziele. Zur „Organisationskultur“ gehören die Haltung der Begleitpersonen innerhalb der Institution, die Frage des Umgangs mit Prävention, Deeskalation und Nachsorge, die professionelle Dokumentation und fachliche Übergabe ebenso wie die Lernkultur und die Nutzung von Fach- und Methodenwissen innerhalb der Institution. 3.3 Exosystem Das Exosystem umfasst Beziehungsgeflechte, zu denen die fokussierte Person nicht gehört, in die sie also nicht direkt involviert ist, die aber mittelbar (als formelle und informelle soziale Strukturen) auch einen Einfluss auf sie haben (Epp, 2018). Dies umfasst die Faktoren „Personal- und Organisationsstruktur“ sowie die „Infrastruktur“. Aspekte der „Personalstruktur“ sind Personalmangel, Personalfluktuation, Qualifikation des Personals, Betreuungsschlüssel sowie Schutz und Gesundheitsprävention des Personals. Zur „Organisationsstruktur“ gehören die Arbeitsplanung, die Regelung von Abläufen und Zuständigkeiten, zeitliche Ressourcen, die Flexibilität der Strukturen, die Einarbeitung neuer Mitarbeitender, das Bestehen eines Konzepts zum Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen, die Existenz einer Meldestelle sowie von allfälligen Sonderplätzen. Die „Infrastruktur“ beinhaltet die Wohngruppengröße ebenso wie die Räumlichkeiten (Eignung, Größe, Anpassung an Bedürfnisse der fokussierten Personen), das Vorhandensein von Rückzugsoptionen und eines Gartens sowie von Außenräumen. 3.4 Makrosystem Das Makrosystem ist übergeordnet, richtet sich „nicht auf spezifische Kontexte, die das Leben des oder der Einzelnen betreffen, sondern auf übergeordnete institutionelle Muster, Strukturen und Aktivitäten, (…) kann als übergreifender Bezugsrahmen aufgefasst werden“ (Epp, 2018, o. S.). Die Faktoren, die dem Makrosystem zugeordnet werden können, sind „Gesellschaft“, „Politik“ und „Finanzen“. Zu „Gesellschaft“ gehören Aspekte wie ein allgemeines Verständnis für die Situation und die besonderen Bedürfnisse der fokussierten Personen beziehungsweise die Sensibilisierung VHN 1 | 2023 14 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG dafür, aber auch die Fragen ihrer Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten. „Politik“ beinhaltet Aspekte wie die Anerkennung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen und spezifischen Bedarfen und damit verbunden auch ihre Unterstützung durch politische Entscheide beziehungsweise durch Behörden. Unter dem Faktor „Finanzen“ werden sämtliche finanziellen Aspekte subsumiert, die relevant sind für die Ausgestaltung und Aufrechterhaltung der Rahmenbedingungen, innerhalb derer Angebote für fokussierte Personen erstellt werden. 3.5 Fazit Die 17 relevanten Faktoren, die für den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen zentral sind, können auf der Mikro-, Meso-, Exo- und Makroebene angesiedelt werden. Dies widerspiegelt die Tatsache, dass herausfordernde Verhaltensweisen multifaktoriell bedingt sind. Die Faktoren wurden wie erwähnt idealtypisch voneinander getrennt dargestellt, beeinflussen sich jedoch gegenseitig und können nicht ausschließlich unabhängig voneinander betrachtet werden. Vielmehr sind sie in ihrer Gesamtheit relevant, um die Entstehung und den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen zu verstehen. 