Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2023.art39d
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2023
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Rezension: Felder, Franziska (2022): Die Ethik inklusiver Bildung. Anmerkungen zu einem zentralen bildungswissenschaftlichen Begriff
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2023
Lars Klinnert
Franziska Felder, inzwischen Professorin für Inklusion und Diversität an der Universität Zürich, hat sich seit ihrer Dissertation vor über zehn Jahren wie kaum jemand anders um eine dezidiert ethische Reflexion rechtlicher, politischer und pädagogischer Inklusionsforderungen verdient gemacht. Als Zusammenfassung und Weiterführung ihrer einschlägigen Veröffentlichungen lässt sich die vorliegende Monografie betrachten, welche allerdings in mancherlei Hinsicht enttäuschend ausfällt.
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VHN 4 | 2023 321 REZE NSION E N Das Buch stellt für alle, die das soziale Klima im Klassenzimmer verbessern möchten, eine wertvolle Ressource dar. Es bietet interessierten Leserinnen und Lesern einen schnellen Einstieg und kenntnisreichen Überblick zum Thema und besticht durch eine gelungene Auswahl zentraler Kerninhalte, was angesichts vielfältiger Forschungsstränge im Bereich der sozialen Beziehungen in Schulklassen bemerkenswert ist. Dabei gelingt es besonders gut, theoretische Konzepte und empirische Erkenntnisse prägnant und verständlich in inspirierende Praxisimpulse zur schulischen Beziehungsarbeit zu überführen. Zudem werden am Ende verschiedener Unterkapitel etwa „Anwendungsboxen“ mit konkreten Vertiefungsmöglichkeiten präsentiert, die u. a. auf Ratgeber, Unterrichtsmaterialien oder systematische Trainings- und Förderprogramme verweisen. Trotz seiner Praxisnähe bleibt das Buch stets wissenschaftlich fundiert und enthält zahlreiche Quellenbezüge, von denen auch Personen profitieren, die mit der Materie gut vertraut sind. Die Autorschaft leistet mit diesem kompakten und prägnanten Buch einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse über soziale Beziehungen in die Praxis. Dr. Thomas Begert CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2023.art38d Felder, Franziska (2022): Die Ethik inklusiver Bildung. Anmerkungen zu einem zentralen bildungswissenschaftlichen Begriff Berlin: J. B. Metzler, 266 S., € 54,99 Franziska Felder, inzwischen Professorin für Inklusion und Diversität an der Universität Zürich, hat sich seit ihrer Dissertation vor über zehn Jahren wie kaum jemand anders um eine dezidiert ethische Reflexion rechtlicher, politischer und pädagogischer Inklusionsforderungen verdient gemacht. Als Zusammenfassung und Weiterführung ihrer einschlägigen Veröffentlichungen lässt sich die vorliegende Monografie betrachten, welche allerdings in mancherlei Hinsicht enttäuschend ausfällt. Sicherlich vermag die umfangreiche Kenntnis der internationalen Inklusionsforschung zu beeindrucken. Die Besonderheiten der deutschsprachigen Theorie- und Praxisdebatten hingegen finden leider kaum Berücksichtigung; insbesondere werden die zugegebenermaßen wenigen, aber durchaus profilierten Beiträge zu den normativen Implikationen inklusiver Bildung (etwa von Markus Dederich, Philipp Singer u. a.) vollständig ignoriert. Noch mehr jedoch irritiert die insgesamt eher verworrene Struktur, aus der sich eine systematische Theorie nur mühevoll herausschälen lässt. In großer Ausführlichkeit erörtert die Verfasserin unterschiedliche Aspekte, die ihr für ein differenziertes Verständnis von gesellschaftlicher und insbesondere schulischer Inklusion bedeutsam erscheinen, wozu sie auf eine fast unüberschaubare Vielzahl philosophischer, soziologischer und weiterer Referenztheorien Bezug nimmt. Die produktive Einordnung und Zusammenführung dieser zahlreichen Argumentationsstränge findet dann aber häufig nur unzureichend statt: So wird beispielsweise für die ethische Begründung inklusiver Bildung eine vielversprechende Verknüpfung von sozialer Freiheit im Sinne Axel Honneths mit dem Sen’schen und Nussbaum’schen Capabilities Approach ins Spiel gebracht (vgl. S. 213 -217) - aber anschließend nicht mehr weiter ausgearbeitet. Im Ergebnis plädiert die Verfasserin recht einleuchtend für einen multiperspektivischen und ganzheitlichen Inklusionsbegriff, der für sie (1.) strukturelle und funktionale Einbindung, (2.) materiale Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen, (3.) soziale Integration in gemeinschaftliche Lebensformen sowie (4.) ein subjektives Gefühl von Einbezogen- und