eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 92/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2023.art11d
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2023
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Das Provokative Essay: Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt - Nehmen wir diejenigen mit, über die wir sprechen?

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2023
Markus Wolf
Christine Fränkle
Die Heilpädagogik scheint zunehmend in einen Zwiespalt zu geraten: auf der einen Seite die akademische Ausbildung mit Systemanalysen und Diskursen, z.B. über Inklusion und Teilhabe, auf der anderen Seite ein Arbeitsfeld, auf das sich angehende Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, in Bezug auf die vielfältigen „menschlichen“ Herausforderungen, wenig vorbereitet wissen. Will die Heilpädagogik als Handlungswissenschaft verstanden werden, was sie unseres Erachtens muss, dann geht es immer um die im phänomenologischen Sinne subjektiv erfahrene Handlungswirklichkeit des Menschen. In Selbstkritik müssen sich die Heilpädagogik als Profession und Fachkräfte der Praxis stets fragen: Geht es in einer heilpädagogisch ethischen Arbeit und damit Verantwortung um meine Zielperspektiven oder geht es um die einzelne Person und ihre subjektiven Perspektiven? Im Erstgenannten läuft die Heilpädagogik Gefahr, diejenigen „zu verlieren“, die Inhalte der wissenschaftlichen Diskurse sind - Menschen als Subjekte.
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85 VHN, 92. Jg., S. 85 -91 (2023) DOI 10.2378/ vhn2023.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt - Nehmen wir diejenigen mit, über die wir sprechen? Ein Plädoyer für die Heilpädagogik als Praxis und Handlungswissenschaft Markus Wolf Ludwig-Maximilians-Universität München Christine Fränkle Pädagogischer Fachdienst für Kooperation und Integration, Neuenbürg Zusammenfassung: Die Heilpädagogik scheint zunehmend in einen Zwiespalt zu geraten: auf der einen Seite die akademische Ausbildung mit Systemanalysen und Diskursen, z. B. über Inklusion und Teilhabe, auf der anderen Seite ein Arbeitsfeld, auf das sich angehende Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, in Bezug auf die vielfältigen „menschlichen“ Herausforderungen, wenig vorbereitet wissen. Will die Heilpädagogik als Handlungswissenschaft verstanden werden, was sie unseres Erachtens muss, dann geht es immer um die im phänomenologischen Sinne subjektiv erfahrene Handlungswirklichkeit des Menschen. In Selbstkritik müssen sich die Heilpädagogik als Profession und Fachkräfte der Praxis stets fragen: Geht es in einer heilpädagogisch ethischen Arbeit und damit Verantwortung um meine Zielperspektiven oder geht es um die einzelne Person und ihre subjektiven Perspektiven? Im Erstgenannten läuft die Heilpädagogik Gefahr, diejenigen „zu verlieren“, die Inhalte der wissenschaftlichen Diskurse sind - Menschen als Subjekte. Schlüsselbegriffe: Heilpädagogik, Handlungswissenschaft, Verantwortung, Subjekt, heilpädagogische Haltung Special Education and the Question of the Subject - Do We Take Those We Talk About with Us? A Plea for Inclusive Education as Practice and Action Science Summary: Special education seems to be increasingly caught in a dichotomy: on the one side, academic education with system analyzes and discourses, e. g. about inclusion and participation, on the other side, a field of work for which future special educators are not well prepared in terms of the diverse “human” challenges. If special education is to be