eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 92/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2023.art41d
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2023
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Rezension: Heine, Matthias (2022): Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache

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2023
Christian Mürner
Es lässt sich behaupten, Unwörter gebe es nicht – trotz der bekannten sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“. Die Negation eines Wortes wäre dessen Nichtvorhandensein. Gibt es aber kaputte Wörter? Also Wörter, die nicht wieder verwendbar, außer Gebrauch oder verboten sind, verhängnisvolle, verunglimpfende, verletzende Wörter? Der Sprachwissenschaftler und Journalist Matthias Heine hat fast 80 Wörter analysiert, die im öffentlichen Umgang kritisiert werden oder als kontaminiert gelten. Die Wörter stammen im Allgemeinen aus den Bereichen Politik und Geschichte oder thematisieren Fremdheit, Geschlecht und Alltägliches wie Asylant, Jude, Indianer, Fräulein, Negerkuss. Ein Anteil von zehn Prozent der von Heine versammelten Wörter gehören zum Thema Beeinträchtigung: behindert, Hasenscharte, invalid, Liliputaner, mongoloid, taubstumm, Wasserkopf, Zwerg.
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VHN 4 | 2023 323 REZE NSION E N relevanten Begrifflichkeiten und abschließenden Literaturempfehlungen. Und natürlich stellt sich die gerechtfertigte Frage, ob das nicht ein „Zuviel“ an Themen ist. In den einzelnen Kapiteln gelingt es Jürgen Kohler immer wieder sehr gut, die Verbindung zu ausgewählten heil- und sonderpädagogischen Beispielen und Handlungsfeldern herzustellen, wobei die Auswahl der Beispiele in den jeweiligen Kapiteln zum Teil „gewollt“ wirkt. Wahrscheinlich wäre es - das schmälert aber den Wert des Werkes in keiner Weise - hilfreich gewesen, zwei oder drei prototypische heil- und sonderpädagogische Fragen auszuwählen, die dann die jeweiligen Kapitel und Inhalte strukturiert hätten. Gerade wenn es um die Breite geht, verliert das Buch an einigen Stellen an Präzision, Verständlich- und Nachvollziehbarkeit (z. B. in den Kapiteln über Wissenschaftstheorie, Gütekriterien oder Statistik). Das ist aber andererseits auch mehr als verständlich, da die Komplexität der Teildisziplinen nur schwer bzw. eigentlich überhaupt nicht auf einige Druckseiten zu reduzieren ist. Deshalb sei mir an dieser Stelle die Anmerkung erlaubt, dass ein „Weniger“ in Kombination mit stringent durchdeklinierten Beispielen ein „Mehr“ hätte sein können. Besonders positiv hervorheben möchte ich aber, dass Kohler dem Untertitel seines Buches „Zur Gemeinsamkeit von Forschung und Praxis“ gerecht wird und oft nur schwer verständliche wissenschaftliche Konzepte (wie z. B. das der Reliabilität) ohne komplizierte Umwege für die Anwender/ innen begreifbar beschreibt. Und zwar so, dass ein Wort „Reliabilität“ nicht mehr benötigt wird und durch ein entsprechendes Konzept (wenn ich mehrfach nacheinander einen Sachverhalt messe, sollten identische Ergebnisse resultieren) anschaulich substituiert wird. Ich habe selbst mehrere Jahre lang eine Vorlesung zu Forschungsmethoden in der Heilpädagogik und Rehabilitation gehalten und hätte mir so ein Buch wie das von Jürgen Kohler mehr als gewünscht - es hätte mir auf der einen Seite viel Anpassungsaufwand erspart, auf der anderen Seite aber (gerade für mich als externe Person) eine anschauliche und pragmatische Orientierung in dem Fach erlaubt. Und das ist nach meiner Auffassung, trotz aller kleineren Monita, ein Alleinstellungsmerkmal. Mir hat das Lesen des Buches wirklich große Freude bereitet, und ich kann es Kolleg/ innen, die in der Heil- und Sonderpädagogik lehren, forschen oder arbeiten, nur wärmstens empfehlen. Es gelingt Jürgen Kohler wirklich exzellent, die Perspektive des Fachs anschaulich zu vermitteln. Prof. Dr. Christian Rietz D-69120 Heidelberg DOI 10.2378/ vhn2023.art40d Heine, Matthias (2022): Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache Berlin: Dudenverlag. 