eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 92/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2023.art06d
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2023
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Aktuelle Forschungsprojekte: Standards zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe (Projekt „StaFF“)

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2023
Wolfgang Dworschak
Ann-Kathrin Hennes
Dennis Hövel
Alfred Schabmann
Barbara Maria Schmidt
Prisca Stenneken
Ein sonderpädagogischer Förderbedarf bzw. sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf stellt, ungeachtet der berechtigten Kritik im Kontext von Kategorisierungs- und Etikettierungsprozessen, als schulrechtliche Kategorie bis heute in den meisten Bundesländern und Förderschwerpunkten die formale Grundlage zum Erhalt sonderpädagogischer Förderung bzw. Unterstützung dar („Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“).
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VHN 1 | 2023 62 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Standards zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe (Projekt ‚StaFF‘) Wolfgang Dworschak 1 , Ann-Kathrin Hennes 2 , Dennis Hövel 3 , Alfred Schabmann 2 , Barbara Maria Schmidt 2 , Prisca Stenneken 2 1 Universität Regensburg 2 Universität zu Köln 3 Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Ein sonderpädagogischer Förderbedarf bzw. sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf stellt, ungeachtet der berechtigten Kritik im Kontext von Kategorisierungs- und Etikettierungsprozessen, als schulrechtliche Kategorie bis heute in den meisten Bundesländern und Förderschwerpunkten die formale Grundlage zum Erhalt sonderpädagogischer Förderung bzw. Unterstützung dar (‚Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma‘). In diesem Zusammenhang sind seit Jahren steigende Förderquoten bzw. Förderrelationen in allen Förderschwerpunkten bzw. sonderpädagogischen Schwerpunkten zu beobachten. So hat sich in einigen Förderschwerpunkten, so zum Beispiel im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, die Förderquote in Deutschland in den letzten 20 Jahren verdoppelt, im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung sogar verfünffacht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich sonderpädagogischer Förderbedarf definiert und ob sich hinsichtlich der Definition und der Kriterien zur Feststellung in den letzten 20 Jahren Veränderungen ergeben haben. Zudem zeigen sich regionale Unterschiede im Hinblick auf die Höhe der Förderquoten sowohl zwischen den Bundesländern als auch innerhalb der Bundesländer. Daher kann vermutet werden, dass regional unterschiedliche Kriterien zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs herangezogen werden. Hierzu ist die Quellenlage sowohl in der bildungspolitischen als auch in der wissenschaftlichen Literatur bislang unzureichend. Zudem geben die Schulgesetze zumeist nur einen groben Rahmen im Hinblick auf den Feststellungsprozess vor; weiterführende und konkretisierende Literatur und Empfehlungen finden sich kaum. Diese Ausgangssituation hat das Bildungsministerium Schleswig-Holstein dazu bewogen, das Forschungsprojekt ‚StaFF‘ - Standards zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs - zu fördern. Das Vorhaben ist ein Verbundprojekt der Universität zu Köln, der Universität Regensburg und der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) Zürich unter der Gesamtleitung des Lehrstuhls für Pädagogik und Didaktik im Förderschwerpunkt Lernen (Dr. Hennes, Dr. Schmidt und Prof. Dr. Schabmann) der Universität zu Köln. Das Projekt StaFF intendiert die Erarbeitung, Implementation und Evaluation valider Kriterien und standardisierter Vorgehensweisen zur objektiven und differenzierten Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe im Land Schleswig-Holstein. Dabei liegt der Fokus nicht allein auf dem Prozess der Feststellungsdiagnostik, vielmehr werden auch Aspekte der Förderdiagnostik und der regelmäßigen Überprüfung der zugeschriebenen sonderpädagogischen Förderbedarfe bzw. Schwerpunkte in den Blick genommen. Neben dem Förderschwerpunkt Lernen (Universität zu Köln) werden die Förderschwerpunkte emotionale und soziale Entwicklung (HfH Zürich), geistige Entwicklung (Universität Regensburg) und Sprache (Universität zu Köln) berücksichtigt. In der Umsetzung arbeiten die jeweiligen Projektgruppen mit Vertreter/ innen des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein (IQSH) sowie mit praktisch tätigen Diagnostiker/ innen zusammen. In der ersten Projektphase steht die Entwicklung eines möglichst validen und standardisierten Vorgehens zur Feststellung der sonderpädagogischen