eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 92/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2023.art19d
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Rezension: Schriber, Susanne (2022): Welch ein Glücksfall! Gelebtes und Gedachtes. Geschichten eines Kindes mit motorischen Beeinträchtigungen

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2023
Christian Mürner
„Erzählungen brauchen eine Bühne“, schreibt Susanne Schriber (S. 5). Vorhang auf. Erste Szene: Die Professorin sitzt im Rollstuhl an einem Tisch auf der Bühne. Das sonst dazu benutzte Stehpult, das offenbar nicht absenkbar ist, würde sie verdecken. Sie hält ihre Abschiedsvorlesung Ende 2021 an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich - einst das altehrwürdige Heilpädagogische Seminar. Der Titel der Vorlesung lautet: „Erzählte Be- und Enthinderung: Zur Doppelrolle von Fachperson und Expertin in eigener Sache - sieben biografische Vignetten“. Zweite Szene: Das Kind wird 1957 in Zürich geboren. Es sollte wegen „schwieriger sozialer Verhältnisse gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben werden“ (S. 3). Doch es war behindert, es wurde zum Waisenkind. Das Kind kam ins Heim. Es verbrachte bis zum dreizehnten Lebensjahr in ähnlichen Einrichtungen, besuchte die Sonderschule und konnte dann in die öffentliche Schule wechseln durch die Initiative ihrer Patin und Pflegemutter. Dritte Szene: Zwischen den Szenen gibt es eine große Lücke oder unerfüllte Erwartung. Worin besteht die Verbindung zwischen erster und zweiter Szene? Es handelt sich um ein- und dieselbe Person: Susanne Schriber. „Vorhang zu und alle Fragen offen“ (Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, 1941).
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VHN 2 | 2023 170 REZE NSION E N Die Übungen werden dabei in die folgenden Bereiche unterteilt: n Basale Wahrnehmungsfähigkeit n Visuelle/ auditive Wahrnehmung n Grob- und Feinmotorik n Symptomtraining: Phonologische Bewusstheit, Silbenlesen, Lesen auf Wortebene, Lesen auf Satzebene, Lesen auf Textebene, Schreiben Im Buch werden zu jeder Übung die benötigten Materialien genannt, es wird eine Aufgabenstellung in Textform geliefert, und weiter enthält jede Übung eine Zeichnung des jeweiligen Parcours, welcher mit dem Pferd bestritten wird. Die Übungen werden zudem sehr anschaulich mit Fotomaterial ergänzt. Auf S. 72 findet sich beispielsweise die folgende Übung: „Welches Wort ist länger? “ Diese Übung gehört zum Bereich Symptomtraining (phonologische Bewusstheit), wobei das Kind herausfinden soll, welcher Tiername aus mehr Silben besteht, und somit das längere Wort darstellt. Aus logopädischer Sicht lässt sich festhalten, dass die reittherapeutischen Übungen als Ergänzung zu einer fachspezifischen Therapie (durch Fachpersonen wie Logopädinnen und Logopäden oder Heilpädagoginnen und Heilpädagogen) gelten können. Durch eine alleinige Pferdetherapie kann kaum von eindeutigen Fortschritten beim Lese- und Schreibprozess ausgegangen werden. Die Autorin schreibt selber: „Das Buch erhebt nicht den Anspruch, die LRS therapeutisch behandeln zu wollen“ (S.11). Es kann zusammengefasst werden, dass es im Buch gelungen ist, einen kurzen Überblick über verschiedene Teilleistungen (Grundvoraussetzungen) zu geben, welche für einen erfolgreichen Erwerb der Schriftsprache nötig sind. Außerdem wird praktisch, anhand von vielen Übungen, aufgezeigt, wie das Pferd als Medium eingesetzt werden kann. Allerdings lassen sich momentan nicht ausreichend viele Studien finden, welche die Wirksamkeit der Pferdetherapie im Bereich der Schriftsprachförderung belegen, und es wäre mehr Forschung nötig, um zu genaueren Aussagen zu kommen. Dipl. Logopädinnen Lea Albrecht & Noelia Salvetti CH-1700 Fribourg DOI 10.2378/ vhn2023.art18d Schriber, Susanne (2022): Welch ein Glücksfall! Gelebtes und Gedachtes. Geschichten eines Kindes mit motorischen Beeinträchtigungen Nidau: Verlag Das Archiv. 