eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 93/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2024.art05d
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Fachbeitrag: Schüler/innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen - Ergebnisse einer bundesweiten Befragung zum Erleben der Schulsituation

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Christian Walter-Klose
Andreas Seiler-Kesselheim
Chronisch-somatische Erkrankungen können erhebliche Auswirkungen auf das individuelle Erleben des Schulbesuchs von Kindern und Jugendlichen haben. Obwohl die Prävalenzen stabile Werte von 10–15% signalisieren, existieren kaum nationale Studienergebnisse, die diesem komplexen Wechselgefüge aus möglichen personalen Funktionseinschränkungen und ihren Auswirkungen auf den Schulbesuch auf den Grund gehen (Seiler-Kesselheim & Walter-Klose, 2023). An dieser Stelle setzt die oben genannte Studie an und untersucht nach einem Modell zur Qualität inklusiver Bildungsangebote (Walter-Klose, 2012) mithilfe eines Fragebogens zur Selbsteinschätzung die Rückmeldungen von 134 Schüler/innen. In einem explorativen Studiendesign wurden vielfältige Fragen zum schulischen Erleben und den Anpassungserfordernissen von Allgemeinen Schulen im Hinblick auf chronisch-somatische Erkrankungen gestellt. Zentrale Ergebnisse verweisen auf notwendige Anpassungserfordernisse im Schulkontext und Vernetzungen mit außerschulischen Unterstützungssystemen. Auch wird deutlich, dass subjektiv besser angepasste Schulen bei den Lernenden bessere Bildungsergebnisse ermöglichen.
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52 VHN, 93. Jg., S. 52 -68 (2024) DOI 10.2378/ vhn2024.art05d © Ernst Reinhardt Verlag Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen - Ergebnisse einer bundesweiten Befragung zum Erleben der Schulsituation Christian Walter-Klose Hochschule für Gesundheit, Bochum Andreas Seiler-Kesselheim Technische Universität Dortmund Zusammenfassung: Chronisch-somatische Erkrankungen können erhebliche Auswirkungen auf das individuelle Erleben des Schulbesuchs von Kindern und Jugendlichen haben. Obwohl die Prävalenzen stabile Werte von 10 -15 % signalisieren, existieren kaum nationale Studienergebnisse, die diesem komplexen Wechselgefüge aus möglichen personalen Funktionseinschränkungen und ihren Auswirkungen auf den Schulbesuch auf den Grund gehen (Seiler-Kesselheim & Walter-Klose, 2023). An dieser Stelle setzt die oben genannte Studie an und untersucht nach einem Modell zur Qualität inklusiver Bildungsangebote (Walter-Klose, 2012) mithilfe eines Fragebogens zur Selbsteinschätzung die Rückmeldungen von 134 Schüler/ innen. In einem explorativen Studiendesign wurden vielfältige Fragen zum schulischen Erleben und den Anpassungserfordernissen von Allgemeinen Schulen im Hinblick auf chronisch-somatische Erkrankungen gestellt. Zentrale Ergebnisse verweisen auf notwendige Anpassungserfordernisse im Schulkontext und Vernetzungen mit außerschulischen Unterstützungssystemen. Auch wird deutlich, dass subjektiv besser angepasste Schulen bei den Lernenden bessere Bildungsergebnisse ermöglichen. Schlüsselbegriffe: Chronisch-somatische Erkrankungen, Allgemeine Schule, Inklusion, schulische Anpassungserfordernisse, Anpassungsqualität Students with Chronic Somatic Disease - Results of a Nationwide Survey on Their Experience of the School Situation Summary: Chronic somatic diseases can influence school experiences of children and young adults. Although the prevalence signals stable values of 10 -15 %, national empirical studies addressing the interplay of personal functional restrictions and their effects on school attendance are rare (Seiler-Kesselheim & Walter-Klose, 2023). The presented study examines the feedback from 134 students using a self-assessment questionnaire based on a model for the quality of inclusive educational offers (Walter-Klose, 2012). In an explorative study design, a variety of questions were asked about the school experience and the adjustment requirements of general schools with regard to chronic somatic diseases. Central results refer to necessary adjustment requirements in the school context and networks with extracurricular support systems. It also becomes clear that schools that are subjectively better adjusted enable better educational outcomes for learners. Keywords: Chronic somatic diseases, general school, inclusion, school adjustment requirements, adjustment quality FACH B E ITR AG VHN 1 | 2024 53 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG 1 Schüler/ innen mit chronischen Erkrankungen In den letzten Jahren wurden vielfältige Bestrebungen unternommen, die schulische Inklusion in Deutschland voranzutreiben und Bedingungen zu fördern, die eine gleichberechtigte Teilhabe und chancengleiche Schulbildung für Menschen mit Beeinträchtigungen ermöglichen. Der Anteil an Schüler/ innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, die eine allgemeine Schule besuchen, hat vor diesem Hintergrund nachhaltig zugenommen (KMK, 2022) - wenn auch Personengruppen mit einer umfassenderen Beeinträchtigung und einem erhöhten Unterstützungsbedarf im Bereich Pflege oder Therapie häufiger eine Förderschule besuchen (Lelgemann, Singer, Lübbeke & Walter- Klose, 2012; Singer, Walter-Klose & Lelgemann, 2016; Biewer, Kremsner & Proyer, 2022). Zur Verbesserung der schulischen Inklusion sind neben theoretischen Überlegungen empirische Arbeiten notwendig, mit denen die Qualität der Schulsituation beschrieben und Verbesserungs- und Gelingensbedingungen ermittelt werden können. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche mit chronisch-somatischen Erkrankungen - deren schulische Situation im deutschsprachigen Raum bislang kaum empirisch untersucht wurde (Seiler-Kesselheim & Walter-Klose, 2023; Hoffmann et al., 2018). Eine besondere Bedeutung bekommt das Thema in den letzten Jahren in der Diskussion um „Schulgesundheitsfachkräfte“ - ein Thema, das in Anlehnung an die „school nurses“ im internationalen Kontext (Fried et al., 2018; Lineberry, 2016; Wei et al., 2017) auch in Modellprojekten in Deutschland Potenziale im Kontext chronischsomatischer Erkrankung verspricht (Fischer et al., o. J.; Paulus & Petzel, 2021; Tannen, Adam, Ebert & Ewers, 2018). Definitionen des Personenkreises verweisen auf die Tatsache, dass die Kinder und Jugendlichen somatische Erkrankungen haben, „die über einen längeren Zeitraum andauern, wenig Besserung zeigen und/ oder als nicht heilbar gelten“ (Warschburger, 2009, S. 27). Meistens stehen chronisch-somatische Erkrankungen im Fokus - manchmal werden auch psychische oder psychosomatische Erkrankungen zu den chronischen Erkrankungen gezählt. Länger andauernde Gesundheitsprobleme und chronische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen sind keine Seltenheit. Scheidt- Nave und Kollegen fanden beispielsweise, dass 38 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 0 - 17 Jahren laut Aussagen ihrer Eltern ein längerdauerndes Gesundheitsproblem (wie z. B. Migräne, Asthma, Diabetes oder Epilepsie) haben und 10 % von ihnen auf spezifische medizinische, psychologische und therapeutische Versorgungsmaßnahmen angewiesen sind (Scheidt-Nave, Ellert, Thyen & Schlaud, 2008). Petermann und Noeker (2013, S. 538) kommen zu ähnlichen Ergebnissen und schätzen die Prävalenz von chronischen Erkrankungen, insbesondere von chronisch-somatischen Erkrankungen, auf 10 bis 15 Prozent. Das Vorliegen chronisch-somatischer Erkrankungen kann das Leben und Lernen der Kinder und Jugendlichen in vielfältiger Weise beeinflussen. Domsch, Vierhaus und Lohaus (2018) beschreiben beispielsweise negative Auswirkungen auf das Lernen, die Konzentration, das Wohlbefinden und die soziale Teilhabe - Befunde, die von Hedderich und Tscheke (2013), aber auch durch umfangreiche internationale Studien gestützt werden (Kosola et al., 2017; Lum et al., 2017; 2019; Runions et al., 2020; Wager et al., 2020). Im Zusammenhang mit Inklusion muss es in diesem Sinne darum gehen, schulische Lernbedingungen in einer Weise zu gestalten, die Kindern und Jugendlichen mit chronisch-somatischen Erkrankungen die schulische Teilhabe ermöglichen und - in optimaler Weise - zusätzliche pathogene Belastungsfaktoren reduzieren (Walter-Klose, 2022). VHN 1 | 2024 54 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG Versucht man herauszufinden, wie sich die Lernsituation für Schüler/ innen mit chronischsomatischen Erkrankungen in Deutschland zeigt, ist die Befundlage trotz insgesamt hoher Prävalenzen ernüchternd, wie eine von Seiler- Kesselheim und Walter-Klose (2023) durchgeführte systematische Literaturrecherche zeigt. Unter Hinzunahme internationaler Forschungsarbeiten wurde deutlich, dass der gesundheitsbezogene Unterstützungsbedarf sowie die Auswirkungen chronisch-somatischer Erkrankungen auf das Lernen die Schule vor vielfältige Probleme stellen und notwendige Adaptionen nicht immer umgesetzt werden. Die Autoren erwähnen dabei insbesondere die Kompetenz von Lehrkräften, die gesundheitliche Situation von Schüler/ innen zu erkennen, und die Notwendigkeit, Wissen über Erkrankungen und Auswirkungen auf das Lernen zu erwerben, als wichtige Gelingensbedingung. So wird es möglich, Beschulungskonzepte zu individualisieren und den Unterricht bedarfsgerecht und flexibel zu gestalten - wobei Letzteres Regelungen zu krankheitsbedingten Abwesenheitszeiten, den Einbezug von Erholungsphasen im Schultag oder das Gewähren von Nachteilsaus- Schüler*innen n Persönlichkeit n Fähigkeiten und Kompetenzen n Gesundheitszustand n Sonderpädagogischer Förderbedarf n Personenbezogene Faktoren (z. B. Religion, Migration) Schule n Schulleitung n Kultur & Ethos n Schulorganisation ▪ Architektur- & Raumgestaltung ▪ Ausstattung, Sachmittel ▪ Organisation von Prozessen und Abläufen (z.B. Pausengestaltung, Kooperation, Problemlösung) ▪ Personalmanagement (Fortbildung) Unterricht & Lehrkraft n Unterrichtsgestaltung n Lehr- und Lernmittel n Erfahrung und Qualifikation n Kooperationen (Eltern, Schulbegleitung, Kolleg*innen) n Ausflüge (An)Passung Veränderungen über die Zeit Klasse und Schule z. B. Abschneiden in schulweiten Lehrstandserhebungen; Schul- und Klassenklima; Gesundheit und Belastung der Lehrkräfte Bildungssystem z. B. Analysen des Schulsystems (z. B. PISA); Inklusionsquote; Gesundheit und Belastung der Lehrkräfte Schüler*in Akademische, soziale, persönliche und gesundheitsbezogene Entwicklung; Beruf Kurz- und langfristige Effekte Spezifische Unterstützung & Hilfen (z.B. medizinische, therapeutische, heilpädagogische, pflegerische Hilfen; Dolmetscher*innen; Beratungsstellen) Kulturelle, Politische, Wissenschaftliche und Gesellschaftliche Faktoren Rahmenbedingungen & Administration (z. B. Schulministerium, Schulaufsicht, Schulverwaltung; Jugendamt; Sozialhilfeträger) Unterstützende Lebensbereiche (z. B. Familie, Gemeinwesen, …) Abb. 1 Modell zur Qualität inklusiver Bildungsangebote VHN 1 | 2024 55 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG gleichen betrifft (Lum et al., 2017, S. 655f.). Auch ist die Zusammenarbeit mit Fachkräften aus der Medizin und der Schulkrankenpflege ebenso ein Beitrag zur Verbesserung der Lernsituation (Kosola et al., 2017, S. 1828f.) wie Kooperationen mit Familien und Eltern (Peery, Engelke & Swanson, 2012, S. 6; Walcott & Kazmerski, 2017, S. 234f.). Als letztes Merkmal kann an dieser Stelle ein gezieltes Gestalten des sozialen Miteinanders in Schule und Unterricht betont werden, mit dem Ausgrenzungs- und Diskriminierungsprozessen entgegengewirkt (Simons, Logan, Chastain & Stein, 2010, S. 20) und eine für alle förderliche Klassenatmosphäre gestaltet wird. Versucht man die Befunde zu strukturieren, eignet sich eine qualitätsbezogene Betrachtung, bei der eine ökosystemische Perspektive (Bronfenbrenner, 1981) mit Ansätzen zur Beschreibung von Schulqualität verwoben (Ditton, 2000) und um den für Inklusion notwendigen Adaptionsprozess erweitert wird (Walter-Klose, 2012). Das Modell zur