understood as an action science, which we believe it must be, then it is always about the subjectively experienced human action reality in the phenomenological sense. In selfcriticism, special education as a profession and specialists in practice must always ask themselves: Is ethical work in special education and thus responsibility about my target perspectives or is it about the individual person and their subjective perspectives? In the first mentioned, special education runs the risk of “losing” those who are the contents of scientific discourses - people as subjects. Keywords: Special education, action science, responsibility, subject, educational attitude DAS PROVOK ATIVE ESSAY VHN 2 | 2023 86 MARKUS WOLF, CHRISTINE FRÄNKLE Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt DAS PROVOK ATIVE ESSAY „Das Geheimnis der Welt ist nicht hinter den Objekten, sondern hinter den Subjekten zu suchen.“ Jakob Johann von Uexküll Der wunde Punkt Auf die Frage an Studierende der Heilpädagogik: „Was beinhaltet für Sie heilpädagogisches Arbeiten? “, wurden wiederholend Beziehungsgestaltung, Dialog, Unterstützung, Assistenz, Menschlichkeit, Behinderung, individuelles Arbeiten, Förderung, systemisches Denken, Wertschätzung, Kongruenz, Ganzheitlichkeit, Ressourcen- und Kompetenzorientierung, Selbstreflexion, Kreativität oder Phantasie genannt. Und auch: die Erfahrung persönlicher Grenzen, strukturelle Abhängigkeiten, Geduld, Verweigerung oder mangelnde Distanz. In unterschiedlicher Gewichtung und Ausprägung sind diese Aspekte vielen vertraut, die im heilpädagogischen Feld arbeiten. Heilpädagogische Handlungskonzepte bieten dabei eine Art Werkzeugkoffer für das pädagogische Handeln innerhalb eines Spannungsfeldes zwischen der Verantwortung für einen anderen Menschen einerseits und dem Respekt gegenüber seiner persönlichen Freiheit und damit seinem Subjekt-Sein andererseits. Heimlich (2004, S. 258) formuliert: „Die Theoriemodelle einer modernen Heilpädagogik erhalten deshalb den Charakter von ‚Werkzeugen‘. […] Diese Theoriemodelle haben also keinen Zweck in sich selbst, sondern nur bezogen auf ihren jeweils begrenzten Gebrauch bzw. Erklärungswert.“ Und weiter: „Heilpädagogische Kompetenz ist stets Handlungs- und Reflexionskompetenz“ (ebd.). Diese Kompetenzen blieben einer rein funktionalen Ebene verhaftet und stünden somit einer heilpädagogisch orientierten Grundhaltung entgegen, wenn vergessen würde, dass der heilpädagogische Fokus in besonderem Maße darauf gerichtet sein muss, stets diejenigen im Auge zu behalten, um die es geht - mein Gegenüber, einen Menschen in seiner besonderen Situation. Wenn Wilhelm von Humboldt das menschliche Sein in der Welt als „dialektisches Wechselwirkungsverhältnis“ sieht, „das sich subjekttheoretisch in dem Verhältnis von Denken und Handeln, Entwurf und Reflexion ausdrückt“ (v. Humboldt, zit. nach Funke, 2000, S. 22), dann ist zu fragen, welche Chancen Menschen mit Behinderung haben, um ihre Handlungsfreiheit in den sie tangierenden und prägenden Systemen zu entwickeln und gegebenenfalls behaupten zu können? Menschen mit Unterstützungsbedarf brauchen dazu reflektiert und subjektbezogen Handelnde, die sich dessen bewusst sind und Vertrauen in die Selbstbildungskräfte der Person aufbringen. Dabei geht es um eine pädagogische Passivität, die sich durch Beobachtung und Wahrnehmung auszeichnet und sich in diesem Sinne wiederum als zugleich pädagogische Aktivität qualifiziert und so Selbstentfaltung ermöglicht und eigene Zielvorstellungen nicht auf ihr Gegenüber projiziert. Wir