Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2024.art10d
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Das provokative Essay: Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! Annäherungen an ein strittiges Adressat/innenkonzept
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Sven Heuer
Die vage Figur der „Systemsprenger/innen“ dient im aktuellen gesellschaftspolitischen Fach- und Methodendiskurs als Adressat/innenkonzept für besonders grenzüberschreitendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Als symbolisches Etikett, das einem polarisierenden Deutungsmuster des wiederholten Scheiterns in Jugendhilfe, Schule und anderen flankierenden Hilfesystemen folgt, werden „Systemsprenger/innen“ zur negativen Risikogruppe. Im folgenden Beitrag wird das Systemsprenger/innen-Modell im Hinblick auf den fachlichen Gebrauchswert kritisch differenziert.
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81 VHN, 93. Jg., S. 81 -88 (2024) DOI 10.2378/ vhn2024.art10d © Ernst Reinhardt Verlag Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! Annäherungen an ein strittiges Adressat/ innenkonzept Sven Heuer Werkstattschule Bremerhaven Zusammenfassung: Die vage Figur der „Systemsprenger/ innen“ dient im aktuellen gesellschaftspolitischen Fach- und Methodendiskurs als Adressat/ innenkonzept für besonders grenzüberschreitendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Als symbolisches Etikett, das einem polarisierenden Deutungsmuster des wiederholten Scheiterns in Jugendhilfe, Schule und anderen flankierenden Hilfesystemen folgt, werden „Systemsprenger/ innen“ zur negativen Risikogruppe. Im folgenden Beitrag wird das Systemsprenger/ innen-Modell im Hinblick auf den fachlichen Gebrauchswert kritisch differenziert. Schlüsselbegriffe: Systemsprenger, Intensivpädagogik, Abweichendes Verhalten Children and Young People (Don’t) Blow up Systems! Approaches to a Controversial Addressee Concept Summary: The vague figure of the “System Sprenger/ System Crasher” serves in the current socio-political professional and methodological discourse as an addressee concept for particularly transgressive behavior of children and adolescents. As a symbolic label that follows a polarizing pattern of interpretation of repeated failures in youth welfare, school, and other flanking support systems, “Systemsprenger” become a negative risk group. The following article critically differentiates the systemic failure model regarding its professional utility. Keywords: System Sprenger/ crasher, intensive education, deviant behavior DAS PROVOK ATIVE ESSAY 1 Erste Begriffsannäherung Die Konjunktur des Systemsprengerinnen- und Systemsprenger-Topos geht über die fachliche Debatte im intensivpädagogischen Forschungs- und Praxisfeld hinaus. Repräsentiert durch die Rolle des neunjährigen Mädchens „Benni“ im Spielfilm „Systemsprenger“ hat die Frage nach erfolgreichen intensivpädagogischen Unterstützungssystemen und die diesbezüglichen Überforderungsrisiken (zwischen Adressatinnen/ Adressaten und Pädagoginnen/ Pädagogen) ein breites Publikum erreicht. In der medialen Begleitdebatte - in Fernsehdokumentationen, Talkshows und weiterer öffentlicher Berichterstattung weitergetragen - gewann der Typus des prekären Problemkindes oder jugendlichen Abweichlers eine öffentliche Aufmerksamkeit. Der SPIEGEL lieferte in dieser Debatte einen Definitionsversuch: „‚Systemsprenger‘ ist ein Begriff aus der Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche, für die es keinen Platz mehr gibt - nicht in der eigenen Familie, nicht in Pflegefamilien, Heimen, Wohngruppen, oft nicht einmal in geschlossenen Psychiatrien, weil sie dafür zu jung sind. Benni (Helena Zengel) ist so ein Systemsprenger: von frühester Kindheit traumatisiert, unkontrollierbar, aggressiv“ (Schmeis, 2019, o. S.). Auch wenn derartige Problembeschreibungen VHN 2 | 2024 82 SVEN HEUER Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! DAS PROVOK ATIVE ESSAY aus fachlicher Sicht inhaltlich unterlegt, ergänzt und geschärft werden müssten, liegt der Definitionsversuch