4 Modell zur systemökologischen Situationsanalyse Abbildung 2 zeigt das Modell zur systemökologischen Situationsanalyse. Es bietet eine Übersicht über Faktoren, die im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen wichtig sind: Im Zentrum des Modells stehen die herausfordernden Verhaltensweisen (abgekürzt mit HEVE). Die Kreise, die dieses Zentrum umgeben, enthalten die 17 oben genannten relevanten Faktoren, die aus den erhobenen empirischen Daten abgeleitet wurden und die Entstehung und den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen beeinflussen. Von innen nach außen gelesen, finden sich im ersten Kreis das „agogische Wissen“ und die Unterstützung durch individualisierte und bedürfnisorientierte „Angebote“. Im zweiten Kreis werden alle beteiligten Personen genannt: Zunächst die „fokussierte Person“, ein Mensch mit kognitiven Beeinträchtigungen, der herausfordernde Verhaltensweisen zeigt, dessen „Angehörige“ (Partner/ innen und Herkunftsfamilie), die „Mitbewohnenden“, „weitere Personen“ wie Freund/ innen oder Bekannte, die „Leitungspersonen“ der Institution und „Begleitpersonen“ bzw. das „Team“. Schließlich folgen im dritten Kreis die „Organisationskultur“, die „Interdisziplinarität“ sowie die „intrainstitutionelle Zusammenarbeit“. Im Anschluss folgen (im vierten Kreis) „Organisationsstruktur“, „Personalstruktur“ und „Infrastruktur“, bevor schließlich im äußersten Kreis die Faktoren „Finanzen“, „Politik“ und „Gesellschaft“ verortet sind. Jeder Faktor beinhaltet wie bereits oben aufgezeigt mehrere Aspekte. Für Begleitpersonen besteht die Möglichkeit, das Modell als Reflexions- oder Analyseinstrument zu nutzen, beispielsweise zur Analyse eines Einzelfalls, um ein besseres Verständnis für die Entstehung der herausfordernden Verhaltensweisen beziehungsweise Situationen zu gewinnen, aber auch um Ansatzpunkte für Hypothesen für das herausfordernde Verhalten zu eruieren, die für künftige Interventionen leitend sind. Dies bedingt jedoch, dass die jeweils unter den Faktoren subsumierten Aspekte einzeln analysiert und gewichtet werden müssen. Dies könnte mithilfe einer (noch zu entwickelnden) Checkliste gelingen, die ausformulierte Fragen zu den einzelnen Aspekten auflistet. Mit der Beantwortung dieser Fragen kann in der Folge im Rahmen einer dialogischen Aushandlung die Gewichtung jedes Fak- VHN 1 | 2023 15 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG tors als insgesamt (eher) förderlich oder (eher) hinderlich vorgenommen werden, wie dies exemplarisch in Abbildung 3 dargestellt ist. Die Abbildung 3 zeigt das an einem Einzelfall als Analyseinstrument genutzte Modell. Entlang der 17 Faktoren, die empiriebasiert für herausfordernde Verhaltensweisen als relevant befunden wurden, wurden im Rahmen einer Analyse förderliche und hinderliche Aspekte herausgearbeitet. Als Fazit wurden in der Folge alle für den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen (mehrheitlich) förderlichen Faktoren ausgefüllt (und damit stärker) abgebildet, während alle für den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen hinderlichen Faktoren punktiert (und damit schwächer) dargestellt wurden. Abbildung 3 wird folgendermaßen gelesen: Es wird deutlich, dass in Bezug auf die herausfordernden Verhaltensweisen der fokussierten Person eher förderliches agogisches Wissen und individuelle, bedürfnisorientierte Angebote bestehen. Auch die Beziehungen zwischen fokus- Intrainstitutionelle Zusam menarbeit Infrastruktur Finanzen Begleitpersonen Team Lei tungspersonen Weitere Perso nen Mitbewohnende Ges ellschaft Perso nalstruktur Interdis ziplinarität Agogisches Wissen Organisationskultur Organisationsstruktur Politik Fok ussierte Person Angehör ige Angebote HEVE Abb. 2: Modell zur systemökologischen Situationsanalyse (eigene Darstellung) VHN 1 | 2023 16 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG sierter Person, ihren Begleitpersonen, Mitbewohnenden und Leitungspersonen sind positiv zu werten. Hingegen scheint es auf der Ebene der fokussierten Person, auf der Ebene ihrer Angehörigen und in Bezug auf weitere Personen aus dem Umfeld der Person (mehrheitlich) hinderliche Aspekte zu geben. Während die Interdisziplinarität sich förderlich auswirkt, zeigen sich in diesem Fallbeispiel bei der intrainstitutionellen Zusammenarbeit und im Bereich der Organisationskultur (eher) hinderliche Aspekte. Auch die Personalstruktur sowie die Politik wirken in diesem Fallbeispiel mehrheitlich hinderlich auf den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen ein. Demgegenüber beeinflussen die Infrastruktur, die Organisationsstruktur, die Finanzen und die Gesellschaft den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen in diesem Fall (eher) positiv. Angewandt auf einen Einzelfall vermag das präsentierte Modell somit aufzuzeigen, welche Faktoren (eher) förderlich und welche (eher) hinderlich sind. förderl. Faktoren hinderl. Faktoren förderl. Faktoren hinderl. Faktoren Intrainstitutionelle Zusam menarbeit Infrastruktur Finanzen Begleitpersonen Team Lei tungspersonen Weitere Perso nen Mitbewohnende Ges ellschaft Perso nalstruktur Interdis ziplinarität Agogisches Wissen Organisationskultur Organisationsstruktur Politik Fok ussierte Person Angehör ige Angebote HEVE Abb. 3: Modell zur systemökologischen Situationsanalyse angewandt auf einen Einzelfall (mit Gewichtung der Faktoren) (eigene Darstellung) VHN 1 | 2023 17 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG 5 Diskussion Das vorgestellte Modell zur systemökologischen Situationsanalyse ist empirisch hergeleitet, jedoch bisher noch nicht überprüft worden und entsprechend nicht als endgültig zu verstehen. Ein Desiderat wäre, das Modell an konkreten Fällen zu evaluieren. Vorderhand soll auf die bestehende Literatur zurückgegriffen werden, um die Bedeutung der verschiedenen im Modell erläuterten Faktoren einzuschätzen. Auf der Mikroebene, in der es um die „fokussierte Person“ geht, bestätigen Simons et al. (2021) die Wichtigkeit, dass fokussierte Personen ihre Emotionen gegenüber den Begleitpersonen ausdrücken können und Unterstützung bei deren Regulierung erhalten. Auf der Ebene des Mesosystems wurden die Beziehungen der fokussierten Person zu ihren „Angehörigen“ und die Kooperation zwischen Angehörigen und „Begleitpersonen“ als wichtige Faktoren erkannt. Dies wird von Simons et al. (2021) wie auch von Olivier-Pijpers, Cramm und Nieboer (2020 a) bestätigt, wobei Letztere darauf verweisen, dass Angehörige nicht selten in einer bestimmten Abhängigkeit zu den Begleitpersonen stehen. Ebenfalls auf der Mesoebene werden zahlreiche Aspekte des Faktors „Begleitpersonen“ und „Team“ in der Literatur bestätigt, so die Bedeutung, die fokussierte Person als Ganzes zu sehen (nicht allein als Schwierigkeiten verursachende Person), und die Wichtigkeit starker Beziehungen zwischen fokussierten Personen und Begleitpersonen (Banks, Fielden, O’Sullivan & Ingham, 2021; Olivier-Pijpers et al., 2020 a; Russel, 2019). Durch eine positive Beziehung fühlen sich fokussierte Personen zugehörig und geschätzt, und dies reduziert Einsamkeitsgefühle und Isolation und folglich auch herausfordernde Verhaltensweisen (Olivier-Pijpers et al., 2020 a). Gute Beziehungen zeichnen sich auch aus durch klare, explizite Grenzen und adäquate Reaktionen auf emotionale Signale und Bedürfnisse (Simons et al., 2021). Auch die Relevanz des „Teams“ und der Teamarbeit unter Begleitpersonen wird in der Literatur hervorgehoben: Olivier-Pijpers et al. (2020 b) bezeichnen ein positives Arbeitsklima und die Priorisierung von klaren Zielen und Aufgaben in Teams als zentral für die Prävention von Stress bei fokussierten Personen und für die Erhöhung der organisationalen Effizienz bei ihrer Unterstützung. Sie betonen auch die Wichtigkeit eines Machtgleichgewichts und eines guten Netzwerks unter den Begleitpersonen für eine Reduktion von herausfordernden Verhaltensweisen und gehen davon aus, dass unangemessene Arbeitsbeziehungen im Team die Interaktionen von Begleitpersonen mit fokussierten Personen negativ beeinflussen und herausforderndes Verhalten fördern können (Olivier-Pijpers et al., 2020 b). Auch Simons