sprechen von professioneller Rezeptivität. Als beide im heilpädagogischen Praxisfeld, in der wissenschaftlichen Forschung und Lehre der Heil- und Sonderpädagogik Tätige erleben wir im Austausch mit Studierenden und Fachkräften der heilpädagogischen Praxis zunehmend ein Spannungsfeld - einen ‚wunden Punkt‘, wie wir ihn nennen wollen. Daraus ergibt sich für uns die Frage: Verliert die Heilpädagogik das Subjekt aus den Augen? Bzw.: Nehmen wir diejenigen mit, über die wir im wissenschaftlichen Diskurs sprechen? Waren es innerhalb der heilpädagogisch akademischen Ausbildung Leitgedanken und Ansätze wie Ganzheitlichkeit, heilpädagogischdialogische Haltung, Ressourcenorientierung, klientenzentrierte Beratung, Entwicklungsförderung oder Assistenz, an denen wir unser Handeln orientierten, sind es heute vermehrt VHN 2 | 2023 87 MARKUS WOLF, CHRISTINE FRÄNKLE Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt DAS PROVOK ATIVE ESSAY Diskurse über Inklusion, Teilhabe, De-Kategorisierung von Behinderung, De-Institutionalisierung oder kulturelle Repräsentationen und Problematisierungen sowie weiterführend im wissenschaftlichen Kontext verstärkt zu erlebende Diskursanalysen über zentrale Argumente im Sinne von dafür oder dagegen sowie über vorhandene Theorieschwächen. Innerhalb der heilpädagogischen Handlungsfelder wie auch in der sozialpolitischen Auseinandersetzung können diese Ausrichtungen als Zielperspektiven leitend zu begreifen sein. Und dennoch, das ist der ‚wunde Punkt‘, darf die Heilpädagogik dabei den einzelnen Menschen als Subjekt nicht verlieren - wenngleich eine menschenrechtliche und teilhabeorientierte Ausrichtung der Wissenschaft, Sozialpolitik und heilpädagogischen Praxis unserer Ansicht nach zu unterstreichen ist. Würde sie aber die subjektive Perspektive (Bedürfnisse, Erfahrungen, Lebenseinschränkungen, Lebenslagen, Deprivationsverhältnisse, Ressourcen, Stärken, Kompetenzen usw.) aus dem Blick verlieren, wäre das pädagogische Scheitern eine logische Schlussfolgerung. Hierbei geht es im Wesentlichen um Begegnung und Beziehung zu meinem Gegenüber, um eine pädagogische Haltung auf Augenhöhe und ein Verständnis der individuellen Lebenswelt und -lage der mir anvertrauten Menschen. Auch die „großen“ Leitbegriffe wie Inklusion und Teilhabe müssen sich letztlich am Subjekt ausrichten, wenn daraus Handlungsansätze abgleitet werden sollen. Menschen mit Unterstützungsbedarf dürfen dabei nicht zum Zweck externer Zielformulierungen veräußert werden. Wenn die Heilpädagogik sich darin verliert, „nur noch“ Systemanalysen auf Metaebene vorzunehmen, dann läuft sie Gefahr, das Subjekt „zu veräußern, seine innere Welt zu missachten und sich ihm zu entfremden“ (Speck, 2008, S. 22). Will die Heilpädagogik als Handlungswissenschaft verstanden werden, was sie unseres Erachtens muss, dann geht es immer um die im phänomenologischen Sinne subjektiv erfahrene Handlungswirklichkeit des Menschen selbst. Hierbei begegnen wir Individuen, nehmen sie und ihre Lebenswirklichkeiten wahr, die zum Teil prekär sind und durch Deprivation oder Behinderungsfolgen gekennzeichnet. Heilpädagoginnen und -pädagogen suchen sich einen Beruf aus, in dem sie anderen Menschen zur Seite stehen, sie begleiten, unterstützen, fördern und sie im advokatorischen Sinne vertreten möchten. Dafür müssen sie ausgebildet sein. Sie werden im Laufe ihres Studiums und während ihrer praktischen Tätigkeit in ihrer eigenen Persönlichkeit reifen, sich verändern, sich in ihrer Haltung neu ausrichten, lernen, mit belastenden Situationen