eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 92/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2023.art36d
101
2023
924

Fachbeitrag: „Die konnten nichts mit mir anfangen“

101
2023
Nikolaus Hauer
Helga Fasching
Der vorliegende Beitrag richtet den Blick auf die subjektiven Erfahrungen einer Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Mutter im Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit. Die Analyse erfolgt entlang einer Fallstudie, in welcher im Längsschnitt durchgeführte „intensive Interviews“ in Orientierung an der Methodologie der konstruktivistischen Grounded Theory (Charmaz, 2014) ausgewertet werden. Die Analyseergebnisse zeigen, dass sich beide Erzählerinnen auf mehreren Ebenen mit Herausforderungen konfrontiert sehen, welche sich entlang der Attribuierung von Behinderung nachzeichnen lassen. Diese werden von der normativen Erwartung der Anpassung an Kriterien unterschiedlicher Interaktionssysteme umspannt, wobei Behinderung als Dimension notwendiger Kompensation in ressourcenintensiven Anpassungsprozessen lesbar wird. Abschließend widmet sich der Beitrag der Diskussion und Reflexion einer Gestaltung von Übergängen, in welchen individuelle Ressourcen adäquat adressiert und deren Verläufe für die beteiligten Personen nachvollziehbar gestaltet werden können.
5_092_2023_4_0006
294 VHN, 92. Jg., S. 294 -306 (2023) DOI 10.2378/ vhn2023.art36d © Ernst Reinhardt Verlag „Die konnten nichts mit mir anfangen“ Perspektiven einer Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Mutter auf den Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit Nikolaus Hauer, Helga Fasching Universität Wien Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag richtet den Blick auf die subjektiven Erfahrungen einer Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Mutter im Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit. Die Analyse erfolgt entlang einer Fallstudie, in welcher im Längsschnitt durchgeführte ‚intensive Interviews‘ in Orientierung an der Methodologie der konstruktivistischen Grounded Theory (Charmaz, 2014) ausgewertet werden. Die Analyseergebnisse zeigen, dass sich beide Erzählerinnen auf mehreren Ebenen mit Herausforderungen konfrontiert sehen, welche sich entlang der Attribuierung von Behinderung nachzeichnen lassen. Diese werden von der normativen Erwartung der Anpassung an Kriterien unterschiedlicher Interaktionssysteme umspannt, wobei Behinderung als Dimension notwendiger Kompensation in ressourcenintensiven Anpassungsprozessen lesbar wird. Abschließend widmet sich der Beitrag der Diskussion und Reflexion einer Gestaltung von Übergängen, in welchen individuelle Ressourcen adäquat adressiert und deren Verläufe für die beteiligten Personen nachvollziehbar gestaltet werden können. Schlüsselbegriffe: Übergang, Inklusion, Behinderung, Kapital, Grounded Theory ‘They didn’t know what to do with me’ - Perspectives of a Young Woman with Disability and her Mother on the Transition from School to Employment Summary: This article focuses on the subjective experiences of a young person with disability and her mother in the transition from school to employment. The analysis is based on a case study in which longitudinal ‘intensive interviews’ are analyzed according to the methodology of constructivist grounded theory (Charmaz 2014). The results of the analysis show that both narrators are confronted with challenges on several levels, which can be traced along the attribution of disability. They are encompassed by the normative expectation of adaptation to criteria of different interaction systems, whereby disability becomes readable as a dimension of necessary compensation in resource-intensive adaptation processes. Finally, the article discusses and reflects on the design of transitions in which individual resources can be adequately addressed and their course can be made comprehensible for the persons involved. Keywords: Transition, inclusion, disability, capital, grounded theory FACH B E ITR AG 1 Problemaufriss: Jugendliche mit Behinderung im Übergang Schule - Beruf Der Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit stellt Jugendliche mit Behinderung vor eine Vielzahl an Herausforderungen, Unsicherheiten und Risiken (Fasching & Felbermayr, 2022). Zum einen bietet sich in einer weitreichend ausdifferenzierten Perspektive auf den Berufseinstieg ein Bild, welches umfangreiche Chancen und Wahlmöglichkeiten suggeriert. Gleichzeitig ist der Weg bis zum Berufseinstieg mit einer Vielzahl von hoch- VHN 4 | 2023 295 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG selektiven Prozessen verbunden, welche die Kriterien und Chancen einer weiterführenden Erwerbsbiografie in signifikantem Ausmaß mitbestimmen. Gegenüber einer fortschreitenden Erosion von Normalarbeitsverhältnissen (Schiek, 2012; York & Jochmaring, 2022) steht nach wie vor eine Orientierung an Vorstellungen einer Normalerwerbsbiografie (vgl. Siegert, 2021), welche den (Ideal-)Verlauf der Bildungs- und Erwerbskarriere in Form eines linearen Prozesses als normativen Maßstab festzulegen scheint. Demgegenüber lässt sich in der Betrachtung von Übergangsverläufen vielmehr feststellen, dass mit einer ‚Entstandardisierung‘ des Lebenslaufs (Walther, 2011; Stauber, Walther & Pohl, 2011) auch eine „zunehmende Diskrepanz zwischen institutionellen Normalitätsannahmen (bzw. Standards), biographischen Erfahrungen und Lebensentwürfen der Subjekte sowie den tatsächlichen Lebensverläufen“ (Stauber et al., 2011, S. 31) einhergeht. Das ‚erwerbsarbeitszentrierte Übergangssystem‘ (Walther, 2011) Österreichs basiert auf der „Kopplung eines selektiven Schulsystems an ein standardisiertes Berufsbildungssystem“ (ebd., S. 96) und verzeichnet dabei in erster Linie eine Prägung durch das Normalarbeitsverhältnis im Produktionssystem, welches sich durch eine „enge Kopplung der gesellschaftlichen Teilsysteme und die Wirkung eines meritokratischen Verteilungssystems“ (Truschkat & Stauber, 2013, S. 222) auszeichnet. In diesem Rahmen stellt die Lebensphase der Jugend in gewissem Maß eine Phase der Vorbereitung auf jene der Erwerbsarbeit dar (Burkart, 2008, S. 540). Damit ergibt sich für Jugendliche im Übergang eine Perspektive, welche zum einen dem idealtypisch erfolgreichen, also linearen Übergang in die Erwerbstätigkeit eine hohe Bedeutung beimisst, zum anderen aber gleichermaßen die Bewältigung der inhärenten Selektionsprozesse zum Kriterium eines erfolgreichen Übergangs erhebt. 