eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 93/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2024
933

Rezension: Mürner, Christian (2023): Verkannte Figuren. Literatur, Lebenswelt, soziale Lesarten

71
2024
Martin Baumgartner
Der 1948 in Zürich geborene Behindertenpädagoge Christian Mürner, der seit 1977 in Hamburg lebt und wirkt, ist den Leserinnen und Lesern der VHN durch viele kleinere und größere Beiträge bekannt, die er in den vergangenen Jahren in der Zeitschrift veröffentlicht hat. Besonders hervorzuheben sind hier die zahlreichen Rezensionen, die an dieser Stelle erschienen sind und die sich meist auf Bücher beziehen, welche im kulturhistorischen Umfeld der Heil- und Sonderpädagogik zu verorten sind. Man könnte auch sagen, dass sie Themen behandeln, die im heilpädagogischen Fachdiskurs, wenn überhaupt, nur am Rande auftauchen, aber deswegen nicht weniger wichtig und relevant sind. Desgleichen die eigene Buchproduktion des Autors Christian Mürner: Viele seiner neueren Publikationen bewegen sich im Spannungsfeld von Kunst und Literatur und Behinderung (Stichwort art brut) oder sie porträtieren Menschen mit Beeinträchtigungen aus verschiedenen Jahrhunderten im Bezug zu den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und was daraus entsteht (etwa „Der hinkende Bote“). Vor Kurzem ist bei Beltz Juventa ein neues Buch von Christian Mürner erschienen, dessen Titel, „Verkannte Figuren. Literatur, Lebenswelt, soziale Lesarten“, einen im ersten Moment ratlos zurücklässt. Wer sind die „verkannten Figuren“, und was beinhalten „Literatur, Lebenswelt, soziale Lesarten“? Der Klappentext mag etwas zur Erhellung beitragen: „Die Komplexität der Figuren und Personen mit Behinderung in Literatur und Lebenswelt bleibt weitgehend unberücksichtigt. (…) Christian Mürner stellt in diesem Buch eine Auswahl an Erzählungen vor, die die Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten anschaulich machen und deren Potenzial und Pluralität würdigen.“
5_093_2024_003_0231
VHN 3 | 2024 231 REZE NSION E N Transfer auf Beratungskontexte zu. Wissenswertes zu Gutachten im Kinderschutz und eine Abgrenzung zwischen Kindesvertretung und Beistandschaft runden diesen Teil ab. Teil 4 veranschaulicht das professionelle Handeln der Kindesvertretung in verschiedenen Handlungsfeldern anhand der Darstellung von sieben Fallbeispielen. Die reflexiven Anteile in deren Schilderung machen den schwierigen Balanceakt, in dem sich die Kindesvertretung bewegt, sowie die Komplexität und Vielfalt der Bedarfslagen erfahrbar. Teil 5 öffnet den Raum für unveränderte Stellungnahmen weiterer Fachpersonen und Entscheidungsträger/ innen, die in ihrer beruflichen Praxis mit Kindesvertreter/ innen kooperieren und bereit sind, ihre Erfahrungen und Einschätzungen zu guter Praxis sowie ihre kritisch-konstruktiven Anliegen an diese zu teilen. Angesichts der Ausdifferenzierung systemischer und interdisziplinärer Handlungsansätze auch in anderen Arbeitskontexten eilt dieses Buch mit seiner transdisziplinären Ausrichtung geradezu voraus. Die konstitutiven Spannungsfelder, die diesem Arbeitsfeld und dem Kinderschutz genuin innewohnen, werden nicht aufgelöst. Leserinnen und Leser mögen daher geneigt sein, sich die Schreibretraiten vorzustellen und ob sich die Kontroversen um die Kindesvertretung und ein Ringen in den Vertretungsmandaten in ihnen niedergeschlagen haben. Der Diskurs wird weiterhin gefördert und gefordert. Es bleibt den Leser/ innen überlassen, aus der Fülle der Leitlinien und Gedanken diejenigen herauszugreifen, die für den eigenen Arbeitskontext und Auftrag relevant sind und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung anregen. Das Buch spiegelt das Ergebnis eines intensiven Fachdiskurses wider, die Suche nach einer gemeinsamen transdisziplinären Sprache durchdringt es als Metaprozess. Das ambitionierte Unterfangen kann als gelungen bezeichnet werden, denn das Werk spannt thematisch einen weiten Bogen zwischen den Disziplinen und zeichnet sich dennoch durch innere Geschlossenheit aus. Die drei Schlagworte des Untertitels, als Versprechen und Anspruch in der Sache, gewinnen bei der Lektüre in doppelter Hinsicht an Profil als Gütekriterium: für gute Kindesvertretung und für das Buch selbst. Es bleibt zu hoffen, dass, nicht zuletzt begünstigt durch die vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützte Open-Access-Publikation, viele Menschen der transdisziplinären 360-Grad-Einladung des Buches folgen, sich der Lektüre widmen und sich dem Diskurs öffnen. lic. phil. Susanne von Graffenried-Flückiger CH-3006 Bern DOI 10.2378/ vhn2024.art23d Mürner, Christian (2023): Verkannte Figuren. Literatur, Lebenswelt, soziale Lesarten Weinheim: Beltz Juventa. 