Qualität inklusiver Bildungsangebote kann hier eine wichtige Hilfe sein (vgl. Abbildung 1). Im Rahmen des Modells wird davon ausgegangen, dass sich die Qualität der Passung von Schule und lernender Person in den Ergebnissen schulischer Bildung für die Bereiche Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheit und soziale Teilhabe zeigt. In einer optimal angepassten Bildungssituation besteht in diesem Sinne Chancengleichheit für alle Lernenden einer Klasse und die Möglichkeit, gemäß dem individuellen Potenzial gleichwertige Bildungsergebnisse zu erzielen. Für Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen sollte zudem die Belastungssituation reflektiert werden, um krankmachende Belastungsmomente zu reduzieren. Wichtige Prozess- und Strukturmerkmale, die die schulische Teilhabe, Gesundheit und Lernerfolg beeinflussen, sind in den Bereichen der Unterrichtsgestaltung durch die Lehrkraft sowie in schulischen Rahmenbedingungen ebenso zu sehen wie im Bereich außerschulischer Rahmenbedingungen (Walter-Klose, 2022). Diese Überlegungen stellen die Grundlage der vorliegenden Arbeit dar. Sie verfolgt das Ziel, Befunde zur Lernsituation von Schüler/ innen mit chronisch-somatischer Erkrankung zu ermitteln. 2 Methodisches Vorgehen Mit dem Ziel, zur Beantwortung der Fragestellung eine größtmögliche Zahl an Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen in Deutschland zu erreichen, wurde eine Online- Befragung geplant, mit der Schüler/ innen mit unterschiedlichen Erkrankungen zum Erleben der Schulsituation und zur subjektiven Passung von Schule zum Lernenden befragt werden sollten. Zu diesem Zweck wurde eine Akquise über Selbsthilfeverbände, in der Eltern und/ oder Schüler/ innen organisiert sind, geplant. Auf diese Weise bestand die Möglichkeit, möglichst viele Schüler/ innen zu erreichen und zu ihrem Erleben zu befragen. Mit Blick auf die Fragestellung und ihren explorativen Charakter konnte in Kauf genommen werden, dass diese Strategie nicht zu einer repräsentativen Stichprobe führt, da angenommen werden kann, dass nur ein Teil der avisierten Stichprobe auch in der Selbsthilfe aktiv ist. Aus ethischen Gründen wurde das Mindestalter der Teilnehmenden auf 16 Jahre festgelegt, da in dieser Altersstufe von einem informierten Einverständnis auszugehen ist und zusätzliche Einverständniserklärungen in der Regel nicht notwendig sind. Im Laufe der Planung der Studie begann die Corona-Pandemie, die das schulische Leben aller Schüler/ innen in umfassender Weise beeinflusste - insbesondere mit Blick auf die VHN 1 | 2024 56 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG vulnerable Gruppe der Menschen mit chronischen Erkrankungen (Fickermann & Edelstein, 2021; Lindmeier et al., 2022). Vor diesem Hintergrund ergab sich für die Studie die Herausforderung, dass aufgrund von Schulschließungen und „Home Schooling“ eine Befragung zur „normalen“ Schulsituation nur retrospektiv - mit der Perspektive der Zeit vor Corona - möglich war, sodass die Fragebögen diesbezüglich angepasst werden mussten. Gleichzeitig eröffnete sich jedoch auch die Möglichkeit, ergänzend das Erleben während der Corona-Pandemie für die Zielgruppe zu erfragen. Der Fragebogen wurde mit Bezug zum Modell zur Qualität inklusiver Bildungsangebote, der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation sowie dem School Setting Interview SSI in der Version 3.0 von Hemmingsson, Egilson, Hoffman und Kielhoffner (2012) konzipiert. Das letztgenannte Verfahren stellt ein strukturiertes Interview dar, in dem die Passungsqualität von Schule und Schüler/ in auf 16 Aktivitätsdimensionen bewertet wird. Für den Fragebogen wurden die Kategorien genutzt, teilweise leicht umformuliert und zusammengefasst, sowie mit Fragen, die sich aus der Logik des Modells zur Qualität inklusiver Bildungsangebote ergeben, ergänzt. Einen inhaltlichen Überblick über den Fragebogen gibt Tabelle 1: Neben Fragen zur Person, zur Erkrankung und ihren Auswirkungen auf die schulische Teilhabe sowie Fragen zur Schulsituation und zu Unterstützungsbedarfen Personbezogene Fragen n Alter n Geschlecht n Schulform n Bundesland n Jahrgangsstufe Krankheitsbezogene Merkmale n Diagnose n Unterstützungsbedarfe (personale Hilfe, Pflege- und Assistenzbedarf, technische Hilfsmittel) n Funktionale Auswirkungen der Erkrankung n Schmerzen Fragen zur Schulsituation n Sonderpädagogischer Förderbedarf n Nachteilsausgleich n Einschätzung zur Lehrkraft (Wissen über Erkrankung und Auswirkungen auf Lernen) n Probleme im Umgang mit Erkrankung n Anpassungsqualität n Gelingensbedingungen Ergebnisse schulischer Bildung n Auswirkungen der Erkrankung auf Schulerfolg, Zufriedenheit, gesundheitliche Situation und soziales Miteinander (Freunde, Diskriminierungserfahrung) Fragen zur Coronasituation n Subjektive Veränderung der Lernsituation n Belastungen und Herausforderungen n Gelingensbedingungen, Verbesserungsvorschläge n Beibehalten von Anpassungen nach der Pandemie Feedback zum Fragebogen n Positives und Negatives zum Fragebogen Tab. 1 Aufbau und Struktur des Fragebogens VHN 1 | 2024 57 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG enthielt der Fragebogen weiterhin Fragen zu Barrieren und Gelingensbedingungen sowie zu der selbsteingeschätzten schulischen Entwicklung und Teilhabe. Der Fragebogen war in der Sprache einfach gestaltet und an einer Zielgruppe von Schüler/ innen der Sekundarschule orientiert. Zusätzlich zu dem Hauptfragebogen wurden Fragen zum Erleben der Schulsituation während der Corona-Pandemie gestellt. Die Ergebnisse der Corona-Studie werden separat berichtet (Walter-Klose & Seiler-Kesselheim, 2023). Im nächsten Schritt wurden die E-Mail-Adressen aller Selbsthilfeverbände in Deutschland ermittelt, die im Katalog der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe aufgeführt waren und von denen erwartet werden konnte, dass Schüler/ innen mit chronisch-somatischer Erkrankung (oder ihre Eltern) in ihnen organisiert sind. So konnten Schüler/ innen direkt oder vermittelt durch ihre Eltern um Teilnahme gebeten werden. Insgesamt wurden 695 Selbsthilfeverbände mit der Bitte um Unterstützung der Studie und Weiterleitung der Teilnahmeanfrage an ihre Mitglieder angeschrieben. Zudem unterstützte das Kindernetzwerk e.V. die Teilnahme und machte auf ihren Social- Media-Kanälen auf die Studie aufmerksam. Die Online-Befragung wurde im Zeitraum vom 1. 