1.1 Institutionelle Rahmenbedingungen Die institutionellen Rahmenbedingungen zur Gestaltung von Übergängen in einem erwerbsarbeitszentrierten Übergangssystem verzeichnen neben einer hohen Standardisierung, einem hohen Maß an Differenzierung und sozialer Selektion auch ein breites und ausdifferenziertes Angebots- und Maßnahmenspektrum mit einer Vielzahl an Akteur/ innen (Fasching & Fülöp, 2017, S. 84). Maßnahmen zur beruflichen Teilhabe zielen dabei auf die Unterstützung von ausgrenzungsgefährdeten Jugendlichen im Übergang in die Erwerbstätigkeit. Eine bedeutende Rolle nimmt in Österreich dabei das Netzwerk Beruflicher Assistenz (NEBA) ein, welches unter dem Label der NEBA-Leistungen Projekte und Aktivitäten zur Unterstützung ausgrenzungsgefährdeter Jugendlicher bündelt (ebd.). Diese umfassen aktuell mit Jugendcoaching, AusbildungsFit, Berufsausbildungsassistenz, Arbeitsassistenz, Jobcoaching und Betriebsservice 1 sechs Maßnahmen, welche mit unterschiedlicher Zielgruppen- und Schwerpunktsetzung Unterstützung im Rahmen des Übergangs von der Schule in den Beruf bieten. Es lässt sich festhalten, dass Österreich mit den bestehenden Maßnahmen über ein vergleichsweise gut ausgebautes Unterstützungssystem verfügt (Fasching & Fülöp, 2017). Trotz alldem bestehen jedoch für Jugendliche mit Behinderung im Gesamten nach wie vor deutlich geringere Chancen einer gesicherten Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt. Eine Diskrepanz zwischen der Angabe der Umsetzung von Maßnahmen und den geringen Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation (Biewer et al., 2020) lässt sich auch in einer kontinuierlich ansteigenden Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderung zeigen (Österreichischer Behindertenrat, 2019). Dahin- VHN 4 | 2023 296 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG gehend gilt es jedoch hervorzuheben, dass sich hinsichtlich der statistischen Erfassung der Situation von ehemaligen Schüler/ innen mit zugeschriebenem sonderpädagogischen Förderbedarf bedeutende Leerstellen ergeben, da diese Kategorie in der Arbeitsmarktstatistik kaum Berücksichtigung findet (Fasching & Felkendorff, 2007). Darüber hinaus verweist der Österreichische Behindertenrat (2019) darauf, dass etwa 23.500 Menschen in Österreich, die als „arbeitsunfähig“ beziehungsweise (originär) erwerbsunfähig gelten, von besagten Maßnahmen ausgeschlossen werden. Laut Behindertenrat sind zum Stand der Veröffentlichung des Berichts nur 55,7 % der jungen Erwachsenen mit Behinderung erwerbstätig, was zum Teil auch auf die Zuschreibung von Arbeitsunfähigkeit zurückgeführt wird (ebd., S. 4). Ebenso erkennbar wird, dass unter Jugendlichen mit attestiertem SPF eine deutlich erhöhte frühzeitige Abbruchsquote der schulischen Laufbahn verzeichnet werden kann. Dies ist in weiterer Folge dahingehend brisant, wenn ein Blick auf die Situation von Menschen am Arbeitsmarkt entlang vorzuweisender Bildungsabschlüsse geworfen wird. So wird im Bericht des Arbeitsmarktservice (AMS, 2021) hervorgehoben, dass sich das mit Abstand größte Arbeitslosigkeitsrisiko für jene Personen ergibt, welche über keinen über die Pflichtschule hinausgehenden Bildungsabschluss verfügen. 1.2 Übergänge unter erschwerten Bedingungen Diese erschwerten Bedingungen in der Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt lassen sich mit Wansing (2006) auch hinsichtlich der Wirkung der institutionellen Segregation von Jugendlichen betrachten, welche anhand der Attestierung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs abseits von Regelschulen untergebracht werden. Demnach „limitiert die Integration in das Sondersystem […] insgesamt die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe nachhaltig“ (ebd., S. 154), da mit der Dauer des Aufenthalts in Institutionen beziehungsweise anhand der eingenommenen sozialen Positionen im Hilfesystem auch aktuelle und zukünftige Chancen der sozialen Adressierung bestimmt werden (vgl. ebd.). Die Attestierung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs kann davon ausgehend also auch nach der (schul-)systemspezifischen Kategorisierung (Jochmaring, 2019) weiterhin als Etikettierung bestehen bleiben. „Behinderung selbst wird hier zur sozialen Adresse, die sämtliche Lebensabschnitte und -bereiche durchkreuzt und die Formen des Zugangs zu Bereichen wie Bildung, Erwerbsleben, Einkommen und sozialen Beziehungen determiniert“ (Wansing, 2006, S. 154). Inklusion mit dem Fokus auf Behinderung im Übergang in die Erwerbstätigkeit kann also nur bedeuten, Jugendlichen abseits definierender und marginalisierender Differenzzuschreibungen Unterstützung im Übergang zu bieten. Inklusion adressiert dahingehend jedoch auch nicht lediglich die formale institutionelle Einbeziehung, sondern auch die „Qualität möglicher Teilhabe, die durch Institutionen vermittelt wird“ (Kronauer, 2010, S. 44). Es gilt dabei auch kritisch jene Vorstellungen von Behinderung in den Blick zu nehmen, die diese als definitorisches Merkmal von Personen verstehen, „und zwar unabhängig von situativen, zeitlichen und sozialen Kontexten, die an der Wahrnehmung, Definition und Bearbeitung der Kategorien und an der (Re-)Produktion hieran gebundener Benachteiligungen beteiligt sind“ (Wansing, Westphal, Jochmaring & Schreiner, 2016, S. 72). Davon ausgehend orientiert sich der Beitrag an einem Verständnis von Behinderung als „Erfahrung […], die sich aus Konflikten zwischen Fähigkeiten und Erwartungen ergibt“ (Weisser, 2005 S. 20), welcher in unterschiedlichen Systemen unterschiedliche Bedeutung zuteilwerden kann und so auch als relational und kontextabhängig (Hermes, VHN 4 | 2023 297 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG 2019, S. 31) begriffen wird. Damit eröffnet dieser Zugang auch eine Perspektive, in welcher die Bedeutung von Behinderung im Rahmen individueller Verwirklichungsmöglichkeiten stärker in den Fokus gerückt werden kann (vgl. Terzi, 2005, S. 208). Im Spannungsfeld der mit der Zuschreibung von Behinderung verbundenen Vorstellung verminderter Leistungsfähigkeit (Karim & Waldschmidt, 2019) und den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarkts ergeben sich damit bedeutende Teilhabebarrieren im idealtypischen Verlauf der Erwerbsbiografie. Jugendliche mit Behinderung werden in überproportionalem Maße entweder in Zwischensystemen oder im Ersatzarbeitsmarkt positioniert. Darüber hinaus lässt sich abseits idealtypischer Orientierungsmuster kaum bestimmen, welche Übergangsverläufe von den Jugendlichen und ihren Bezugspersonen als erstrebenswert angesehen werden. Es besteht damit also ein Mangel an Perspektiven, wie die Jugendlichen und ihre Bezugspersonen selbst den Übergang wahrnehmen und welche Formen der Übergangsgestaltung als erstrebenswert erachtet werden. 2 Übergänge als ressourcenabhängige Systemübertritte Im vorliegenden Beitrag wird Einblick in eine Fallstudie gegeben, welche sich der Beforschung der subjektiven Perspektiven einer Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Mutter auf Dynamiken des Übergangsprozesses widmet. Die forschungsleitende Fragestellung wird wie folgt formuliert: „Wie stellt sich der Übergangsprozess hinsichtlich fördernder und hindernder Faktoren in den Erzählungen einer Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Mutter dar und welche (Be-)Deutung kann der Behinderung in diesem Prozess zugeschrieben werden? “ Übergänge werden im Anschluss an Bronfenbrenner (1989) als Positions- und Rollenwechsel in ökologischen Systemen verstanden, welche wiederum in ihren unterschiedlichen Formen von Verbindungen auf unterschiedlichen Ebenen Einfluss auf die Entwicklung des Individuums nehmen. Trainor (2017) macht eine Verbindung von Bronfenbrenners Konzept ökologischer Systeme mit jenem von Bourdieus Begriff des Felds. Wo diese Umwelt bei Bronfenbrenner als ein zusammenhängendes System von durchlässigen und amorph begrenzten Umfeldern und Kontexten verstanden wird, in welche die menschliche Entwicklung und soziale Interaktion eingebettet sind, richtet sich Bourdieus Theorie auf Verhältnisse von Macht in diesen Feldern (vgl. Trainor, 2017, S. 11). Houston (2017) diskutiert eine vergleichbare Gegenüberstellung dieser beiden theoretischen Zugänge. Die Begriffe von Ökosystem und Feld werden dabei wiederum nicht synonym gebraucht, vielmehr zeigt Houston (2017) in der Gegenüberstellung die wechselseitige Möglichkeit der Ergänzung dieser Zugänge auf. Während Bronfenbrenners Modell eine Differenzierung der unterschiedlichen Ebenen des Umfelds und deren Einwirken auf die menschliche Entwicklung darlegen kann, bleiben dabei Aspekte von Macht weitgehend unberührt. Demgegenüber lassen sich diese Aspekte von Macht mit Bourdieu in der Identifikation der Ressourcenverteilung und der damit einhergehenden Möglichkeiten darstellen, einen Positionswechsel in dieser Umwelt zu vollziehen (vgl. ebd., S. 61f.). Im vorliegenden Kontext eröffnet sich damit eine Perspektive auf Übergänge, welche neben Einflüssen auf unterschiedlichen Systemebenen auch die Frage nach der Verfügbarkeit relevanter Ressourcen in diesen Prozessen miteinbeziehen kann. Bourdieu (1983) unterscheidet mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital grundlegend drei unterschiedliche Formen von VHN 4 | 2023 298 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG Ressourcen, deren Verteilung und Verfügbarkeit die Position sozialer Akteur/ innen im Raum bestimmt. Diese Positionierungen bilden gleichsam die Grundlage gesellschaftlicher Machtverhältnisse, wenn es darum geht, wem unter welchen Umständen relevante Ressourcen zur Verfügung stehen bzw. zur Verfügung gestellt werden. Yosso (2005) nimmt in einem kritischen Zugang zu Bourdieus Kapitaltheorie eine Differenzierung des Konzepts von kulturellem Kapital in sechs weitere Kapitalarten vor. Nach Yosso (2005) implizieren die Rezeptionen von Bourdieus Kapitaltheorie, zumal diese eine strukturelle Kritik an der Verteilung von Ressourcen und damit einhergehender Privilegien und Machtverhältnissen anstrebt, eine nicht unbedenkliche Perspektive auf kulturelle Werturteile. „This interpretation of Bourdieu exposes White, middle class culture as the standard, and therefore all other expressions of ,culture‘ are judged by this expression of the ,norm‘“ (Yosso, 2005, S. 76). Yossos Kritik adressiert dabei also eine perspektivische, privilegierte Wertzuschreibung dessen, was als ‚kulturelles Kapital‘ in der jeweiligen Gesellschaft anerkannt wird. Dies bezieht sich auf die Vorstellung, dass marginalisierte Gruppen diese Form von Kapital akkumulieren müssten, um Marginalisierung zu entgehen (vgl. Trainor, 2017, S. 16). Yosso (2005) formuliert dahingehend im Sinne einer ‚critical race theory‘ den Ansatz einer Theorie von kulturellem Kapital, welche vielmehr ‚kulturell wertvolles Vermögen‘ („cultural wealth“) in den Fokus der Betrachtung rückt und damit die Wertzuschreibungen von Ressourcen in dem jeweiligen kulturellen Kontext verortet. Yosso (2005, S. 77ff.) differenziert demnach folgende Formen von kulturellem Kapital: n „Aspirational capital“ bezieht sich auf die Fähigkeit, Wünsche und Träume auch angesichts möglicher Hürden zu verfolgen. Diese resiliente Haltung zeigt sich dabei in der Formulierung von Wünschen und Träumen auch abseits der aktuellen Situation. n „Linguistic capital“ beinhaltet intellektuelle und soziale Fähigkeiten, welche durch mehrsprachige Kommunikation erworben werden wie