32 S., € 12,- „Erzählungen brauchen eine Bühne“, schreibt Susanne Schriber (S. 5). Vorhang auf. Erste Szene: Die Professorin sitzt im Rollstuhl an einem Tisch auf der Bühne. Das sonst dazu benutzte Stehpult, das offenbar nicht absenkbar ist, würde sie verdecken. Sie hält ihre Abschiedsvorlesung Ende 2021 an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich - einst das altehrwürdige Heilpädagogische Seminar. Der Titel der Vorlesung lautet: „Erzählte Be- und Enthinderung: Zur Doppelrolle von Fachperson und Expertin in eigener Sache - sieben biografische Vignetten“. Zweite Szene: Das Kind wird 1957 in Zürich geboren. Es sollte wegen „schwieriger sozialer Verhältnisse gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben werden“ (S. 3). Doch es war behindert, es wurde zum Waisenkind. Das Kind kam ins Heim. Es verbrachte bis zum dreizehnten Lebensjahr in ähnlichen Einrichtungen, besuchte die Sonderschule und konnte dann in die öffentliche Schule wechseln durch die Initiative ihrer Patin und Pflegemutter. Dritte Szene: Zwischen den Szenen gibt es eine große Lücke oder unerfüllte Erwartung. Worin besteht die Verbindung zwischen erster und zweiter Szene? Es handelt sich um ein- und dieselbe Person: Susanne Schriber. „Vorhang zu und alle Fragen offen“ (Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, 1941). Susanne Schriber leitete an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich den Fachbereich Schwerpunkt „Pädagogik Körper- und Mehrfachbehinderungen“. Eine „Abschiedsvorlesung“ an einer Fachhochschule ist eine gute Möglichkeit für eine durchleuchtende Erzählung. Sie zieht den „Abschied“ hin, erhöht im Publikum die Neugier und setzt auf Beteiligung. Wichtig wird dabei die Beachtung der Perspektiven. In Bezug auf Markus Dederich („Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik“, 2013) referiert Schriber die Perspektive der dritten Person, ein VHN 2 | 2023 171 REZE NSION E N distanziertes, wissenschaftliches „Objektivitätsideal“, die Perspektive der zweiten Person, eine auf Beziehungen beruhende Sichtweise, und die Perspektive der ersten Person, bei der die Subjektivität im Vordergrund steht. Schriber stellt fest, dass diese drei Perspektiven nicht hierarchisch geordnet sind, sondern sich ergänzen oder überlappen können und „damit in einer fachlichen Debatte Mehrstimmigkeit erzeugen“ (S. 5). Schriber praktiziert dies sehr anschaulich in ihrer Vorlesung und in der nun vorliegenden kleinen, gehaltvollen, überzeugenden, fein gestalteten Publikation. Die verkürzt dargestellte Geschichte in der obigen zweiten Szene klinge traurig, sagt Schriber, aber sie ende nicht in einem Problem-, sondern einem Glücksfall. Diesen Glücksfall sieht Schriber vor allem in der Begegnung mit ihren „Pflegemüttern“ Leonie Madlinger und Rosa Egli. Sie besuchten nach ihrer Tagesarbeit auch Vorlesungen bei Paul Moor am Heilpädagogischen Seminar. Dadurch ermöglichten sie „äußeren Halt“ und „enthinderte Bildung“ (S. 10). Schriber benutzt das Kunstwort „Enthinderung“ - im Kontrast zur Behinderung - als Pendant für den „Zugang zur Welt“ (S. 21) - im Gegensatz zur Exklusion. Die zwei herausgegriffenen Szenen verdeutlichen, in welch exemplarischer Form es Susanne Schriber gelingt, ihre gelebte Geschichte mit ihrer wissenschaftlichen Position und ihrem Engagement in verschiedenen Projekten zu kombinieren. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2023.art19d VORSCHAU Vorschau auf die kommenden Hefte Die Beschulung psychosozial erheblich beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher in Kleinklassen. Praxeologische Desiderata und empirische Antworten aus dem englischen Diskurs David Zimmermann „Die konnten nichts mit mir anfangen“ - Perspektiven einer Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Mutter auf den Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit Nikolaus Hauer, Helga Fasching Ethische Reflexionen im Forschungsprozess mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Nadja Moramana, Irina Bühler, Natalie Zambrino, Eva Büschi, Stefania Calabrese Und demnächst online in VHN plus : Intensivwohnen für Erwachsene mit kognitiver Beeinträchtigung und zusätzlichem herausfordernden Verhalten. Eine kritische Reflexion Markus Wolf, Annika Lang, Sophia Arndt, Reinhard Markowetz Das KvDaZ-Konzept - Entwicklung, Evaluation und Konsequenzen für die anfängliche Sprachförderung bei Deutsch als Zweitsprache Lena Lingk, Dagmar Frölich, Jens Bönisch VHN plus