4. 2021 bis 30. 6. 2021 mit Lime-Survey durchgeführt. 3 Ergebnisse An der Studie beteiligten sich 134 Schüler/ innen im Alter von 16 bis 31 Jahren. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden war 18,3 Jahre (Standardabweichung SD 2,8). 73,9 % ordneten sich dem weiblichen Geschlecht zu, 23,9 % dem männlichen und eine Person der Kategorie „divers“. Zwei Personen äußerten sich zu dieser Frage nicht. Mit Blick auf die besuchte Schulform gaben 69,4 % der Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, eine Regelschule im Sekundarbereich zu besuchen, während sich 26,7 % den berufsbezogenen Schulen und 3 % der Förderschule als Schulform zuordneten. Die Teilnehmer/ innen kamen aus allen Bundesländern Deutschlands, wobei die Größe der Bundesländer sich auch in den Teilnahmequoten widerspiegelten: Mit 21,6 % war der Anteil der Schüler/ innen aus Nordrhein-Westfalen am größten, gefolgt von Baden-Württemberg (11,9 %), Sachsen (11,2 %), Bayern (10,4 %), Niedersachen (8,2 %) und Brandenburg (7,5 %). Bei allen anderen Bundesländern betrug die Teilnehmer/ innenzahl weniger als 10 Personen, was einer Beteiligung in diesen Bundesländern von weniger als 6 % entsprach. 3.1 Erkrankungen und Beeinträchtigungen von Kompetenzen und schulischer Teilhabe Mit Blick auf die Erkrankungen der Schüler/ innen lag bei allen eine chronisch-somatische Erkrankung vor, die teilweise von psychischen Störungen begleitet wurde. Eine Endometriose - oder der Verdacht auf diese - wurde von 48 Personen als häufigste Diagnose genannt (35,8 % der Stichprobe), gefolgt von 18,7 % der Schüler/ innen, die Diabetes (insbesondere Diabetes mellitus Typ 1) angaben. Weitere Erkrankungsdiagnosen waren Herz-Kreislauf-Erkrankungen (6,7 %), Wirbelsäulenerkrankungen (6,7%), Asthma (6%), Hauterkrankungen (5,2%), Rheuma (4,5 %) und Essstörungen (3,0 %). Komorbid traten Depressionen (6 %), Angststörungen (3,7 %) und Autismus (2,2 %) auf. Für viele Schüler/ innen war das Thema Schmerzen im Schulkontext von Relevanz: 62,7 % der Befragten gaben an, Schmerzen zu haben, die bei 17,9 % starke und bei 41,0 % mittlere Auswirkungen auf die Schulsituation hatten. VHN 1 | 2024 58 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG 17,2 % der Schüler/ innen gaben an, dauerhaft Schmerzen zu haben, 27,6 % mehrmals in der Woche, 9,0 % mehrmals im Monat und 9,7 % unregelmäßig. Der nächste Fragenkomplex befasste sich mit den funktionalen Auswirkungen der Erkrankungen auf schulisch relevante Aktivitäten (vgl. Tabelle 2), die die Teilnehmenden auf vier Stufen beurteilen konnten. Dabei zeigte sich, dass in den Bereichen Motorik und Bewegung sowie im Hinblick auf Konzentrationsfähigkeit und dem Ablegen von Prüfungen für die meisten der Befragten Einschränkungen festzustellen waren: Nur 20,9 % der Befragten gaben beispielsweise an, ihre Prüfungen genauso wie ihre Mitschüler/ innen ablegen zu können. Im Kompetenzbereich Konzentration und Aufmerksamkeit lag die Quote bei 26,1 % - ein Phänomen, das insbesondere auf den hohen Anteil an Personen mit Schmerzerkrankungen zurückzuführen ist: So gaben von den Personen mit Schmerzen nur 16,1 % an, sich wie ihre Mitschüler/ innen bewegen zu können, und 17 % berichteten, Prüfungen wie die Mitlernenden ablegen zu können. Bei der Konzentration lag die Quote bei 20,5 %. Die wenigsten Beeinträchtigungen wurden für die Bereiche Selbstversorgung, Mathematik, Lesen und Schreiben sowie Kommunikation angegeben. Hier konnten zwei Drittel der Befragten ohne Beeinträchtigung lernen. Insgesamt beschrieben 68,7 % der Befragten Beeinträchtigungen an der schulischen Teilhabe, die bei 64,2 % auch den außerunterrichtlichen Bereich (wie z. B. Pausen, Ausflüge) betraf. Mithilfe einer weiteren offen gestellten Frage wurden die Teilnehmenden gebeten, mögliche andere, bisher nicht erfragte Funktionsbeeinträchtigungen zu benennen, auf die sich die chronische Erkrankung aus ihrer Sicht auswirken würde. Hier wurden insbesondere Müdigkeit, Probleme, mit Stress und Belastungen umzugehen, Diskriminierungserfahrungen, kein Unterschied zu Mitschüler/ innen (0) leichte Beeinträchtigung (1) mittlere Beeinträchtigung (2) starke Beeinträchtigung (3) M SD Motorik und Bewegung Prüfungen ablegen Konzentration, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit Soziale Beziehungen mit Mitschüler/ innen gestalten Lernen Soziale Beziehungen mit Lehrenden gestalten Eigenverantwortliches Arbeiten Kommunikation mit Lehrenden und Mitschüler/ innen Lesen und Schreiben Selbstversorgung: (z. B. Hygiene, Nahrungsaufnahme) Mathematik 26,1 % 20,9 % 26,1 % 50,7 % 53,7 % 57,5 % 58,2 % 70,9 % 69,4 % 67,2 % 73,9 % 23,1 % 40,3 % 38,1 % 19,4 % 26,1 % 18,7 % 23,1 % 12,7 % 13,4 % 18,7 % 12,7 % 29,9 % 16,4 % 20,9 % 17,2 % 14,2 % 14,2 % 10,4 % 9,0 % 12,7 % 10,4 % 6,0 % 17,9 % 18,7 % 12,7 % 9,7 % 5,2 % 7,5 % 6,0 % 6,0 % 3,0 % 1,5 % 6,0 % 1,41 1,34 1,21 0,85 0,71 0,71 0,63 0,49 0,48 0,45 0,43 1,08 1,03 0,98 1,04 0,90 0,98 0,90 0,90 0,83 0,75 0,86 Am Unterricht teilhaben Teilhabe an außerunterrichtlichen Tätigkeiten 29,1 % 30,6 % 29,9 % 25,4 % 23,1 % 23,1 % 15,7 % 15,7 % 1,26 1,25 1,06 1,08 Tab. 2 Funktionale Auswirkungen der Erkrankung VHN 1 | 2024 59 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG Schmerzen sowie Probleme mit behandlungspflegerischen Maßnahmen und dem Umgang mit flexiblen Essenszeiten (z. B. beim Diabetes) in der Schule genannt. Weiter wurde der Weg zur Schule als problembehaftet beschrieben (z. B. aufgrund von Schmerzen) sowie die Tatsache, nicht am Sportunterricht teilhaben zu können. 