auch in den jeweiligen Sozialisationskontexten praktizierten (verbalen) Kunstfertigkeiten (z. B. Musik, Storytelling usw.). n „Familial capital“ meint familiäre beziehungsweise familiale Beziehungssysteme, und dabei vor allem auch in einem erweiterten Verständnis von ‚Familie‘ im Sinne einer gemeinschaftlich geteilten Historie und Erinnerung wie auch in dem Wissen um die Aufrechterhaltung dieser familialen Strukturen und ihrer Ressourcen. n „Social capital“ wird verstanden als das verfügbare Netzwerk von Personen und gemeinschaftlichen Ressourcen. n „Navigational capital“ meint die Fähigkeit zur Navigation durch soziale Institutionen und nimmt vor allem Bezug auf Institutionen, welche in ihrer Beschaffenheit ungleiche Bedingungen für bestimmte Personengruppen schaffen. n „Resistant capital“ beschreibt Yosso (2005, S. 80) als „knowledges and skills fostered through oppositional behavior that challenges inequality”, also als Set von Strategien und Verhaltensweisen, sich (struktureller) Ungleichbehandlung entgegenzustellen. Nach Siegert (2021) ermöglicht es eine Orientierung an Yossos (2005) kritischer Differenzierung des Begriffs von ‚kulturellem Kapital‘, „über ein vorhandenes bzw. nicht vorhandenes Passungsverhältnis hinauszuschauen“ (Siegert, 2021, S. 38). Damit können unternommene Bewältigungsstrategien analytisch benannt werden wie auch der Fokus darauf gerichtet werden kann, welche Ressourcen zur Verfügung stehen und was in den Darstellungen der Erzähler/ innen als relevant präsentiert wird (vgl. ebd.). Eine direkte Übernahme VHN 4 | 2023 299 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG eines als postkolonial verstandenen Ressourcenmodells in den vorliegenden Rahmen kann problematische Tendenzen bergen. Die Ausdifferenzierung von kulturellem Kapital, welche Yosso (2005) jenem Kapitalbegriff Bourdieus gegenüberstellt, bietet jedoch im vorliegenden Kontext eine fruchtbare Perspektive in der Betrachtung des Ressourcen- und Möglichkeitsrahmens. Yossos Modell wird damit nicht unkritisch adaptiert, vielmehr soll eine Orientierung an diesem Modell dem Versuch Rechnung tragen, Kapital und dessen Transformationsprozesse abseits hegemonialer Machtverhältnisse in den Blick nehmen zu können. 3 Fallbeispiel Die empirische Grundlage des vorliegenden Beitrags bildet eine Fallstudie, im Zuge derer in einer analytischen Gegenüberstellung die Perspektiven einer Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Mutter auf Dynamiken des Übergangsprozesses untersucht werden. Leitend ist dabei die Frage, welchen Aspekten des Übergangs - und dabei vor allem Behinderung - in den Erzählungen zentrale Bedeutung beigemessen wird. Diese Auseinandersetzung verortet sich im Rahmen des FWF - Forschungsprojekts „Kooperation für Inklusion in Bildungsübergängen“ 2 , welches unter der Leitung von Helga Fasching von 2016 bis 2021 am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien durchgeführt wurde. Die im Folgenden dargestellten Analyseergebnisse basieren auf der Auswertung von jeweils zwei Interviews mit Anna (Pseudonym) und zwei Interviews mit ihrer Mutter Marianne (Pseudonym). Die Interviews wurden im genannten Forschungsprojekt im Längsschnitt zu zwei Erhebungszeitpunkten und jeweils als Einzelinterviews im zeitlichen Abstand von sechs Monaten geführt. Die Datenerhebung erfolgte mit dem Verfahren des ‚Intensive Interview‘ (Charmaz, 2014). Diese Form der Gesprächsführung erlaubt eine tiefgehende Untersuchung einer bestimmten Thematik und fokussiert die Interpretationen von Erfahrungen aller Beteiligten. So versuchen die Interviewenden, die Thematik im Gesprächsverlauf zu verstehen, und die Interviewpartner/ innen bringen ihre Erfahrungen ein, um relevante Themen zu beleuchten (vgl. Charmaz, 2014, S. 25). Die Methodologie der konstruktivistischen Grounded Theory nach Kathy Charmaz (2014) bietet dafür eine geeignete Basis zur Entwicklung eines Auswertungsdesigns, da die grundlegenden Techniken des ‚initial coding‘ und ‚focused coding‘ ein hohes Maß an Flexibilität im Analyseprozess bieten, eine tiefgehende Verknüpfung von Deutungszusammenhängen erlauben und Offenheit gegenüber neuen und unterwarteten Erkenntnissen gewährleisten (ebd.). Diese Methodologie erfordert darüber hinaus, die Perspektivität der Analyse in stetiger Reflexion auf den Prüfstand zu stellen. Damit lässt sich auch die Relevanz der Erzähler/ innenperspektive im Prozess hervorheben, da in diesem Verständnis nur aus einer Anerkennung des wissenschaftlichen ‚Werts‘ der Subjektperspektive neues und kritisches Wissen hervorgebracht werden kann. Der Analyseprozess gliedert sich dabei in mehrere Schritte. Zu Beginn wurden im Verlauf des ‚initial coding‘ (Charmaz, 2014, S. 53) erste offene Kodes formuliert. Diese erste Kodierung erfolgte dabei ‚incident by incident‘ (ebd.) und umfasste relativ weite und unspezifische Kodes. Folgend wurde das Material im Verfahren des ‚line-by-line coding‘ (ebd., S. 50) in kleinteiligere Sequenzen (Zeilen) rekodiert, um einer theoretischen Verengung in einem erneuten ‚Aufbrechen‘ des Materials zu entgegnen. Parallel zum Verfahren des lineby-line coding wurden Memos angefertigt, um den Fokus darauf zu richten, eine Verbin- VHN 4 | 2023 300 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG dung und Gegenüberstellung der entstandenen Codes zu formulieren. In diesem Schritt konnten signifikante In-vivo-Codes erarbeitet werden, welche in der abschließenden Konzeptualisierung und Kategorisierung auch als übergreifende Kategorienbezeichnungen herangezogen wurden. Entlang dieser konnten die übrigen relevanten Codes zu den finalen Kategorien synthetisiert werden. Aus einem gegenüberstellenden Vergleich der Kategorien entstand schließlich eine Kernkategorie, welche als übergreifendes Erklärungsmodell der Relationen der Kategorien als aussagekräftig erachtet wurde. 