Zugehörigsein (vgl. S. 73 -75) beinhaltet. Diese komplexe Matrix von vier miteinander keineswegs spannungsfrei zu vereinbarenden Dimensionen bringt es mit sich, dass sich gelingende Inklusion gerade nicht auf ein definitives Kriterium - wie etwa die Platzierung eines behinderten Kindes an einer Regelschule - reduzieren lässt. Vielmehr sind für die Verfasserin konkrete Maßnahmen stets danach zu beurteilen, ob und inwiefern sie sich als geeignet erweisen, die dem Inklusionsbegriff inhärenten Ziele und Werte von Gleichheit, Freiheit und Anerkennung in einer Art weitem Überlegungsgleichgewicht möglichst umfassend zu verwirklichen (vgl. S. 203 -242). Hierfür erscheint es ihr in erster VHN 4 | 2023 322 REZE NSION E N Linie wichtig, ein „Klima der Inklusion“ (S. 234) zu schaffen, in dem „Gleichwertigkeit und Einzigartigkeit“ (S. 235) aller Schülerinnen und Schüler sowohl strukturell als auch interaktionell zum Ausdruck gelangen. Etwas unklar bleibt, ob die Verfasserin eine inklusive Schule vorrangig als sozialen Gestaltungs- und Verwirklichungsraum personalen Wohlergehens verstanden wissen will (vgl. S. 179 - 182) - oder nicht vielmehr als demokratisches Experimentierfeld für „eine reichhaltige, vielfältige und lebendige Gesellschaft […], in der Menschen einander als gleichwertige Kooperationspartner sehen“ (S. 234). Unterwirft man freilich individuelle Inklusionsansprüche vorschnell dem politischen Ziel einer „Förderung von Gemeinsinn und Gemeinwohl“ (S. 237), droht die (von der Verfasserin selbst durchaus immer wieder benannte) Gefahr, dass plurale Realisierungsoptionen selbstbestimmter Lebensführung „unter eine gesellschaftliche und pädagogische Verpflichtungsdoktrin“ (S. 238) gestellt werden. Hier macht sich bemerkbar, dass die vielleicht entscheidende Frage nach dem Bedingungswie Spannungsverhältnis von sozialer Zugehörigkeit und individueller Freiheit über das gesamte Buch hinweg seltsam in der Schwebe bleibt. Prof. Dr. Lars Klinnert D-44803 Bochum DOI 10.2378/ vhn2023.art39d Kohler, Jürgen (2022): Wissenschaftlich denken und handeln in der Heil- und Sonderpädagogik. Zur Gemeinsamkeit von Forschung und Praxis Weinheim: Beltz Juventa. 322 S., € 24,95 Die Notwendigkeit und Wichtigkeit von professionsspezifischen Handreichungen (nicht nur im Methodenbereich) wird leider durchgängig in der Forschung und der Lehre unterschätzt. Und dies gilt im Besonderen für „weiche“ Fächer wie die Heil- und Sonderpädagogik, die Rehabilitationswissenschaft, Sozialarbeit und die neueren Studiengänge z. B. im Bereich Pflege, Ergotherapie oder die Hebammenausbildung. Egal ob wir jetzt über Statistik, Forschungsmethoden oder über Wissenschaftstheorie sprechen - es gibt hier keine Ansätze, die gemäß der Devise „one fits all“ ohne größeren Adaptationsaufwand, vor allem aber ohne intensiveres Verständnis für das „Funktionieren“ eines Faches, übertragen werden können (der Autor hat das am eigenen Leibe erfahren, als er als ausgebildeter quantitativer Psychologe eine Professur für Forschungsmethoden an einem Department für Heilpädagogik und Rehabilitation übernommen hat). Letztendlich führt die wenig reflektierte Übernahme aus anderen Disziplinen aber auch zu einer „Verwässerung“ und ggfs. zu Standards, die den den Fächern inhärenten Forschungsgegenständen nicht angemessen sind. Umso wichtiger sind Bücher wie das von Jürgen Kohler, die das anspruchsvolle Ziel verfolgen, Methodik und auch Wissenschaftstheorie vor dem Hintergrund langjähriger Erfahrungen in dem Fach in eine kodifizierte Form zu bringen und die als Grundlagenwerke für Studierende, für Forschende und Praktiker/ innen verstanden werden können. Damit das gelingen kann, ist natürlich eine differenzierte und fundierte Auseinandersetzung mit der Entwicklung des eigenen Faches sowie seiner Forschungstraditionen und -paradigmen unumgänglich. Dieser Herausforderung wird Jürgen Kohler an vielen Stellen seines Buches (wenn auch häufig implizit) gerecht, auch wenn ich mir an der einen oder anderen Stelle mehr Selbstbewusstsein „des Faches“ gewünscht hätte. Das Buch enthält insgesamt zwölf Kapitel und spinnt einen (in seinem Aufbau nicht immer nachvollziehbaren) Faden von wissenschaftstheoretischen Vorüberlegungen über die Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Theorie“ (über den sich vortrefflich streiten ließe), die Sammlung von Daten, das Lesen von Theoriearbeiten, experimentelle Designs, Gütekriterien, die Planung und den Ablauf von wissenschaftlichem sonderpädagogischem Denken und Handeln bis hin zu Forschungsfragen und Exkursen zu weiteren