3.2 Unterstützungsbedarfe der Lernenden Fragte man die Schüler/ innen zu schulischen und außerschulischen Unterstützungsnotwendigkeiten, ergibt sich das in Tabelle 3 dargestellte Bild. Es fällt auf, dass fast zwei Drittel der Befragten auf die Unterstützung durch Eltern und Familienangehörige im Rahmen des schulischen Lernens angewiesen waren und fast die Hälfte auf Unterstützung durch Mitschüler/ innen und Lehrkräfte. Hilfen durch spezialisierte Dienste wie Pflegekräfte, Integrationsassistenzen oder Sonderpädagog/ innen wurden nur von ca. einem Sechstel der Teilnehmenden benannt. Neben personalen Hilfen mussten 79,1 % der Befragten Medikamente einnehmen. 36,6 % nutzten technische Hilfsmittel (z. B. zur Messung des Blutzuckerspiegels). Weitere Analysen der funktionalen Auswirkungen der Erkrankung konnten zeigen, dass Personen, die Hilfe von Familienangehörigen, Lehrkräften, Mitschüler/ innen oder von professionellen Pflegekräften benötigen, auch ein höheres Ausmaß an Teilhabeeinschränkungen im Unterricht beschrieben (vgl. Tabelle 3). So gaben Personen, die von Familienangehörigen unterstützt wurden, eine durchschnittliche Teilhabebeeinträchtigung am Unterricht von 1,5 an, während Personen ohne Unterstützungsbedarf durch die Familie eine Teilhabebeeinträchtigung von 0,8 beschrieben. Dieser Unterschied wurde in einem zweiseitigen T-Test (auch nach Alphaadjustierung aufgrund multipler Testungen) mit einem mittleren Effekt (Cohen’s d = ,7) signifikant. ja nein weiß nicht Teilhabe am Unterricht M (SD) Mittelwertsunterschied (t-Test/ 2-seitig) ja nein p Cohen’s d Eltern oder Familienangehörige 62,7 % 32,1 % 4,5 % 1,51 (,98) ,81 (1,04) < ,001 ,70 Lehrkräfte 42,5 % 50,7 % 3,7 % 1,53 (1,02) ,94 (,10) ,02 ,58 Mitschüler/ innen 46,3 % 44,8 % 4,5 % 1,56 (1,01) ,90 (1,02) < ,001 ,65 Professionelle Pflegekräfte 11,9 % 81,3 % 2,2 % 1,79 (1,19) 1,16 (1,02) ,035 ,60 Schulassistenz bzw. Integrationskraft 11,2 % 87,5 % 0,8 % 1,64 (1,22) 1,24 (1,02) n. s. Sonderpädagogische Fachkräfte 11,2 % 82,8 % 1,5 % 1,64 (1,22) 1,19 (1,01) n.s Einnahme von Medikamenten 79,1 % 20,1 % 0 % 1,36 (1,04) ,92 (1,06) n. s. Einsatz technischer Hilfsmittel 36,6 % 58,2 % 2,2 % 1,06 (1,11) 1,33 (1,02) n. s. Sonderpädagogischer Förderbedarf 11,9 % 80,6 % 6,7 % 1,33 (1,23) 1,23 (1,05) n. s. Anspruch Nachteilsausgleich 29,9 % 46,3 % 22,4 % 1,18 (1,09) 1,16 (,99) n. s. Tab. 3 Schulische und außerschulische Unterstützungsnotwendigkeiten VHN 1 | 2024 60 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG Der für den schulischen Kontext relevante sonderpädagogische Unterstützungsbzw. Förderbedarf wurde bei 11,9 % der Schüler/ innen festgestellt. 6,7 % der Befragten waren hier unsicher. Ein Anspruch auf einen Nachteilsausgleich wurde von 29,9 % der Befragten benannt. Erstaunlicherweise konnten 22,4 % der Stichprobe nicht einschätzen, ob ein Anspruch auf diesen bestehe. Fragte man nach der Art der Nachteilsausgleiche, wurden Anpassungen im Rahmen von Prüfungen genannt (z. B. Schreibzeitverlängerungen, Vergrößerungen von Klausuren, ein verfrühter Abbruch bei Prüfungen im Schmerzfall, das Nutzen eines Laptops bei Prüfungen sowie die Nutzung eines Stehpults). Einzelne Personen berichteten von Einzelprüfungen, Abfragen vor der Klasse sowie Wiederholungen oder Schreibzeitverlängerung im Krankheitsfall (z. B. schlechte Blutzuckerwerte bei der Prüfung). Freistellungen vom Sportunterricht, die Möglichkeit, jederzeit während des Unterrichts trinken, essen und auf die Toilette gehen zu dürfen, sowie eine Platzierung in Tafelnähe und die Nutzung von Software oder Assistenzen zur Kommunikation wurden ebenfalls erwähnt. 3.3 Das Erleben der schulischen Situation sowie die Ergebnisse schulischer Bildung Viele der Befragten erlebten die soziale Situation in der Schule insgesamt positiv. So gaben 85,1 % der Lernenden an, in der Klasse Freund/ innen zu haben. 10,4 % verneinten diese Frage, 6 % waren sich unsicher. In der Klassengemeinschaft fühlten sich 63,4 % der Befragten wohl, 17,2 % gaben eine neutrale Rückmeldung und 19,4 % machten eine negative Aussage. 50,7 % sagten, gerne zur Schule zu gehen, 32,1 % gingen nicht gerne zur Schule. 35,1 % der Schüler/ innen gaben an, Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben. Sie beschrieben Verhaltensweisen der Mitschüler/ innen und Lehrenden, die von Ausgrenzungen, Mobbing, Hänseleien und Beleidigungen über Anstarren, Misstrauen oder Herunterspielen der Symptome reichten. Auch erschwerten eine mangelnde Bereitschaft, die Auswirkungen der Erkrankungen verstehen zu wollen, sowie naiv wahrgenommene Fragen oder „unbegründete“ Sorgen um Ansteckungsgefahren das Leben der Befragten in der Schule. Darüber hinaus kam es vor, dass Schüler/ innen nicht an Prüfungen, Klassenfahrten oder Praktika teilnehmen konnten oder dass Mitschüler/ innen nicht mit ihnen zusammenarbeiten bzw. Zeit verbringen wollten. Ergänzt werden kann an dieser Stelle, dass 10 % der Befragten angaben, dass die Lehrkräfte nichts von ihrer Erkrankung wissen würden, und 9 % ein Nichtwissen ihrer Mitschüler/ innen benannten. Zudem gaben 51,5 % der Befragten an, dass die Lehrkräfte nicht wüssten, wie sich ihre Erkrankung auf die Lehr- und Lernsituation in der Schule auswirke. Dies konnte - laut Aussage der Befragten - zu Problemen und Herausforderungen im Unterricht führen. Für 38,8 % der Befragten entstanden im schulischen Kontext Probleme im Umgang mit der Erkrankung, 43,3 % verneinten diese Frage. Probleme ergaben sich einerseits aus der Erkrankung selbst (z. B. Anfälle bei Epilepsie, Schmerzen) sowie den damit verbundenen Maßnahmen (z. B. Übelkeit nach Medikamenteneinnahme). Auch erschwerten Einschränkungen schulisch relevanter Funktionen (z. B. Konzentrationsfähigkeit, Bewegungsfähigkeit) die schulische Teilhabe und das Lernen. Weiterhin kam es dazu, dass Hausaufgaben nicht pünktlich abgegeben werden konnten. Ein besonderes Problem stellte aus Sicht einiger Schüler/ innen der Umgang mit Fehlzeiten dar. Fehlte eine Person zu häufig, konnte dies zum Wiederholen der Jahrgangsstufe oder zum Abbruch des Schulbesuchs führen. Einige Lernende