4 Ergebnisse Im Folgenden werden drei der zentralen Kategorien dargestellt, welche sich im Prozess des angewendeten Kodierverfahrens aus den Erzählungen ergeben. Die folgend dargestellten Analyseergebnisse ordnen sich in ein Kategoriensystem aus fünf Hauptkategorien ein. Die Auswahl der dargestellten Ergebnisse basiert dabei auf einer engen Verknüpfbarkeit dieser Kategorien in Bezug auf die Frage nach Behinderungserfahrungen im Übergang. Die beiden weiteren Kategorien adressieren ergänzend zum einen Zuschreibungen physischer Leistungsfähigkeit, zum anderen die Zukunftsperspektive der beiden Erzählerinnen. Im Rahmen des Analyseverfahrens konnte eine zentrale Kernkategorie erarbeitet werden, welche abschließend im folgenden Abschnitt dargestellt wird. Die angegebenen Referenzen beziehen sich hierbei zum einen auf die Interviews mit Anna (T) und Marianne (M), zum anderen auf den ersten (1) und zweiten (2) Erhebungszeitpunkt der Interviews. Die Bezeichnungen der Kategorien bilden sich, wie übrigens auch der Titel des vorliegenden Beitrags, aus ‚In-vivo‘- Codes, also aus Formulierungen der Erzählerinnen. 4.1 ‚Hintennach sein‘ Die erste Kategorie umreißt das Erleben fehlenden Anschlusses, wobei Anschluss weniger im Sinne von Teilhabe, sondern als das Entsprechen von Normerwartungen verstanden werden kann. Die Kategorie umspannt dabei Aspekte von Überforderung im Kontext schulischer Leistungserwartungen, und dabei auch Erfahrungen in der Berufsschule, wobei Anna immer wieder Rückbezüge zu ihrer Grundschulzeit herstellt und dabei die Herausforderungen in der Berufsschule mit eigenem Fehlverhalten in ihrer bisherigen Schulzeit begründet. Die Deutung des Möglichkeitsrahmens, also wie dieses „hintennach sein“ adressiert werden kann, wird von Marianne als weitgehend statisch dargestellt, Konsequenzen und Handlungsansätze werden primär dahingehend formuliert, die wahrgenommene Normabweichung in einem ‚passenden‘ Kontext (also z. B in segregativen Settings) zu verorten. Marianne: … „das, was die normale Arbeitswelt will, das erfüllt sie einfach nicht. Oder momentan halt nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das irgendwann hinkriegt, aber wer weiß“. [M1; 303 - 305] 3 Anna nimmt diese Deutung partiell auf, stellt den Kontext jedoch als weniger statisch dar. Sie präsentiert die in diesem Kontext erlebten Herausforderungen als weitgehend selbstverschuldet, vermittelt demgegenüber jedoch auch Strategien, wie das erlebte „hintennach sein“ adressiert und kompensiert werden kann. Anna: … „und dann habe ich erst von meiner Mutter erfahren, dass ich noch Proben vor mir habe, dass alles noch nicht ganz fix ist. Aber es hat einfach alles schon so gut geklungen und ich habe jetzt auch ein gutes Gefühl bei der Sache, dass es funktioniert. Auch wenn ich weiß, dass es wirklich nicht leicht für mich wird mit dem Lernen und dem Ganzen, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich das schaffe“. [T2; 8, 13 - 18] VHN 4 | 2023 301 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG Zur Adressierung dieser Herausforderungen formuliert Anna motivationale Strategien, welche in Anlehnung an das Konzept von ‚resistant capital‘ (Yosso, 2005) zeigen, dass Anna auch in Anbetracht der erlebten Herausforderungen und negativen Erlebnisse im Arbeitsumfeld die Fähigkeit besitzt, Strategien zur Kompensation dieser Defizitzuschreibungen zu formulieren. 4.2 ‚In der Luft hängen‘ Der Prozess des Übergangs von Anna zeigt sich geprägt von Abhängigkeitsverhältnissen beider Erzählerinnen im Kontext institutioneller und professioneller Informations- und Unterstützungsleistungen. Diese Informationen beziehen sich in der Darstellung von Marianne zu Beginn auf die Einschätzungen medizinischer Fachkräfte im Kontext der Diagnose einer physischen Beeinträchtigung von Anna. Aus Mariannes Erzählung wird erkennbar, dass sich dabei ein Desiderat zur Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs von Zuschreibung und tatsächlichen Fähigkeiten ergibt, welches sie als „in der Luft hängen“ bezeichnet. Marianne: „Der Arzt in (Gesundheitseinrichtung), das ist der, der sich am besten auskennt mit allen Maßnahmen und mit allem, was möglich ist und was nicht möglich ist. […] die müssten gelernt haben, welche Krankheiten es sind und welche Möglichkeiten diese Menschen dann haben. Aber irgendwie, wenn man zu denen hingeht, hat man das Gefühl, sie kennen sich überhaupt nicht aus, man muss alles ständig von vorne erklären.“ [M1; 440 - 446] Marianne nimmt dahingehend auch Bezug auf eine hohe Fluktuation in der Kooperationsstruktur und nennt vor allem die Notwendigkeit, die Situation, in welcher sich beide Erzählerinnen befinden, wiederholt neuen Personen mitteilen zu müssen. Dabei wird erkennbar, dass vor allem ein als einseitig wahrgenommener Informationstransfer als Herausforderung dargestellt wird. In Annas Darstellung zeigt sich dieses „in der Luft hängen“ vor allem darin, dass ihr die Begründung fehlt, warum Prozesse so verlaufen, wie sie verlaufen. Anna: „Und jetzt aber, und normalerweise hat einem der (Kurs) versprochen, dass ich wieder zurückkommen kann in den Kurs, wenn das mit der Arbeit nicht passt […] wo sie mich hingeschickt haben. Was aber jetzt aus irgendeinem Grund nicht der Fall gewesen ist, ich durfte, ich konnte nicht mehr zurück. Sie konnten mir nicht einmal einen Grund geben dafür.“ [T1; 119 -123] Eine (temporäre) Auflösung dieser Ohnmachtssituation ergibt sich im Prozess durch die Schaffung einer erfolgreichen institutionellen Kooperationsbeziehung, eine Schlüsselfunktion nimmt dabei eine unterstützende Betreuungsperson ein. Dahingehend kann diese Neu-Etablierung einer unterstützenden Verbindung als Kapitalressource im Sinne von „social capital“ (Yosso, 2005) betrachtet werden. Noch weitaus bedeutender erscheint dabei, dass diese Kapitalressource eine Mobilisierung von „aspirational capital“ (ebd.) zu bedingen scheint, da im chronologischen Verlauf nach der Intervention jener Unterstützungsperson die Möglichkeit gegeben erscheint, (wieder) konkrete - und dabei vor allem auch an die grundlegenden Orientierungen und formulierten Prioritäten anschlussfähige - Zielsetzungen zu formulieren. 