179 S., € 22,- Der 1948 in Zürich geborene Behindertenpädagoge Christian Mürner, der seit 1977 in Hamburg lebt und wirkt, ist den Leserinnen und Lesern der VHN durch viele kleinere und größere Beiträge bekannt, die er in den vergangenen Jahren in der Zeitschrift veröffentlicht hat. Besonders hervorzuheben sind hier die zahlreichen Rezensionen, die an dieser Stelle erschienen sind und die sich meist auf Bücher beziehen, welche im kulturhistorischen Umfeld der Heil- und Sonderpädagogik zu verorten sind. Man könnte auch sagen, dass sie Themen behandeln, die im heilpädagogischen Fachdiskurs, wenn überhaupt, nur am Rande auftauchen, aber deswegen nicht weniger wichtig und relevant sind. Desgleichen die eigene Buchproduktion des Autors Christian Mürner: Viele seiner neueren Publikationen bewegen sich im Spannungsfeld von Kunst und Literatur und Behinderung (Stichwort art brut) oder sie porträtieren Menschen mit Beeinträchtigungen aus verschiedenen Jahrhunderten im Bezug zu den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und was daraus entsteht (etwa „Der hinkende Bote“). VHN 3 | 2024 232 REZE NSION E N Vor Kurzem ist bei Beltz Juventa ein neues Buch von Christian Mürner erschienen, dessen Titel, „Verkannte Figuren. Literatur, Lebenswelt, soziale Lesarten“, einen im ersten Moment ratlos zurücklässt. Wer sind die „verkannten Figuren“, und was beinhalten „Literatur, Lebenswelt, soziale Lesarten“? Der Klappentext mag etwas zur Erhellung beitragen: „Die Komplexität der Figuren und Personen mit Behinderung in Literatur und Lebenswelt bleibt weitgehend unberücksichtigt. (…) Christian Mürner stellt in diesem Buch eine Auswahl an Erzählungen vor, die die Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten anschaulich machen und deren Potenzial und Pluralität würdigen.“ Mithilfe dieser Erklärung lüftet sich der Schleier des rätselhaften Buchtitels zumindest ein Stück weit und es wird schon mal deutlicher, wer mit den „verkannten Figuren“ gemeint ist: Menschen mit einer Behinderung. Genauer: Personen oder Figuren mit Behinderung in literarischen Werken. Über das ganze Buch verteilt präsentiert Mürner eine Vielzahl von Beispielen behinderter Figuren in der Literatur aus mehreren Jahrhunderten. Abgesehen vom Inhalt erstaunt die schiere Fülle der zitierten Werke und Autorinnen und Autoren, darunter auch solchen, von denen wohl auch kundige Leserinnen und Leser noch kaum je etwas gehört haben. Die beeindruckende Belesenheit Mürners und seine minuziöse Kenntnis der Materie, eben des Bildes behinderter Menschen in der Literatur über die Epochen und Kulturräume hinweg, bieten Gewähr für eine fundierte, gewissenhafte, nüchterne Analyse. Der Einstieg ins Buch geschieht über ein Quäntchen Literaturtheorie als Voraussetzung und Verständnishilfe für das Folgende, indem der Unterschied zwischen Person und Figur behandelt wird, gespickt mit verschiedenen Beispielen zur Illustration des doch eher trockenen Gegenstands. Aus der großen Menge an besprochenen Werken seien zwei exemplarisch hervorgehoben: Das erste ist der 2022 erschienene Roman „Leichte Sprache“ der spanischen Schriftstellerin Cristina Morales. Als raffinierte poetische Montage bezeichnet Mürner den Roman, dessen Hauptfiguren vier Frauen mit einer zugeschriebenen geistigen Behinderung sind, die für sich sprechen und dies abseits aller gängigen Klischees tun. Als radikales Plädoyer für Selbstbestimmung und Autonomie kann der Roman gelesen werden, doch er reicht in seiner unkonventionellen Sprache und Form weit darüber hinaus - ein ungewohntes, (ver)störendes Selbstportrait von vier Frauen mit dem Etikett „geistige Behinderung“. Ein anderes Kapitel, das hier besonders erwähnt werden soll, befasst sich mit dem populären belgischen Schriftsteller Georges Simenon (1903-1989), dessen Kommissar Maigret weltweite Bekanntheit genießt. Dass Simenon auch im Kontext von Menschen mit Behinderung in der Literatur erwähnt wird, mag erstaunen, ist aber nicht abwegig: Die Hauptfigur im Roman „Die Tür“, welchen Mürner ausführlich vorstellt, ist der Kriegsinvalide Bernard Foy, der durch die Explosion einer Mine beide Hände verloren hat. Die Behinderung steht jedoch nicht im Zentrum der Erzählung, sondern es geht um Liebe, Eifersucht, Enttäuschungen. Aber gerade diese Darstellung eines behinderten Menschen, der nicht auf seine Behinderung reduziert ist, der selbstbestimmt lebt und ein Sexualleben hat, war zu Beginn der 60er-Jahre, als das Buch erschien, ein Tabubruch. „Behinderte Menschen galten gewissermaßen als geschlechtslos und ohne eigenen Willen. Sie waren weitgehend Objekt der Fürsorge“ (S. 77f.). Die Behinderung von Bernard Foy ist nicht das ausschlaggebende Moment des Romans, vielmehr handelt es sich hier um die Geschichte eines Mannes, der halt auch noch körperlich behindert ist. Eine durchaus moderne Sicht. Das Buch von Christian Mürner ist ein vielschichtiges, facettenreiches Panorama von Darstellungen von Menschen mit Behinderung in der Literatur aus unterschiedlichen Kulturräumen. Es bietet in seiner Komplexität und mit seinen Verflechtungen und Querverweisen keine einfache Lektüre, und es ist auch nicht immer leicht, den Gedanken(sprüngen) des Autors zu folgen. Wer sich aber darauf einlässt, wird mit einem tiefen, bereichernden Einblick in eine oft kaum wahrgenommene Welt belohnt. lic. phil. Martin Baumgartner CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2024.art24d