umzugehen, lernen, an sich zu wachsen, aber auch lernen zu scheitern. Werden sie hierfür nicht sensibilisiert und bereits während ihres Studiums in Reflexionsprozessen begleitet, fangen sie an zu zweifeln und „schmeißen“ früher oder später hin oder rutschen nach geringer Praxiszeit selbst in eine psychisch instabile persönliche Lebenslage und werden ihr „heilpädagogisches Versprechen“ gegenüber den ihnen anvertrauten Menschen nicht mehr einhalten können. Im Gespräch mit Studierenden der Heil- und Sonderpädagogik werden immer wieder Fragen nach der Praxisverankerung theoretischen Wissens thematisiert. Auch wird rückgemeldet, dass eine zu stark theoretisierende Sprache zum Teil nicht verstanden wird, wenn nur geringe bis keine Praxisbezüge innerhalb unterschiedlichster Bezugssysteme und Handlungsfelder, in Berücksichtigung je individueller Lebenssituationen, hergestellt werden können. Wenn Lehrende im wissenschaftlichen Duktus und Inhalt keine Anknüpfungspunkte an die Praxis mehr herstellen (können), im Sinne einer Luhmann’schen „strukturellen Kopplung“ und ein dem Menschen verpflichtetes „praktisches Handeln“ (oder um an Heimlich zu erinnern: „Werkzeug“) immer weiter in den Hintergrund tritt, besteht die große Gefahr, dass der Mensch VHN 2 | 2023 88 MARKUS WOLF, CHRISTINE FRÄNKLE Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt DAS PROVOK ATIVE ESSAY als Subjekt verloren geht. Dann würde Subjektivität, im Sinne von freiheitlichem Fühlen, Denken, Wollen, Handeln, von Selbstermächtigung und Widerständigkeit (vgl. Meueler, 1997, zit. nach Funke, 2000, S. 19), Menschen mit Behinderung zunehmend verwehrt bleiben oder werden. Wir dürfen nicht bereits innerhalb des Studiums Studierende „verlieren“, wenn wir den „Kern“ heilpädagogischen Arbeitens nicht mehr nahbar vermitteln. Theorie ist dann „im Spannungsfeld zur angewandten Praxis kritisch zu reflektieren […], wenn sie im praktischen Kontext verankert und verstanden sein will“ (Fränkle & Wolf, 2022, S. 22). Ist das für Studentinnen und Studenten nicht mehr „greifbar“ zu erfahren, bleiben sie Suchende in Studium und im späteren Berufsfeld. Das Unverzichtbare und der Auftrag der Heilpädagogik Heilpädagogik muss sich ihrer Verantwortung in Studium, Wissenschaft und für das Handlungsfeld bewusst sein, wenn sie als Fachdisziplin verstanden sein möchte. Kann es sein, dass wir innerhalb der Heilpädagogik im Diskurs mit anderen Sozialwissenschaften in unserem sozialpolitischen Einsatz oder auch in Selbstauseinandersetzung unserer Profession, je nach persönlicher Präferenz und Zielsetzung, in Erklärungsnöte geraten, Angst haben, als rückständig abgestempelt zu werden, ja gar „angeklagt“ zu werden, einen defizitorientierten Blick zu vertreten? Heilpädagogik darf und sollte sich geradezu selbstbewusst als Profession und Fachdisziplin zeigen. Sie erweist sich durch ihr unverzichtbares gesellschaftliches Potenzial mit ihrer Expertise als gefragt und notwendig. Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sind in der Praxis angesehene Fachkräfte. Nichtsdestotrotz mangelt es leider an Nachwuchs. Wo ist unsere eigentliche Stärke hin, die uns auszeichnen sollte? - Sich für Andere einzusetzen, ihnen gesellschaftlich Gehör zu verschaffen und sie in ihrem So-Sein anzunehmen. In Selbstkritik müssen sich die Heilpädagogik als Profession und Fachkräfte der Praxis stets fragen: Geht es in einer heilpädagogisch ethischen Arbeit und damit Verantwortung um MICH und MEINE Zielperspektiven oder geht es um die EINZELNE PERSON und IHRE subjektiven Perspektiven? Mit