vermutlich sehr nah an der ersten Wirklichkeitswahrnehmung der Förderpraxis. Bernd Ahrbecks (2022) Arbeitsdefinition liest sich als ergänzende Fußnote dieser Begriffsannäherung, wenn er schreibt: „Systemsprenger sind Kinder und Jugendliche, die mit den Maßnahmen einer Einrichtung nicht zurechtkommen und diese nicht mit ihnen. Sie sind persönlich nicht oder von einem gewissen Punkt an nicht mehr erreichbar, entziehen sich oder protestieren übermäßig, greifen die bestehenden Strukturen an, überfordern sie. Hilfsbemühungen laufen ins Leere. Die Folge ist ein häufiger Wechsel von einer Institution in die nächste, mit dem immer gleichen Resultat, sodass am Ende eine Kette gescheiterter Betreuungsversuche steht“ (ebd., S. 94). Wie die angeklungenen Definitionsskizzen eines intensivpädagogischen Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Begriffs in der Forschungspraxis weiter erschlossen werden, zeigt sich in den nächsten Schritten. Beispielhaft, und vereinfacht gesagt, verfolgt die intensivpädagogische Forschung im Hinblick auf den Konstituierungsvorgang des Adressatinnen-/ Adressatenmodells zwei grundlegende Stränge: Um das Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Phänomen zu konkretisieren, werden einerseits in quantitativen Evaluationsstudien die adressierten „Fälle“ auf ihre Abbruchsrisiken wie -ursachen beforscht und Wirkfaktoren intensivpädagogischer Hilfen, gemäß einer statistisch erfassten Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Figur, ermittelt (vgl. Klawe, 2010; Macsenaere, 2018). Neben der statistisch orientierten Datenanalyse, der interventionszentrierten Wirksamkeitsevaluation und Klassifizierung adressatenbezogener Problemlagen wird auf der qualitativen Forschungsebene andererseits - vor allem vertreten durch die Studien von Baumann (2010; 2019) - das Spannungsfeld zwischen biografischen Bewältigungsmustern und intensivpädagogischen Hilfearrangements der Adressatinnen/ Adressaten mehrperspektivisch an konkreten Fallkonstellationen rekonstruiert. Der folgende Beitrag setzt sich vor diesem Diskussionshintergrund zum Ziel, den selbstverständlichen Sprachgebrauch des Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Modells in Forschung und Handlungspraxis im Hinblick auf die affirmativen Fallstricke der Begriffsverwendung in fünf Schritten zu problematisieren. 2 Fachliche Kategorien, Differenzierungen und Nachteile Für die Symbolik der Systemsprengerinnen und Systemsprenger ist hier zentral zu fragen, welche typischen „Probleme“ genau personalisiert werden. Üblicherweise dienen hier vor allem gehäufte Abbrüche oder das Scheitern bisheriger Erziehungshilfen und normabweichende Eskalationsdynamiken als Indikatoren für den pädagogischen Interventionsbedarf. Welcher situative Einfluss „‚den Krisenfall‘ auslöst ist höchst individuell und setzt sich zusammen sowohl aus Faktoren, die den jungen Menschen betreffen (psychosoziale und biografische Faktoren), als auch aus Faktoren aufseiten der konkret mit dem jungen Menschen befassten PädagogInnen und des Settings/ der Gruppe, in der die pädagogische Betreuung gewährleistet werden soll, und schließlich aus gesellschaftlichen und institutionellen Faktoren“ (Baumann & Macsenaere, 2021, S. 245). Dem Ideal der professionellen intermediären Ausbalancierung aller genannten Faktoreneinflüsse steht ein wirkmächtiger Individualisierungsvorgang entgegen, der Problembeschreibungen im Adressatinnen-/ Adressatenmodell fixiert. Folgende Verhaltenskategorien werden faktoriell ausgemacht: Autoaggressives Verhalten, Straffälligkeit, Suchtmittelmissbrauch, massives Vermeidungs- und Verweigerungsverhalten, psychi- VHN 2 | 2024 83 SVEN HEUER Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! DAS PROVOK ATIVE ESSAY sche Persönlichkeitsstörungen, temporäre Obdachlosigkeit, fehlende Impulskontrolle und Schulabsentismus werden beispielhaft zu Auslösern für individualisierte Selbst- und Fremdgefährdungsszenarien (vgl. ebd., S. 243f.; Klawe, 2010; 2015). Somit sind nicht nur intensivpädagogische Fachkräfte gefragt, das Wechselspiel