beklagten fehlende Unterstützung der Schule bei krankheitsbedingten Ausfällen. Hatten Lehrkräfte wenig Wissen und geringes Verständnis für die Erkrankung der Schüler/ innen sowie VHN 1 | 2024 61 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG keine Anpassung notwendig Bewertung in Schulnoten bei Personen mit Anpassungsbedarf M SD 1 2 3 4 5 6 Gesamturteil 0 % 7,5 % 24,6 % 34,3 % 17,2 % 11,2 % 5,2 % 3,16 1,27 Lesen und Schreiben 39,3 % 20,0 % 43,8 % 22,5 % 8,8 % 2,5 % 2,5 % 2,38 1,13 Mathematik 42,0 % 20,3 % 36,5 % 16,2 % 14,9 % 8,1 % 4,1 % 2,66 1,39 Lernen 34,7 % 14,0 % 34,9 % 26,7 % 17,4 % 5,8 % 1,2 % 2,70 1,16 Eigenverantwortliches Arbeiten 39,3 % 10,4 % 40,3 % 23,4 % 15,6 % 9,1 % 1,3 % 2,77 1,19 Kommunikation mit Lehrenden und Mitschüler/ innen 37,3 % 13,8 % 33,8 % 21,3 % 13,8 % 11,3 % 6,3 % 2,94 1,44 Soziale Beziehungen mit Mitschüler/ innen gestalten 34,7 % 10,7 % 36,9 % 17,9 % 16,7 % 10,7 % 7,1 % 3,01 1,44 Soziale Beziehungen mit Lehrenden gestalten 37,3 % 11,0 % 30,5 % 23,2 % 17,1 % 13,4 % 4,9 % 3,06 1,38 Selbstversorgung: (z. B. Hygiene, Nahrungsaufnahme) 42,7 % 15,8 % 30,3 % 10,5 % 19,7 % 21,1 % 2,6 % 3,08 1,49 Konzentration, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit 30,7 % 9,9 % 20,9 % 31,9 % 14,3 % 17,6 % 5,5 % 3,25 1,38 Prüfungen ablegen 22,7 % 8,7 % 22,3 % 33,0 % 10,7 % 17,5 % 7,8 % 3,29 1,42 Motorik und Bewegung 34,3 % 10,2 % 19,3 % 20,5 % 18,2 % 23,9 % 8,0 % 3,50 1,49 Am Unterricht teilhaben 26,1 % 13,1 % 25,3 % 23,2 % 20,2 % 13,1 % 5,1 % 3,10 1,40 Teilhabe an außerunterrichtlichen Tätigkeiten 27,3 % 7,2 % 20,6 % 21,6 % 15,5 % 22,7 % 12,4 % 3,63 1,52 Tab. 4 Bewertung der Anpassungsqualität insgesamt sowie in Bereichen, in denen die Erkrankung funktionale Auswirkungen hatte (Angaben in Prozent, Mittelwert und Standardabweichung) VHN 1 | 2024 62 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG für erforderliche Maßnahmen, entstanden in der Schule vielfältige Probleme wie Diskriminierung oder Gesundheitsgefährdungen, etwa wenn Personen mit Diabetes nicht während des Unterrichts essen oder technologische Hilfen zum Blutzuckermessen verwenden durften. Mit Blick auf die Mitschüler/ innen wurden diskriminierendes Verhalten oder Neid aufgrund von Nachteilsausgleichen als schwierig benannt. Betrachtet man in einem letzten Schritt die eingeschätzte Anpassungsqualität der Schule an die Bedarfe der Lernenden, vergaben die Befragten die Gesamtnote 3,2 in Schulnoten mit einer Standardabweichung von 1,3. Während die Note „sehr gut“ nur von 7,5 % der Befragten vergeben wurde, vergaben 24,6 % die Note „gut“. Mit der Schulnote „befriedigend“ bewerteten 34,3 % die Passungsqualität, während 17,2 % der Befragten die Note „ausreichend“ vergaben. Mangelhaft bewerteten 11,2 % die schulische Anpassung und ungenügend 5,2 % der Stichprobe. Ein Überblick über die Gesamtbewertung sowie die Bewertung der Anpassungsqualität einzelner beeinträchtigter Aktivitätsbereiche sind in Tabelle 4 zu finden. Hier zeigt sich, dass nur dem Anpassungsbedarf im Bereich „Lesen und Schreiben“ mit M = 2,4 (SD = 1,1) insgesamt in „gutem“ Ausmaß entsprochen werden konnte, während alle weiteren Bereiche durchschnittlich mit „befriedigend“ oder gar - dies ist hinsichtlich der Gestaltung von Ausflügen und außerunterrichtlichen Aktivitäten zu benennen - mit ausreichend (plus) bewertet wurden. Neben der quantitativen Bewertung der Passung der Schule an die individuellen Bedarfe der Schüler/ innen bestand die Möglichkeit, gelingende Adaptionen sowie Verbesserungsvorschläge und Wünsche zu benennen. Diese sind in Tabelle 5 aufgeführt und hinsichtlich Adaptionen auf Ebene der Schul- und Unterrichtsorganisation sowie auf Ebene der Lehrkraft unterteilt. Es zeigt sich, dass neben einer wertschätzenden Kultur der Schule, in welcher der Gesundheit und sozialen Teilhabe zentrale Bedeutung zukommt, vielfältige Adaptionen im Bereich einer bedarfsgerechten Gestaltung und räumlichen Barrierefreiheit vorgenommen werden sollten. Ebenso sollten Rückzugsräume und Pflegemöglichkeiten vorhanden sein, die das individuelle Gesundheitsmanagement wie bspw. das Erwärmen von Wasser für Wärmflaschen bei Schmerzen möglich macht. Der größte Teil der Rückmeldungen betraf allerdings Adaptionen im Bereich der Schulorganisation, die flexibles und bedarfsgerechtes Handeln ermöglichten. Hier sind insbesondere Maßnahmen zu nennen, die Regelungen zur schulischen Teilhabe bei krankheitsbedingter Abwesenheit sowie die Rückkehr nach Erkrankungen betreffen. Viele weitere Vorschläge betrafen die Anpassungen an gesundheitsbedingte und medizinische Bedarfe sowie Anpassungen bei Prüfungen und Bewertungen. Auf Ebene der Personalorganisation sind Schulungen des Personals hervorzuheben sowie Regelungen zur multiperspektivischen Zusammenarbeit - auch mit Expert/ innen aus den Bereichen gesundheitlicher Versorgung. Auf Ebene der Sachmittel und Ausstattungen sind adaptive Möbel, technische Ausstattungen und der Einbezug gesundheitsrelevanter Hilfsmittel zu nennen. Betrachtet man den Unterricht, wurde von den Befragten ein individualisierter Unterricht benannt, der im Krankheitsfall online- und hybride Lehrmöglichkeiten erlaubt. Als weiteren wichtigen Baustein hielten es viele der Befragten für notwendig, die Auswirkungen der Erkrankungen auf die schulische Teilhabe im Unterricht anzusprechen, um Verständnis in der Klasse (z. B. für Nachteilsausgleiche) zu fördern und Diskriminierung abzubauen. Eine weitere Aufgabe sollte die Förderung des sozialen Miteinanders im Erkrankungsfall sein, VHN 1 | 2024 63 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG SCHULE Ethos n Respekt und Wertschätzung der Vielfalt der Individuen n Klima der wechselseitigen Unterstützung n Verantwortung der Schule für Gesundheit Architektur & Raumgestaltung n Barrierefreie und beeinträchtigungsorientierte Gestaltung der Räume (z. B. Schallschutz) n Verfügbarkeit von Rückzugsräumen, Pflegeräumen und behindertengerechten Toiletten n Spinde für die Lagerung von Büchern in der Schule