Fischer (2009, S. 13) ist zu betonen: Das „Antlitz des Menschen [darf] nicht noch weiter hinter der jeweiligen Profession verschwinden, sondern vielmehr wieder ‚ans Licht‘ gebracht werden“. Die Frage nach dem Subjekt in der Heilpädagogik sei am Beispiel der Inklusion in aller Kürze erläutert. Im Diskurs über Inklusion ist vorherrschend von einem positiven Vielfaltsbegriff (Heterogenität) die Rede, der aus einer differenzierten und damit subjektbezogenen Perspektive Fragen der Lebenseinschränkung vernachlässigt (vgl. Tiedeken, 2018, S. 226). Ein „vollkommener Zielzustand“ wird proklamiert. Übergänge und Relationen, die gerade den Kern unserer heilpädagogischen Praxis ausmachen, werden dabei ausgeblendet. Betont werden inklusive Strukturbeschreibungen und übergangen werden die konkreten Subjekte, ihre erfahrenen Lebenslagen, Lebensformen und Lebenspraktiken (vgl. Winkler, 2018, S. 5). Übersehen wird, dass es nicht die Behinderung ohne graduelle Unterschiede gibt (vgl. ebd., S. 27). Es dominiert ein strukturelles Denken zweier Zustände: inkludiert oder exkludiert. Übergänge, Wandlungsprozesse und Situationen dazwischen scheinen wenig denkbar. Menschliche Praxen gestalten sich allerdings weit weniger eindeutig (vgl. ebd., S. 27f.). Die angesprochenen Lebenslagen werden nicht in dem Maße berücksichtigt, wie es notwendig erscheint. Denn wenn subjektive Wahrnehmungen, persönliche Bedürfnisse, Lebenseinschränkungen, die körperliche Verfassung usw. nicht mehr wahr- und ernst genommen wer- VHN 2 | 2023 89 MARKUS WOLF, CHRISTINE FRÄNKLE Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt DAS PROVOK ATIVE ESSAY den, wird die Subjektivität in ihrer Beziehung zur Lebenssituation auch nicht mehr Teil der heilpädagogischen Systemanalyse und der eigenen Reflexionspraxis sein - wir würden Gefahr laufen, das Subjekt zu verlieren. Die Subjektivität rückt erst dann in den Vordergrund und kann dadurch bezeichnet werden, wenn auch Exklusionsmomente (ob prekär oder bewusst gewollt und gewählt) wahrgenommen werden. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass auch die „gelungenste“ Inklusion (was auch immer das in theoretischer sowie Praxisreflexion sein mag? ! ) inhaltlich oder zeitlich begrenzt sein kann. Relationen und dynamische Verläufe nicht zu benennen, lässt individuelle Lebenseinschränkungen und Unterstützungsbedarfe unberücksichtigt. Es entstehen blinde Flecken, und angehende Heilpädagoginnen und Heilpädagogen werden überraschenden Problemlagen ausgesetzt, die schnell zu subjektiv belastend empfundenen Situationen werden können, das spiegeln uns Praxissituationen augenscheinlich wider. Mit Menth (2021, S. 177f.) ist anzuführen, dass sich heilpädagogisches Handeln am Individuum ausrichtet. Die Autorin betont zugleich die Gefahr der Konstituierung von Behinderung und damit der Begründung der Fachdisziplin durch eine Verbesonderung von Menschen. Sie sieht dabei die Kritik der Vertreterinnen und Vertreter der materialistischen Behindertenpädagogik und der Disability Studies, dass durch eine zu starke Fokussierung auf die Person selbst die Behinderung alleinig ihr zugeschrieben würde und soziale und kulturelle Konstruktionsprozesse nicht berücksichtigt werden, als Reflexionsfolie für heilpädagogisches Handeln an. Nicht zuletzt hält sie diese Schlussfolgerungen aber für bedenklich, wenn dann personenzentrierte heilpädagogische Leistungen obsolet erscheinen sowie persönlichen Bedürfnissen und der Personalität im Gruppenkontext nicht hinreichend begegnet werden kann. Menth sieht hier die Gefahr