et al. (2021) heben hervor, dass eine gemeinsame Teamvision, die Reflexion des eigenen Handelns und eine offene Teamkultur mit geteilten Verantwortlichkeiten und (bei Bedarf) dem Beizug von Expertenhilfe für ein Team zentral seien. Den Faktor „Leitungspersonen“ bestätigen Olivier-Pijpers et al. (2020 a) als wesentlich und nennen deren Bedeutung für die Qualität der Unterstützung und für das Coaching von Begleitpersonen und Teams. Auch Beadle-Brown (2021) betont die Bedeutung des Coachings durch Leitungspersonen und erachtet es generell als zentral, dass Leitungspersonen nah an der Begleitpersonenarbeit sind und Feedback bieten. Für McGill, Bradshaw, Smyth, Hurman und Roy (2020) ist es eine grundlegende Aufgabe der Leitungspersonen, die Begleitpersonen zu coachen und administrative sowie organisationale Aspekte zu optimieren. Sie erachten VHN 1 | 2023 18 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG es als wichtig, ein Informationssystem zu entwickeln, das Wissen zur Leistung der Begleitpersonen und zu den Ergebnissen seitens der fokussierten Personen generiert, um letztlich ein adäquates (fähiges) Umfeld für Letztere zu schaffen (‘Capable Environments’) (McGill et al., 2020). Die „Organisationskultur“ wird ebenfalls als bedeutsamer Faktor erwähnt; so verweisen Simons et al. (2021) darauf, dass sie die Begleitpersonen befähigt, sich in bedeutungsvollen Interaktionen mit den fokussierten Personen zu engagieren. Zudem erleichtert sie die Konzentration auf das Wohlbefinden von Begleitpersonen wie auch von fokussierten Personen generell (Simons et al., 2021). Dazu gehört die Erweiterung von Kompetenzen der Begleitpersonen (enhancing staff competence). Olivier- Pijpers et al. (2020 a) erwähnen die Wichtigkeit der Sensibilität von Begleitpersonen und die Bedeutung des Setzens von klaren Grenzen, ohne freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu verwenden. Sie verweisen auf den Bedarf an konstantem Training für Begleitpersonen, um stets individualisierte Unterstützung zu bieten (Olivier-Pijpers et al., 2020 b, und in Bezug auf ‘Active Support’ auch Beadle-Brown, 2021). Simons et al. (2021) erachten Videorückmeldungen als sinnvoll, da sie Begleitpersonen bei ihrer Ausrichtung auf die Bedürfnisse der fokussierten Personen unterstützen. Bigby und Beadle-Brown (2016) konkretisieren, dass eine Organisationskultur, die kohärent, fördernd (enabling), motivierend und respektvoll ist, die Institution auf positive Weise prägt. Auf der Ebene des Exosystems wird unter dem Faktor „Infrastruktur“ auf die Schaffung eines für die fokussierte Person freundlichen Umfelds verwiesen (Olivier-Pijpers et al., 2020 a), wobei auch die Wohngruppengröße als wichtig bezeichnet wird, da kleine Wohngruppen Interaktionen eher erleichtern (Simons et al., 2021). Beim Faktor „Personalstruktur“ werden besonders eine hohe Personalfluktuation (Simons et al., 2021, und Olivier-Pijpers et al., 2020 b) und knappe Ressourcen (Olivier-Pijpers et al., 2020 b) als problematisch bezeichnet. Zudem weisen Paris et al. (2021) darauf hin, dass unter Begleitpersonen von Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen eine hohe Prävalenz von psychologischem Stress und Burnout besteht. Sie plädieren daher für psychologische Interventionen auf verschiedenen Ebenen, um Gesundheitsprävention zu betreiben und deren Schutz zu gewährleisten (Paris et al., 2021). Auf der Ebene des Makrosystems finden sich in der Literatur Hinweise auf die Bedeutung des Faktors der „Finanzen“. So werden eine problematische Priorisierung von Effizienz, Budgetreduktionen und der Bedarf an Zusatzfinanzierung für qualitativ hochstehende Unterstützung erwähnt (Olivier-Pijpers et al., 2020 a und 2020 b). Vorderhand kann das hier vorgestellte Modell zur Reflexion des Umgangs mit herausfordernden