Schulorganisation n Themen Diversität, Behinderung und Inklusion in Schule präsent n Feststellung von individuellen Unterstützungsbedarfen (bereits vor Beginn des Schulbesuchs; kontinuierliche Reflexion); wenn nötig: Tagesverfassung erfragen und berücksichtigen n Flexibilität und Problemlösungsorientierung in Krankheitsphasen; Leistungsdruck reduzieren n Kommunikation (klare und verlässliche Absprachen mit allen Lehrkräften; Regelungen der Infoweitergabe zwischen den Lehrkräften; regelmäßige bedarfsklärende Gespräche; Kontakthalten im Krankheitsfall - auch mithilfe von digitalen Medien) n Bedarfsgerechte Regelungen zur Unterrichtsteilhabe (früher gehen, später kommen; Aussetzen der Präsenzpflicht) n Wiedereingliederungsmanagement nach längerer Krankheitsphase n Attest chronischer Erkrankungen nicht vierteljährlich n Nachteilsausgleiche (Information und Anwendung) n Reflexion der Prüfung und Benotungsstrategien (Berücksichtigung von Fehlzeiten, Ersetzen von Prüfungen schriftlich fp mündlich; Berücksichtigung der Fähigkeiten z. B. in Sport; Prüfung im Einzelraum) n Zulassen von gesundheitsrelevanten Hilfsmitteln bei Prüfungen (z. B. Handy für Insulinpumpe) n Lagerung von Notfallmedikamenten n Fehlzeitenregelung (angemessene Fehlzeitenbegrenzung - Gefahr, wenn vorgegebene Fehltageszahl erreicht wird) n Onlinelehre im Bedarfsbzw. Krankheitsfall n Pausenregelung (Pausen in ihrer gesundheitsrelevanten Bedeutung für Personen mit Erkrankungen sehen; keine Pause ausfallen lassen) n Bedarfsgerechtes Raummanagement (z. B. Reduktion von Raumwechseln; relevante Räume auf einer Ebene) n Angepasste Regelungen im Umgang mit akuten Erkrankungssymptomen (Abholen durch Eltern notwendig? ) n Kooperation mit medizinischen, therapeutischen sowie pflegerischen Fachkräften n Gesundes Essen (auch Berücksichtigung spezifischer Bedarfe) n Klassenfahrten und Ausflüge inklusiv gestalten n Kleine Klassengrößen Tab. 5 Schulische Gelingensbedingungen und Verbesserungsvorschläge u VHN 1 | 2024 64 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG sodass Beziehungen zwischen den Mitschüler/ innen erhalten bleiben. Lehrkräfte sollten darüber hinaus gesundheitsbedingte Handlungen der Schüler/ innen im Unterricht erlauben und unterstützen. Dazu spielt aus Sicht der Befragten eine respektvolle Haltung der Lehrkraft eine entscheidende Rolle sowie deren Verständnis dafür, dass chronisch-somatische Erkrankungen von Schüler/ innen eine Vielzahl gesundheitsrelevanter Adaptionen erfordern - eine Leistung, für die sich die Betroffenen auch Respekt und Anerkennung wünschten. Betrachtet man abschließend die subjektiven Einschätzungen zu den Auswirkungen der Erkrankung auf den Schulerfolg, sagten 36,6 % der Personalorganisation n Schulungen des Personals im Kontext Krankheit (Wissen um Auswirkungen der Erkrankungen auf das Leben in der Schule) n Zeit für Schulungen, Kooperation und Kommunikation (mit Kolleg/ innen, Schüler/ innen, Eltern und externen Unterstützungsdiensten) n Kommunikations- und Lösungsorientierung des Personals n Verfügbarkeit von Vertrauenslehrkräften n Psycholog/ innen und Sozialarbeiter/ innen in der Schule n Nutzung weiterer Dienste (Schulbegleitung, Schulpflegekraft) Ausstattung/ Sachmittel n Angepasste Sitz- und Tischversorgung n Digitalisierung und Nutzung technischer Hilfen (AVATAR, Stabiles WLAN) n Bei Bedarf: Notebook für Unterricht und Prüfung n Bei Bedarf: Zweiter Buchsatz für Schüler/ innen bzw. E-Books n Bei Bedarf: spezifische Hilfsmittel einsetzen UNTERRICHT Unterrichtsgestaltung n Individualisierung und Nutzung flexibler Unterrichtsformen n Online-Unterricht bzw. Online-Teilhabe im Krankheitsfall n Barrierefreie Unterrichtsmaterialien n Gesundheit und chronische Erkrankungen als Thema (Verständnis schaffen) n Bemühen um soziale Teilhabe auch im Krankheitsfall (mit Nutzung von Telepräsenzsystemen) n Während Unterricht gesundheitsrelevante Handlungen der lernenden Person zulassen (Toilettenbesuch, Essensaufnahme) n Wenn vereinbart: Befinden des Lernenden vor Unterricht erfragen LEHRKRAFT Person der Lehrkraft n Klare und verlässliche Kommunikation mit Schüler/ innen n Ernst nehmen und Vertrauen in Kompetenz und Aussagen der Schüler/ innen zur Krankheitssituation n Sich für gesundheitsrelevante Fragen und Adaptionen zuständig fühlen und sein n Wissen und Respekt vor Schüler/ innen mit Mehrfachbelastung aufgrund von Krankheit n Engagement im Krankheitsfall (Kontakt halten, Versorgung mit Materialien) n Ansprechbarkeit und (einfache) Erreichbarkeit der Lehrkräfte im Problemfall n Lösungsorientierung und Lösungsentwicklung; Flexibilität (Gewährenlassen von Abweichungen der Klassendisziplin (früher gehen, später kommen) u VHN 1 | 2024 65 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG Befragten, sie müssten mehr Zeit als ihre Mitschüler/ innen für den gleichen Lernerfolg erbringen, 46,3 % verneinten diese Frage. Auch betonten 62,7 % der befragten Schüler/ innen, dass die Erkrankung negative Auswirkungen auf den Schulerfolg habe, 30,6 % sahen keinen Zusammenhang. 6,7 % waren der Meinung, dass sich ihre Krankheit positiv auf die Schulleistung auswirke. Im Mittel ergab sich auf einer 7-stufigen Likertskala, die von sehr negativ (-3) bis sehr positiv (+3) reichte, ein Mittelwert von -,9 (SD = 1,2). Auf die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Erkrankung und Leistung gaben die Schüler/ innen an, dass sich mit der Krankheit verbundene Symptome wie Schmerzen, Müdigkeit oder Erschöpfung negativ auf die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit auswirkten. Auch konnten häufigere Toilettengänge die Lernzeit in der Klasse reduzieren, und langsameres Schreiben erschwere das Verstehen und Erlernen von Inhalten. Beide Prozesse befördern aus Sicht der Lernenden Stress und Überforderung im Unterricht. Auch erlebten die Befragten Lernerschwernisse durch Fehl- und Abwesenheitszeiten im Rahmen der Erkrankung sowie den Umgang der Schule damit (z. B. fehlende Lernangebote in Abwesenheitszeiten, negative