4.3 ‚Nicht ankommen‘ Einen relevanten Aspekt des subjektiv erfolgreichen Systemübertritts beschreibt in der Darstellung der Erzählerinnen auch der Faktor des „Ankommens“. Lesbar als Form aktiver Teilhabe umfasst diese Kategorie in den Erzählungen zum einen die emotionale Ebene sozia- VHN 4 | 2023 302 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG ler Bezugssysteme (Freundeskreis, Kolleg/ innen, Familie und Beziehung). Auf formaler beziehungsweise institutioneller Ebene beschreibt diese Kategorie Aspekte von Teilhabe, welche sich auf eine gesicherte Eingliederung in ein institutionelles System (Schule, Arbeitsplatz, Kurs) beziehen. In der Gegenüberstellung wird auch erkennbar, dass Anna damit vor allem die emotionale Ebene adressiert und Marianne eher die formale. Marianne: „Und dann sind wir halt verschiedene Schulen durchgegangen, dann waren wir in der Sonderschule das letzte halbe Jahr von der Volksschule, sie war in vier verschiedenen Volksschulen und es hat irgendwie nie gepasst, weder vom Gruppensetting noch vom - weiß nicht, sie ist nirgendwo wirklich angekommen.“ [M1; 1, 18 - 23] Dass es sich in Annas Erzählung in erster Linie um ‚Ankommen‘ auf emotionaler Ebene handelt, lässt sich auch anhand folgender Sequenz verdeutlichen, in welcher Anna nach der Beziehung zu ihren Kolleg/ innen am Arbeitsplatz gefragt wird. I: „Wie verstehst du dich mit den Kollegen - Kolleginnen? Anna: Gut ((leise sprechend)) I: Ja? Anna: Ja. Ich fühle mich gerade irgendwie erst, als wäre ich erst dazugekommen, aber es ist doch schon eine Zeit her, dass ich, ich weiß jetzt gar nicht, wann ich angefangen habe. Es ist jetzt wirklich schon lang, länger her.“ [T2; 5, 22 - 28] Anna führt an dieser Stelle keine Begründung für das Gefühl des ‚Erst-dazugekommen-Seins‘ an. Anhand dieser Formulierung wird jedoch ersichtlich, dass Anna an den Umstand, schon längere Zeit in diesem Umfeld tätig zu sein, auch die Erwartung zu knüpfen scheint, eine andere Position im Interaktionssystem innezuhaben, als sie zum Zeitpunkt der Erzählung einnimmt. Im Rahmen des Konzepts des „Ankommens“ kann diese Darstellung den Verweis darauf bieten, dass Anna mit dem Verbleib im System auch ein „Ankommen“ erwartet, also eine gesicherte Position in der Beziehungsstruktur des Systems. Damit zeigt sich, dass dem Konzept von „social capital“ (Yosso, 2005) im Mikrosystem (Bronfenbrenner, 1989), also dem direkten Interaktionsumfeld, eine hohe Bedeutung in Anbetracht eines subjektiv erfolgreichen und inkludierten Systemübertritts beigemessen werden kann. 4.4 Anpassung als Kompensation wahrgenommener Differenz Vorangestellte Kategorien gewähren Einblicke in das Erleben des Übergangs und zeigen, dass der Übergang für beide Erzählerinnen mit Anforderungen wiederholter Anpassung bzw. Adaption an wechselnde Kontextbedingungen geprägt erscheint. Diese Anpassungsanforderungen umfassen auch das Konstrukt von Behinderung in jener Hinsicht, dass Negativzuschreibungen, welche mit dem Attribut Behinderung in Verbindung gebracht werden, als eine Dimension als notwendig wahrgenommener Kompensation hervortreten. Anpassung als Kompensation von Differenz tritt dabei als zentrale Kernkategorie hervor. Diese Anpassungsanforderungen an unterschiedliche Systemeigenschaften erfordern die Mobilisierung unterschiedlicher Formen von Ressourcen (Kapital). Es zeigt sich auch, dass die wiederholte Notwendigkeit, diese Ressourcen zu mobilisieren - vor allem dann, wenn dies nicht zum erhofften bzw. erwünschten Ergebnis führt -, zu einer Adaption von Präferenzen hinsichtlich zukünftiger Perspektiven führt. Die Bedingungen einer ‚erfolgreichen‘ Anpassung, in diesem Sinne also einer erfolgreichen Eingliederung in das jeweilige System, scheinen dahingehend in Wechselwirkung zu stehen. Die Defizitzuschreibung, welche zu Beginn im VHN 4 | 2023 303 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG Rahmen einer eingeschränkten Fähigkeitszuschreibung und in weiterer Folge im Erleben einer fehlenden Anschlussfähigkeit an Strukturen im Schul- und Arbeitsmarktsystem wirksam zu werden scheint, kann als grundlegender Aspekt der wahrgenommenen Notwendigkeit und Anforderung der Kompensation zugeschriebener Defizite aufgefasst werden. Ein Mangel an Information beider Erzählerinnen hinsichtlich des Umgangs und der Beurteilungskriterien dieser Zuschreibungen führt dazu, dass aus erlebter Handlungsunfähigkeit Strategien entwickelt werden müssen, welche Alternativlösungen und -ressourcen mobilisieren, um eine Kompensation dieser Handlungsunfähigkeit herbeizuführen. 5 Diskussion der Ergebnisse Die vorgestellten Analyseergebnisse bilden durch ihre Verortung in einer Fallstudie die Perspektiven der beiden Interviewpartnerinnen ab, weshalb die daraus gewonnenen Implikationen stets nur einen Einblick in ein komplexes Forschungsfeld am Übergang Schule - Beruf abbilden können. Im vorliegenden Fall wird lesbar, dass Inklusion im Übergang durch eine informierte und entscheidungsfähige Rolle der Jugendlichen und ihrer Bezugsperson(en) im Übergang bedingt erscheint. Auf Basis der vorliegenden Ergebnisse kann dies Formen transparenter Informationsvermittlung einschließen. Die Position der zentral in den Übergangsprozessen involvierten Akteur/ innen zeichnet eine passive Rolle in der Vermittlungsstruktur ab, welche durch Unsicherheiten anhand mangelnder Nachvollziehbarkeit der Prozessabläufe bedingt erscheint. Dies bezieht sich im vorliegenden Fall vor allem auf Prozesse der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Unterstützungsmaßnahmen. Fasching, Felbermayr und Hubmayer (2019) heben hervor, dass die Gewährleistung von weitestmöglicher Transparenz bezüglich der Zielsetzung, Rahmenbedingungen, Methoden sowie hinsichtlich der Art der Beziehung zwischen den Beteiligten und ihren Rollen von erheblicher Relevanz in pädagogischen Arbeitsfeldern ist (ebd., S. 