Verhaltensweisen dienen. So lässt es sich beispielsweise bei komplexen Einzelfällen einsetzen als Denkmodell für die Reflexion unter Fachpersonen (Fallbesprechungen oder Intervisionen innerhalb einer Institution). Es kann intradisziplinär ebenso genutzt werden wie interdisziplinär oder im Rahmen einer Supervision. Letztlich soll der Einsatz des Modells dazu dienen, die Qualität des Umgangs mit herausfordernden Verhaltensweisen zu verbessern, weil es eine systematische Reflexion aller relevanten Faktoren auf verschiedenen Systemebenen ermöglicht. Das Modell verdeutlicht, dass herausfordernde Situationen immer systemisch und damit multifaktoriell bedingt sind und entsprechend ausschließlich in Kooperation und gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen angegangen werden sollten. Die intra- und interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die Koordination dieser Kooperationen sind zentral. VHN 1 | 2023 19 EVA BÜSCHI, STEFANIA CALABRESE, NADJA MORAMANA, NATALIE ZAMBRINO Systemökologische Situationsanalyse bei herausforderndem Verhalten FACH B E ITR AG 6 Ausblick Das oben dargestellte Modell ist ein erstes, empirisch fundiertes Modell. Es stellt den aktuellen Stand einer Entwicklung dar und wird laufend weiterentwickelt. Es fokussiert Faktoren, die empirisch gestützt sind, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Idealerweise wird es künftig ergänzt, adaptiert und löst Diskussionen aus, die nutzbringend sind, um die Passung zwischen Individuum und Umwelt zu optimieren beziehungsweise stets aufs Neue kritisch zu hinterfragen. Im Rahmen von Weiterbildungen wird es derzeit bereits zur Erläuterung und Vermittlung des systemökologischen Verständnisses von herausfordernden Verhaltensweisen verwendet. Es verdeutlicht, weshalb es beim Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen einer breit abgestützten Intervention bedarf, die neben der Fokussierung auf das Individuum auch die involvierten Begleitpersonen, die Angehörigen, die Mitbewohnenden und Leitungspersonen sowie die Rahmen- und Umweltbedingungen in den Blick nimmt. Ziel dieser Bestrebungen ist es, für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die herausfordernde Verhaltensweisen zeigen und in Institutionen leben, adäquate, bedürfnisorientierte Settings zu gestalten, in denen eine optimale Passung zwischen Individuum und Umwelt erfolgt. Ein Modell zur systemökologischen Situationsanalyse kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Passung zu optimieren und den Blick auf die komplexe Situation als Ganzes (und damit auf das Individuum in seinem Umfeld) zu richten. Anmerkung 1 Herzlicher Dank für die konstruktive Mitarbeit gebührt Prof. Dr. Eberhard Grüning (Europa-Universität Flensburg), Samuel Häberli (INSOS), Babette Mumenthaler (igs Bern), Simone Rychard (insieme) und Prof. Dr. Ernst Wüllenweber (ifbfb). Literatur Banks, F., Fielden, A., O’Sullivan, D. & Ingham, B. (2021). The informal culture of a direct care staff team supporting people with intellectual disabilities who present with behaviours that challenge. Tizard Learning Disability Review, 26 (3), 160 -168. https: / / doi.org/ 10.1108/ TLDR- 01-2021-0001 Beadle-Brown, J. (2021). The informal culture of a direct care staff team supporting people with intellectual disabilities who present with behaviours that challenge: commentary. 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Anschrift der Autorinnen Prof. Dr. Eva Büschi Nadja Moramana, MA Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Riggenbachstr. 16 CH-4600 Olten E-Mail: eva.bueschi@fhnw.ch nadja.moramana@fhnw.ch Prof. Dr. Stefania Calabrese Dr. Natalie Zambrino Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Werftestr. 1 Postfach 2945 CH-6002 Luzern E-Mail: stefania.calabrese@hslu.ch natalie.zambrino@hslu.ch