der Re-Pathologisierung von Behinderung durch Medizin und Therapie, wenn die Heilpädagogik sich mit ihrem Fachwissen zurückzieht. Heilpädagogik darf sich von unbegründeter Kritik nicht verunsichern lassen. Wer würde sich denn für Menschen in besonders schwierigen Lebenssituationen einsetzen, wenn es bis dato der Gesellschaft nicht gelingt, diese aus menschenrechtlicher Perspektive auszugleichen? Bei aller Wichtigkeit der Orientierung an theoretischen Perspektiven und Leitprinzipien wie z. B. Inklusion und Teilhabe dürfen wir die angesprochenen Zwischenräume und Relationen nicht ausblenden. Wir sprechen hier von den kleinen Schritten, Momenten des Scheiterns, aber auch des Wieder-Aufstehens und über das Gehen bisher unbekannter, vielleicht sogar mühevoller Wege. Das gelingt uns letztlich nur durch Vertrauen und Beziehungsaufbau. Sich mit diesen Schritten bereits im Studium in Reflexion zur Handlungspraxis auseinanderzusetzen, erweitert die eigene Persönlichkeit sowie die heilpädagogische Haltung und bildet die Basis heilpädagogischen Handelns. Wir sehen die Gefahr, dass heilpädagogische Handlungsgrundlagen, Werte und Haltungen, Beziehungsaufbau, Fürsorge oder auch Mitleid als nicht mehr zeitgemäß abgestraft werden. Heilpädagogisches Handeln, das sich teilhabeorientiert ausrichtet, verweist Lebenseinschränkungen aber nicht in ihre Schranken. Die Kompetenz heilpädagogischen Handelns erweist sich darin, nicht im Mitleid zu verharren, sondern schwierige Wege gemeinsam zu gehen, zu begleiten und Situationen aushalten zu können - ohne sich dabei selbst aufzugeben. Heilpädagogik ist immer zugleich Bildung der persönlichen Grundhaltung. Heilpädagogisch antworten kann ich nur, wenn ich gelernt habe wahrzunehmen und zuzuhören. Diese Kompetenz aufzubringen, bedarf eigener Achtsamkeit, Zurückhaltung und Reflexionsfähigkeit. VHN 2 | 2023 90 MARKUS WOLF, CHRISTINE FRÄNKLE Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt DAS PROVOK ATIVE ESSAY Nehme ich den Menschen als Subjekt nicht mehr wahr, dann kann ich auch nicht heilpädagogisch antworten - ich wüsste nämlich nicht, worauf. Verlasse ich diesen „Kern“ innerhalb meiner heilpädagogischen Praxis, werden die mir anvertrauten Menschen zum Spielball normativer Theorie- und Zielperspektiven. Die Heilpädagogik muss sich an der individuellen Biografie des Menschen orientieren, was zu einem stets komplexen und immer wieder neuen Arbeitsauftrag führt. Auch die Selbstsorge von Menschen mit Unterstützungsbedarf gründet in individuellen Lern- und Erfahrungsräumen und persönlicher Kompetenzentfaltung. Nun gilt es, bereits im Studium dieses wechselseitige Verhältnis zwischen Person und Welt zu verstehen und sich zu eigen zu machen - ohne dabei aus Unsicherheit zu meinen, eine teilhabeorientierte Ausrichtung gelänge nur, wenn ich mich von einer der Person zugewandten Perspektive distanziere. Röh und Meins (2021, S. 78f.) schreiben in Anlehnung an Nussbaums Capabilities Approach, dass es einerseits gilt, den persönlichen Möglichkeitsraum (subjektiv) und andererseits den gesellschaftlichen Möglichkeitsraum (sozialstrukturell) für Menschen mit Unterstützungsbedarf zu erweitern bzw. zu gewährleisten, dass sie diese Räume ausschöpfen können. Hierbei lässt sich für die Heilpädagogik ebendieser Auftrag innerhalb wechselseitiger Verhältnisse ableiten: Personen- und Lebenslagenorientierung in Interaktion der Sozialraum- und Teilhabeorientierung. Studierende müssen darauf vorbereitet werden. Lehrende müssen ihnen ermöglichen, dass sie bei allen entfaltenden