Bewertung der nicht vorhandenen mündlichen Leistungen). Therapie- und Arztbesuche sowie ein erhöhter Erholungsbedarf konnten zudem das Lernen und die Unterrichtsvorbereitung behindern, was zu vermehrter Leistungs- und Prüfungsangst führte. Damit gingen negative Auswirkungen auf das Selbstvertrauen und den Selbstwert sowie Schulunlust einher, welche auch durch Mobbing oder das Gefühl, nicht zur Klasse zu gehören, beeinflusst wurden. Positive Einflüsse der Erkrankung auf die schulischen Leistungen wurden auch beschrieben. Eine Schülerin sagte: „Ich habe durch meine Erkrankung mehr Selbstvertrauen bekommen, da ich nun ganz speziell weiß, was ich leiste, obwohl andere es nicht sehen können, und habe noch bewusster gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Das wirkt sich auch auf meine Leistungen in der Schule positiv aus. Andere sehen nicht, wie viel mehr noch hinter dieser Erkrankung ‚Diabetes‘ steckt und welche Herausforderungen damit einhergehen. Aber ich weiß es und deshalb bin ich auch stolz auf mich, wenn Ergebnisse mal nicht so perfekt sind, wie ich es vielleicht gern gehabt hätte“ (18-jährige Schülerin, Gymnasium). Im Rahmen der statistischen Untersuchung wurden abschließend noch bivariate Zusammenhänge zwischen der subjektiv eingeschätzten Anpassung und den Auswirkungen auf Schulerfolg, Gesundheit und Wohlbefinden untersucht. Hier zeigt eine signifikante Korrelation (Pearson) von -,47 (p < .001), dass eine besser angepasste Schule weniger negative Effekte auf den Schulerfolg hat. Auf Fragen zu den Auswirkungen von Schule auf die Gesundheit gaben die Befragten auf einer 7-stufigen Likertskala (von -3 sehr negativ bis +3 sehr positiv) einen Mittelwert von -,97 (SD = 1,2) an. 61,2 % der Befragten sahen hier einen negativen Einfluss der Schule auf die Gesundheit, wobei auch hier die subjektiv eingeschätzte Passung eine Rolle spielte: Je besser die Schule an die Bedarfe angepasst war, desto geringer waren negative gesundheitsbezogene Auswirkungen, wie eine hochsignifikante Pearson-Korrelation von -,46 (p < .001) zeigt. 4 Diskussion und Fazit Wie bereits in der Einleitung konstatiert wurde, muss die Frage des Umgangs Allgemeiner Schulen mit chronisch-somatisch erkrankten Schüler/ innen in Deutschland als bestenfalls lückenhaft erforscht gelten. Dies erstaunt umso mehr, als die Prävalenzzahlen schon seit mehr als zehn Jahren stabile Werte von mehr als 10 % nachgewiesen haben (Petermann & Noeker, 2013, S. 538; VHN 1 | 2024 66 CHRISTIAN WALTER-KLOSE, ANDREAS SEILER-KESSELHEIM Schüler/ innen mit chronisch-somatischen Erkrankungen FACH B E ITR AG Scheidt-Nave et al., 2008). Insofern besitzt die hier vorgestellte Studie einen explorativen Charakter, denn es erfolgte eine erste Annäherung an das komplexe Wechselgefüge zwischen chronisch-somatischen Erkrankungen und den notwendigen schulischen Anpassungserfordernissen. Der Fokus lag dabei auf einer bundesweiten, retrospektiven Befragung von Schüler/ innen, deren Mitwirkung über Selbsthilfeverbände akquiriert werden konnte. Damit haben weder die Auswahl der befragten Personen noch die Angabe und Gewichtung der dargestellten Erkrankungsformen einen repräsentativen Charakter und spiegeln auch nicht die Häufigkeit des Vorkommens der Diagnosen im Schulalltag wider. Darüber hinaus muss kritisch angemerkt werden, dass die Selbstnennung bestimmter medizinischer Diagnosen sowie die retrospektive Einschätzung des Schulalltages durch die befragten Personen selbst eine Verallgemeinerung der vorgestellten Ergebnisse zusätzlich erschwert und der Fragebogen in einigen Teilen als verbesserungswürdig angesehen wurde. So wurde von einzelnen Personen die Einschätzung der Anpassung der Schule an eigene Bedürfnisse als schwierig bewertet. Allerdings weisen die Ergebnisse eindeutig darauf hin, dass die schulische Situation von Schüler/ innen mit chronisch-somatischer Erkrankung besonderer Beachtung bedarf: Neben den von Seiler-Kesselheim und Walter-Klose (2023) beschriebenen Anpassungserfordernissen, die z. B. für Haltung und Kenntnisse von Lehrkräften, flexibles Zeitmanagement, alternative Prüfungsformen, Aufklärung im Kontext der Klasse oder Gesundheitsmanagement in der Schule repliziert werden konnten, verweist die vorliegende Studie auf einen hohen Anteil an Wissenslücken über Nachteilsausgleiche, der im internationalen Raum so nicht berichtet wird. Offensichtlich besteht im deutschen Schulsystem erheblicher Nachholbedarf in der Information und Beratung sowohl bei Eltern und Kindern wie auch in der Allgemeinen Schule. Als Fazit der hier vorgestellten Studie können nach Meinung der Autoren zwei Aspekte besonders herausgehoben werden. Es besteht dringender Forschungsbedarf im Hinblick auf eine repräsentative Studie unter Beteiligung von Schüler/ innen, Eltern, Lehrer/ innen sowie Ärzt/ innen, um eine solide Datenlage bezüglich der Situation von chronisch-somatisch erkrankten Kindern und Jugendlichen im deutschen Schulsystem zu erhalten. Darüber hinaus ist es aus inklusionstheoretischer Perspektive notwendig, den Unterstützungsbedarf im System Schule wesentlich flexibler zu identifizieren sowie Vernetzungen mit außerschulischen Unterstützungssystemen im Kontext Gesundheit einzubeziehen und zu etablieren, um den Bedürfnissen der von uns in den Blick genommenen Schüler/ innenschaft gerecht zu werden. Auf diese Weise kann die Anpassungsqualität der Allgemeinen Schule an die Bedarfe der Lernenden deutlich verbessert und chancengleiches Lernen ermöglicht werden. Literatur Biewer, G., Kremsner, G. & Proyer, M. (2022). Inklusive Schule - Handlungsfeld motorische und kognitive Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer. Bronfenbrenner, U. (1981). Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart: Klett-Cotta. Ditton, H. (2000). Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung in Schule und Unterricht. Ein Überblick zum Stand der empirischen Forschung. In A. Helmke, W. Hornstein & E. 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