185). Auf Systemebene kann dies heißen, dass wiederum Strukturen von Bedeutung erscheinen, welche in der Schaffung expliziter Interaktionssysteme einen wechselseitig anerkennenden Diskursraum herstellen, in welchem dieser Informationstransfer stattfinden kann. Problematisch erscheint dabei auch, wenn Inklusion im Arbeitsumfeld vielmehr in einem politischen Sinne „symbolischen Projektcharakter“ (Becker, 2015, S. 48) annimmt, als mit strukturellen Veränderungen einherzugehen. Weiter erscheint es problematisch, wenn die Irritation der Erwartung erfolgreicher Teilhabe (auch aus der Perspektive der Erzähler/ innen) kausal auf die ‚Behinderung‘ rekurriert, also als individuelle Verantwortung wahrgenommen und damit zu einem dauerhaften Produkt dieser Anpassungsprozesse wird, mit weitreichenden Folgen hinsichtlich der Ausbildung individueller Fähigkeiten. Daran anschließend erscheint die Schaffung einer Kooperationsstruktur von Bedeutung, in welcher ein wechselseitiger und nachvollziehbarer Informationsaustausch zwischen den Jugendlichen, Bezugspersonen, professionellen Unterstützer/ innen, aber auch involvierten Akteur/ innen, welche nicht direkt oder nur teilweise in Interaktion mit den Jugendlichen stehen, stattfinden kann. Bedeutsam erscheint auch die Reflexion und Adressierung potenziell konflikthafter Dynamiken in der Überschneidung unterschiedlicher Interessen zwischen den Jugendlichen und ihrem Arbeitsumfeld, aber auch im familiären Umfeld. Explizit formuliert kann das bedeuten, dass sowohl innerbetriebliche als auch übergeordnete Interventionsinstanzen von Relevanz erscheinen, welche eine Vermittlung von Information zwischen den Jugendlichen und den Akteur/ innen im Arbeitsumfeld sicherstellen und im Sinne systemübergreifender Kommunikation auch stabilisieren können. VHN 4 | 2023 304 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Zuschreibung von Behinderung in einer Dynamik von Selbst- und Fremderwartungen in der Wahrnehmung der Erzählerinnen einer Kompensation beziehungsweise Angleichung bedarf, um den Anforderungen des Übergangssystems entsprechen zu können. Im Übergangsprozess scheint dabei eine Vielzahl von Anpassungsdynamiken wirksam zu werden, welche wiederum mit signifikanten Anforderungen der Ressourcenmobilisierung beziehungsweise Kapitaltransformation verbunden sind. 6 Zusammenfassung In dem vorliegenden Artikel wurden entlang der Erzählungen einer Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Mutter herausfordernde Aspekte des Übergangs von der Schule in die Erwerbstätigkeit nachgezeichnet. Die vorgestellten Analyseergebnisse verweisen auf die Notwendigkeit, institutionelle (Vermittlungs-) Prozesse als transparente Prozesse zu gestalten, in welchen die involvierten Personen über eine weitreichende subjektive Nachvollziehbarkeit der wirksamen Kriterien und Begründungen für den Verlauf eben dieser Prozesse verfügen können. Es erscheint dabei ein wechselseitiger Informationsaustausch zwischen professionellen Unterstützer/ innen, den Personen, welche sich im Übergang befinden, aber auch nicht direkt involvierten Entscheidungsträger/ innen zielführend, in dem vor allem auch die Bedürfnisse der Jugendlichen und ihrer Bezugspersonen ernst genommen werden. Eine differenzierte Identifikation, Adressierung und Mobilisierung der individuell verfügbaren Kapitalressourcen erweist sich als relevanter Zugang, um inklusive Unterstützungsangebote zur Verwirklichung der subjektiv erstrebenswerten Zielsetzungen der Jugendlichen im Übergang zu schaffen und damit auch eine Rückerlangung subjektiv erlebter Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Anmerkungen 1 https: / / www.bundeskost.at/ uebergang-schuleberuf.html, letzter Zugriff: 27. 6. 2022 2 ProjektnummerP-29291,Webseite: https: / / koope ration-fuer-inklusion.univie.ac.at/ 3 Für einen besseren Lesefluss wurden die Erzählsequenzen um Transkriptionsnotationen geglättet. Literatur AMS (2021). Arbeitsmarktlage 2021. Abgerufen am 4. 5. 2023 von https: / / www.ams.at/ arbeitsmarkt daten-und-medien/ arbeitsmarkt-daten-undarbeitsmarkt-forschung/ arbeitsmarktdaten Becker, U. (2015). Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript. Biewer, G., Koenig, O., Kremsner, G., Möhlen, L.-K., Proyer, M., Prummer, S., Resch, K., Steigmann, F. & Subasi Singh, S. (2020). Evaluierung des Nationalen Aktionsplans Behinderung 2012 -2020. Abgerufen am 4. 5. 2023 von https: / / broschue renservice.sozialministerium.at/ home/ Down load? publicationId=750 Bourdieu, P. (1983). Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In R. Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, 183 -198. Göttingen: Verlag Otto Schwartz & Co. Bronfenbrenner, U. (1989). Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Burkart, G. (2008). Lebensalter. In H. Willems (Hrsg.), Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge. Band 2, 533 - 549. Wiesbaden: VS Verlag. Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory. Los Angeles: Sage. Fasching, H. & Felbermayr, K. (2022). Participative cooperation during educational transition: Experiences of young people with disabilities in Austria. Social Inclusion, 10 (2), 358 -368. https: / / doi.org/ 10.17645/ si.v10i2.5079 Fasching, H., Felbermayr, K. & Hubmayer, A. (2017). Forschungsnotiz. Kooperation für Inklusion in Bildungsübergängen. SWS-Rundschau, 57 (3), 305 -323. Fasching, H., Felbermayr, K. & Hubmayer, A. (2019). Die Bedeutung von Beziehungen in der Erforschung inklusiver Übergänge von der Schule in VHN 4 | 2023 305 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG (Aus-) Bildung und Beruf. In H. Fasching (Hrsg.), Beziehungen in pädagogischen Arbeitsfeldern und ihren Transitionen über die Lebensalter, 169 -188. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Fasching, H. & Felkendorff, K. (2007). Länderbericht Österreich. In J. Hollenweger (Hrsg.), Behinderungen beim Übergang von der Schule ins Erwerbsleben, 67 -101. Zürich: Verlag Pestalozzianum. Fasching, H. & Fülöp, A. (2017). Inklusion im Übergang von der Schule in den Beruf in Österreich - Rechtliche, politische und institutionelle Rahmenbedingungen. In: H. Fasching, C. Geppert & E. Makarova (Hrsg.), Inklusive Übergänge - Inclusive Transitions: (Inter)nationale Perspektiven auf Inklusion im Übergang, 79 -93. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Hermes, V. (2019). Systemische Theorie und Inklusion. Wie die systemische Haltung dabei hilft, Selbstbefähigung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten zu stärken. systeme, 33 (1), 24 -46. Houston, S. (2017). Towards a critical ecology of child development in social work: aligning the theories of Bronfenbrenner and Bourdieu. Families, Relationships and Societies, 6 (1), 53 -69. https: / / doi.org/ 10.1332/ 204674315X14281321 359847 Jochmaring, J. (2019). Übergänge von Schüler/ innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Berufsausbildung. Eine Auswertung von Sekundärstatistiken. Zeitschrift für Pädagogik, 65 (3), 335 -354. https: / / doi.org/ 10.25656/ 01: 23 946 Karim, S. & Waldschmidt, A. (2019). Ungeahnte Fähigkeiten? Behinderte Menschen zwischen Zuschreibung von Unfähigkeit und Doing Ability. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 44 (3), 269 -288. https: / / doi.org/ 10.1007/ s1161 4-019-00362-3 Kronauer, M. (2010). Inklusion - Exklusion. Eine historische und begriffliche Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart. In M. Kronauer (Hrsg.), Inklusion und Weiterbildung. Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart, 24 -58. Bielefeld: Bertelsmann. Österreichischer Behindertenrat (2019). Strategische Vorschläge für einen inklusiven Arbeitsmarkt. Umsetzungsvorschläge zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt in Österreich. Abgerufen am 4. 5. 2023 von https: / / www.behindertenrat.at/ wp-content/ uploads/ 2019/ 07/ strategische-Vor schl%C3%A4ge_2019.pdf Schiek, D. (2012). Über das gute Leben. Zur Erosion der Normalbiographie am Beispiel von Prekarität. Bios - Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 25 (1) 50 -68. Siegert, K. (2021). Lebenswege erzählen. Rekonstruktion biographischer Bewältigungsstrategien von Adoleszenten am Übergang Schule - Beruf. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. https: / / doi.org/ 10. 35468/ 5878 Stauber, B., Walther, A. & Pohl, A. (2011). Jugendliche AkteurInnen. Handlungstheoretische Vergewisserungen. In A. Pohl, B. Stauber & A. Walther (Hrsg.), Jugend als Akteurin sozialen Wandels. Veränderte Übergangsverläufe, strukturelle Barrieren und Bewältigungsstrategien, 21 -48. Weinheim: Juventa. Terzi, L. (2005). A capability perspective on impairment, disability and special needs: Towards social justice in education. Theory and Research in Education, 3 (2), 197 -223. https: / / doi.org/ 10. 1177/ 1477878505053301 Trainor, A. A. (2017). Transition by Design: Improving Equity and Outcomes for Adolescents with Disabilities. New York: Teachers College Press. Truschkat, I. & Stauber, B. (2013). Beratung im Übergang: organisations- und subjektorientierte Perspektiven. In A. Walther & M. Weinhardt (Hrsg.), Beratung im Übergang. Zur sozialpädagogischen Herstellung von biographischer Reflexivität, 220 -235. Weinheim: Beltz Juventa. Walther, A. (2011). Regimes der Unterstützung im Lebenslauf: Ein Beitrag zum internationalen Vergleich in der Sozialpädagogik. Opladen: Barbara Budrich. https: / / doi.org/ 10.2307/ j.ctvhktht3 Wansing, G. (2006). Teilhabe an der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung zwischen Inklusion und Exklusion. Unveränderter Nachdruck. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wansing, G., Westphal, M., Jochmaring, J. & Schreiner, M. (2016). Herstellungsweisen und Wirkungen von Differenzkategorien im Zugang zu beruflicher (Aus-)Bildung. In U. Bylinski & J. Rützel (Hrsg.), Inklusion als Chance und Gewinn für eine differenzierte Berufsbildung, 71 -85. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung. Weisser, J. (2005). Behinderung, Ungleichheit und Bildung.EineTheoriederBehinderung.Bielefeld: transcript. https: / / doi.org/ 10.1515/ 9783839402979 York, J. & Jochmaring, J. (2022). Dilemmata einer inklusiven Arbeitswelt. Menschen mit Behinderung zwischen Sondersystemen und Gestaltungschancen einer Arbeitswelt 4.0? ! In B. Schi- VHN 4 | 2023 306 NIKOLAUS HAUER, HELGA FASCHING Perspektiven einer Jugendlichen auf den Übergang in die Erwerbstätigkeit FACH B E ITR AG mek, G. Kremsner, M. Proyer, R. Grubich, F. Paudel & R. Grubich-Müller (Hrsg.). Grenzen. Gänge. Zwischen. Welten. Kontroversen - Entwicklungen - Perspektiven der Inklusionsforschung, 84 -91. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. https: / / doi. org/ 10.35468/ 5924-07 Yosso, T. J. (2005). Whose culture has capital? A critical race theory discussion of community cultural wealth. Race Ethnicity and Education, 8 (1), 69 -91, https: / / doi.org/ 10.1080/ 13613320 52000341006 Anschrift des Autors und der Autorin Nikolaus Hauer, BA MA Prof. Dr. Helga Fasching Universität Wien Institut für Bildungswissenschaft Sensengasse 3 a A-1090 Wien E-Mail: nikolaus.hauer@univie.ac.at helga.fasching@univie.ac.at Sozialraumorientierung ist eine unverzichtbare konzeptionelle Anforderung in der Eingliederungshilfe geworden. Dieses Buch erklärt, wie sich diese Entwicklung verstehen und umsetzen lässt. Methodische Beschreibungen und praktische Hinweise zu personenbezogenen und personenübergreifenden Arbeitsweisen verdeutlichen die Prinzipien der Sozialraumorientierung. Ausgehend von einem ressourcenorientierten, personzentrierten und partizipativen Ansatz wird verdeutlicht, wie betroffene Menschen sich ihr Umfeld noch stärker erschließen und für die eigene Lebensführung nutzen können und wie dies durch Fach- und Leitungskräfte professionell unterstützt werden kann. a www.reinhardt-verlag.de Trotz Behinderung gut vernetzt 2021. 235 Seiten. 11 Abb. 4 Tab. (978-3-497-03022-4) kt