301 S., € 22,- Es lässt sich behaupten, Unwörter gebe es nicht - trotz der bekannten sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“. Die Negation eines Wortes wäre dessen Nichtvorhandensein. Gibt es aber kaputte Wörter? Also Wörter, die nicht wieder verwendbar, außer Gebrauch oder verboten sind, verhängnisvolle, verunglimpfende, verletzende Wörter? Der Sprachwissenschaftler und Journalist Matthias Heine hat fast 80 Wörter analysiert, die im öffentlichen Umgang kritisiert werden oder als kontaminiert gelten. Die Wörter stammen im Allgemeinen aus den Bereichen Politik und Geschichte oder thematisieren Fremdheit, Geschlecht und Alltägliches wie Asylant, Jude, Indianer, Fräulein, Negerkuss. Ein Anteil von zehn Prozent der von Heine versammelten Wörter gehören zum Thema Beeinträchtigung: behindert, Hasenscharte, invalid, Liliputaner, mongoloid, taubstumm, Wasserkopf, Zwerg. Matthias Heine gliedert seine jeweils meistens etwa drei Druckseiten langen Texte zu den einzelnen, einmal mehr, einmal weniger kaputten Wörtern in überzeugender und übersichtlicher Weise in Ursprung, Gebrauch, Kritik und Einschätzung. Beispielsweise stehe der Ursprung der Hasen- VHN 4 | 2023 324 REZE NSION E N scharte im Zusammenhang mit dem Aberglauben, dass eine Frau, die ein Kind mit einer Kiefer- Gaumenspalte gebar, von einem Hasen erschreckt worden sei (S. 97). Der Gebrauch von invalid breite sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Österreich in militärischen Schriften aus. Während es in Deutschland schon lange veraltet sei, werde es in der Schweiz noch immer im Sinne von „arbeitsunfähig, behindert“ gebraucht, etwa im Wort „Invalidenversicherung“ (S. 116). Zur Kritik notiert Heine exemplarisch kurz: „Liliputaner gilt schon länger nicht mehr als angemessene Bezeichnung für kleinwüchsige Menschen“ (S. 147). Und seine Einschätzung zum Stichwort behindert lautet, dass der relativ junge Begriff aus „wohlmeinenden Motiven“ geprägt worden sei, doch: „Es gibt keinen Grund, ihn nicht durch einen besseren Ausdruck zu ersetzen, wenn dieser gefunden werden sollte“ (S. 34). Im Folgenden werden zwei Stichwörter herausgegriffen: Hottentotten und Schwarzfahrer/ Schwarzfahren. Hottentotten ist eine aus dem Niederländischen stammende und zur Zeit der Kolonien entstandene Bezeichnung für die Khoikhoi-Völker im südlichen Afrika. Sie war von Anfang an diskriminierend gedacht und bezog sich auf die Sprache der Khoikhoi, die von den Kolonialisten als ein Stottern wahrgenommen wurde (S. 104ff.). Das Wort ist veraltet und erniedrigend. Der bekannte Sprachkritiker und Journalist Wolf Schneider (1925 -2022) gab seiner 2015 erschienenen Autobiografie den Titel „Hottentottenstottertrottel“, den Spottnamen, den er in seiner Jugend verpasst bekam. - Die Herkunft des Wortes Schwarzfahrer ist unbekannt. Zwar wird häufig behauptet, Schwarzfahren stamme aus dem Jiddischen, wo shwartz „Armut“ bedeute, was aber nicht zutrifft. Eher zutreffend ist, dass im Rotwelschen mit Schwarzfahrer ein „Schmuggler“ gemeint sein konnte (S. 222ff.). Doch Schwarzfahren wird vor allem im Zusammenhang mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gebraucht. Nach Protesten schwarzer Menschen, die Bezeichnung sei rassistisch, obwohl das Wort ursprünglich keinen Bezug zur Hautfarbe hat, wird es seit 2021 zunehmend in der Werbung und anderen Texten der Verkehrsbetriebe ersetzt durch „Fahren ohne gültigen Fahrschein“. Juristisch heißt der Tatbestand „Beförderungserschleichung“. Bei der Erörterung der prekären Wörter, die beleidigen, diskreditieren und vor allem Personen symbolisch herabsetzen, entsteht ein Dilemma. Gerade bei der Forderung ihrer Vermeidung werden sie oft genannt und reproduziert oder es wird mit Kürzeln indirekt auf sie hingewiesen, siehe N-Wort (S. 186). Das Problem der Sprachpolizei (S. 231) ist die Flexibilität der Sprache. Weitere ebenso aufschlussreiche Stichwörter wie Kolonie, Migrationshintergrund, Milch, Völkerball werden in gleicher Art und Weise prägnant, klar und manchmal mit feinem Humor referiert. Entgegen den sonst oft verbreiteten hartnäckigen Auffassungen präsentiert Matthias Heine eine sachliche, fundierte Darstellung zum „Umgang mit heikler Sprache“. (P.S. Vor einigen Jahren hat Hans Wocken in der VHN 3/ 2011 in einem „Provokativen Essay“ mit dem Titel „Unwörter der Sonderpädagogik“ auf einige neu gebildete, sozusagen von Anfang an kaputte Wörter in der Sonderpädagogik - Förderbedarf, passgenau, diagnosegeleitete Förderung, Kompetenzzentrum - aufmerksam gemacht! ) Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2023.art41d