Förderbedarfe (Standards) in den Förderschwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, Lernen und Sprache im Mittelpunkt. Grundlage hierfür stellt die Beschreibung der Personengruppe entlang wohl definierter Kriterien auf Basis des wissenschaftlichen Kenntnisstandes dar. Dabei werden die Personengruppen bzw. Förderschwerpunkte möglichst klar voneinander abgegrenzt bzw. Interdependenzen aufgezeigt. Im Zentrum der Standards stehen Richtlinien und Entscheidungsstrukturen zur Planung, Durchführung und Reflexion des diagnostischen Prozesses entlang konkreter diagnostischer Fragestellungen. Zudem werden über eine VHN 1 | 2023 63 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE differenzierte Förderdiagnostik konkrete und individuelle Maßnahmen für den Förderplan erarbeitet. In der zweiten Projektphase werden die entwickelten Vorgehensweisen in der diagnostischen Praxis in Schleswig-Holstein implementiert. Hierfür werden die praktisch tätigen Diagnostiker/ innen zunächst im Umgang mit den Standards geschult. Neben Sonderpädagog/ innen an Förderzentren übernehmen zukünftig auch Sonderpädagog/ innen an einem so genannten Diagnostikzentrum die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Anschließend wird der Einsatz im Feld engmaschig begleitet. Entlang der Erfahrungen und Rückmeldungen aus der Praxis werden die Standards formativ evaluiert und überarbeitet. In der dritten Projektphase steht die summative Evaluation im Mittelpunkt. Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Diagnostikzentrum einen Gewinn für die Durchführung des Feststellungsverfahrens darstellt. Förderung: Ministerium für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein Laufzeit: November 2021 bis Dezember 2024 Kontakt: Dr. Ann-Kathrin Hennes, Universität zu Köln, E-Mail: ann-kathrin.hennes@uni-koeln.de https: / / osf.io/ 8gp5k/ DOI 10.2378/ vhn2023.art06d Pilotstudie zur Förderung der Benennungsgeschwindigkeit bei leseschwachen Grundschülern durch ein adaptives, softwaregestütztes Training Joana Wolfsperger, Franziska Diel, Katrin Geiss, Andreas Mayer LMU München Theoretische Einbettung der Pilotstudie Zahlreiche Studien konnten belegen, dass sich lese-rechtschreibschwache Kinder als Gruppe betrachtet durch ein Defizit in der Benennungsgeschwindigkeit (Rapid Automatized Naming: RAN) charakterisieren lassen (Mayer, 2021) und die Benennungsgeschwindigkeit orthografieübergreifend einen stabilen Prädiktor für die Leseleistung von Kindern, insbesondere die direkte Worterkennung darstellt (Landerl et al., 2019). Dabei „[meint] die Benennungsgeschwindigkeit (…) die Fähigkeit, eine Abfolge gleichzeitig sichtbarer vertrauter Bilder oder Symbole (z. B. Buchstaben, Zahlen) möglichst schnell visuell zu verarbeiten und zu identifizieren, die entsprechenden verbalen Repräsentationen im mentalen Lexikon zu aktivieren, einen artikulatorisch-motorischen Plan zu entwerfen und das entsprechende Wort (oder den entsprechenden Laut) schließlich zu artikulieren“ (Mayer, 2021, S. 99). Da bei Kindern mit Defiziten im Bereich der Benennungsgeschwindigkeit von langfristigen Schwierigkeiten in der Entwicklung von Lese-Rechtschreibfähigkeiten auszugehen ist (Mayer, 2021), empfiehlt sich ein frühzeitiges und wirksames Training der Benennungsgeschwindigkeit. Ziel eines solchen Trainings der Benennungsgeschwindigkeit sollte es sein, die Schnellbenennung von vertrauten Symbolen zu trainieren. Bei Kindern im Grundschulalter bedeutet das konkret, dass insbesondere eine schnellere visuelle Identifikation und Verarbeitung einzelner Buchstaben sowie der automatisierte Zugriff auf die entsprechenden verbalen Repräsentationen notwendig ist, um häufig vorkommende Buchstabenfolgen als wiederkehrende orthografische Muster zu erkennen, abzuspeichern und für die direkte Worterkennung zu nutzen (Bowers & Newby-Clark, 2002). International liegen bislang jedoch nur sehr wenige Studien vor, die die Effektivität eines Trainings der Benennungsgeschwindigkeit evaluiert haben. Berglez (2002) versuchte die Benennungsgeschwindigkeit von Vorschulkindern zu verbessern, indem Farben und vertraute Objekte, hochfrequent, möglichst schnell benannt werden sollten. Dass sich die Benennungsgeschwindigkeit aller untersuchten Kinder im Zeitraum eines halben Jahres verbesserte, sich aber keine Unterschiede zwischen trainierten und nicht trainierten Gruppen zeigten, kann als Beleg dafür gewertet werden, dass die Verbesserung nicht auf das Training, sondern eher auf reifungsbedingte Entwicklungsfortschritte zurückgeführt werden kann. Zu einem vergleichbaren Fazit kommen Jong und Vrielink (2004), denen es nicht gelang, die Schnellbenennung von Buchstaben in einer Gruppe niederländi-