Theorieperspektiven (z. B. Inklusion, Teilhabe, Sozialraumorientierung) nicht vergessen, dass der „Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Leistungserbringung und Angebotsgestaltung […] der betreffende Mensch und nicht etwa eine vorgegebene organisatorische Struktur“ (BHP, o. J., S. 5) ist. Ein Appell an die „Wiederentdeckung“ des Subjekts Verlieren wir nicht die Menschen aus den Augen, die wir heilpädagogisch begleiten, für die wir uns stark machen und denen wir, ganz im Sinne der Personenzentrierung, Würde und Selbstentfaltung zusprechen wollen. Es geht letztlich um ein tiefes Interesse am Gegenüber, trotz unterschiedlicher Leistungsfähigkeit. Ist es doch gerade die heilpädagogische Haltung und ethische Verantwortung, Vertrauen in die Selbstbildungskräfte der Personen aufzubringen. Heilpädagogisches Handeln zeichnet sich geradezu dadurch aus, Menschen in ihrer, je individuellen, Lebenslage bewusst wahrzunehmen und sich danach auszurichten. Fragen wir weiterhin den Menschen mit Unterstützungsbedarf, was seine Bedürfnisse sind - wenngleich sich diese auch von meinen fachbezogenen Zielperspektiven im Wesentlichen unterscheiden können; dessen muss ich mir stets bewusst sein. Es geht in unserer Arbeit um das Zurücknehmen des „allwissenden und allmächtigen“ Experten, zugunsten einer Haltung, die an den Grundrechten des Gegenübers halt macht. Heilpädagogik bedeutet letztendlich Denken und Handeln in Beziehungen und wird so (nach Janusz Korczak) zu einem dialogischen Begegnen, damit das Subjekt (wieder) zum Mittelpunkt heilpädagogischer Arbeit werden kann. Literatur BHP. Berufs- und Fachverband Heilpädagogik e.V. (o. J.). Heilpädagoginnen und Heilpädagogen in der Begleitung und Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Berlin: Eigenverlag. Fischer, D. (2009). Heilpädagogik - ein Versprechen. Würzburg: Edition Bentheim. Fränkle, C. & Wolf, M. (2022). Praxis und Theorie oder die Frage: Wer braucht wen? Ein subjektiver Blick auf eine besondere Beziehung. heilpaedagogik.de, (4), 20 -23. Funke, E. H. (2000). Subjektsein in der Schule. Eine pädagogische Auseinandersetzung mit dem Lern- VHN 2 | 2023 91 MARKUS WOLF, CHRISTINE FRÄNKLE Heilpädagogik und die Frage nach dem Subjekt DAS PROVOK ATIVE ESSAY begriff Klaus Holzkamps. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Heimlich, U. (2004). Heilpädagogische Kompetenz - Eine Antwort auf die Entgrenzung der Heilpädagogik? Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 73 (3), 256-259. Menth, M. (2021). Heilpädagogische Haltung. Denkbewegungen zwischen Heilpädagogik und Philosophie. Dissertation. Köln: Universität zu Köln. Röh, D. & Meins, A. (2021). Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe. München: Ernst Reinhardt. Speck, O. (2008). System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt. Tiedeken, P. (2018). Eine diskursanalytische Untersuchung zentraler Argumente gegen Inklusion. Gemeinsam leben. Zeitschrift für Inklusion, 18 (4), 224 -233. Winkler, M. (2018). Kritik der Inklusion. Am Ende eine(r) Illusion. Stuttgart: Kohlhammer. Anschrift des Autors und der Autorin Dr. phil. Markus Wolf Ludwig-Maximilians-Universität München Lehrstuhl für Pädagogik bei Verhaltensstörungen und Autismus einschließlich inklusiver Pädagogik Institut für Präventions-, Inklusions- und Rehabilitationsforschung Leopoldstr. 13 D-80802 München E-Mail: wolf@lmu.de Dr. paed. Christine Fränkle Pädagogischer Fachdienst für Kooperation und Integration Zwerchweg 54 D-75305 Neuenbürg E-Mail: cf@paedagogischerfachdienst.de - Anzeige -