zwischen defizitärer Kategorisierung (Adressierung) und Dekategorisierung (Deadressierung) im Hinblick auf die Markierungserfahrungen und die jeweiligen Copingstrategien biografisch aufzuschließen. Der differenzielle Blick auf professionelle Trennung zwischen Person und Verhalten wird durch belastende „Dauerkrisen“ und „Abbrüche“ zwischen pädagogischen Adressatinnen/ Adressaten und Akteurinnen/ Akteuren konterkariert. Neben den praktischen intensivpädagogischen Professionalisierungsherausforderungen von Hilfesettings sind Praktikerinnen und Praktiker, Forscherinnen und Forscher herausgefordert, die Wissensproduktion des Adressatinnen- und Adressatenkonzeptes auf ihre instrumentelle Zweckmäßigkeit inklusive des impliziten Geltungsanspruches innerhalb ihrer zuständigen Institutionen zu hinterfragen. Bei aller fachlichen Differenzierung in der intensivpädagogischen Fach- und Methodendebatte wird der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Begriff zwangsläufig zur Projektionsfläche für eine dissoziale Problemgruppe. Somit reiht sich der Topos Systemsprengerin/ Systemsprenger in eine Etikettierungstradition der Problemjugendlichen, der Entkoppelten, der Störer oder Risiko-Gefährdungs-Klientel mit multiplen Problemlagen ein. Die gemeinsame Charakterisierung aller genannten Personenfiguren zeichnet sich durch eine fehlende Differenzierung bzw. Unterscheidungspraxis zwischen Person und Verhalten aus (vgl. Witte & Sander, 2011, S. 32). Daraus ergeben sich für die Begriffsverwendung u. a. vier zentrale Nachteile und Kritikpunkte der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Etikettierung - im Folgenden orientiert an Baumanns Einwänden (2020, S. 18): 1) Erhöhung des Stigmatisierungsrisikos: Die Fixierung als „Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Fall“ kann im Dokumentations- und Hilfeverlauf in der Förderpraxis gravierende Folgewirkungen haben, die sich auf das Selbstkonzept des Adressierten auswirken und zeitgleich das Risiko steigern, dass Systemsprengerinnen/ Systemsprenger in Anschlussmaßnahmen (z. B. des Regelschulsystems) als nicht vermittelbar gelten und somit exkludiert werden. 2) Etablierung eines „Modeetiketts“: Neben der Ausschließungsgefahr aus dem Normalsystem, die durch das Etikett begünstigt werden kann, werden auch fachlich strittige Maßnahmen (z. B. geschlossene Unterbringung und Settings) legitimiert: Sobald eine Adressierte/ ein Adressierter einer defizitären Gefährdungsgruppe zugewiesen wird, sind repressive wie punitive Praktiken gerade bei als gewaltaffin wahrgenommenen Kindern und Jugendlichen eine fachpolitische Interventionsreaktion, die zum Interventionsrecht umgewandelt wird. 3) Inflationärer Gebrauch: Mit der Begriffsnutzung geht eine unspezifische Beliebigkeit einher, die im schlechtesten Fall zur fachlich-inhaltlichen Entwertung des Adressatinnen-/ Adressatenmodells führen kann. Der populistisch angefüllte Begriff verliert seinen Differenzierungsgehalt und wird fachlich unbrauchbar. 4) Von der Prozessbeschreibung zum Erklärungsmodell: Die Gefahr, dass der Begriff das dynamische Bedingungsverhältnis zwischen Individuum und Hilfesystem nicht mehr aufgreift, sondern einfache Kausalitätserklärungen die Prozessbeschreibung der Hilfe ablösen, ist vor dem Hintergrund der bisher angeführten Argumente sehr wahrscheinlich. VHN 2 | 2024 84 DAS PROVOK ATIVE ESSAY SVEN HEUER Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! Auf Basis dieser ausgewählten praxisorientierten Argumente können wir weitestgehend annehmen, dass im Hinblick auf die Risiken der Begriffsverwendung im Fachdiskurs größtenteils Konsens besteht, auch wenn in der Gesamtbilanz andere Konsequenzen gezogen werden. Gegen die Nutzung des Begriffs spricht - wie oben bereits angedeutet - die rhetorische Polarisierungsdynamik der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Figur und ihre Funktion als „primitive Opfer-Täter-Schablone“ und „Kampfbegriff “ (Hiller, 2022, S. 85) sozialer Exklusion. Im ursächlichen Zusammenhang zwischen Verhaltensindikatoren und Problemgruppe bleiben „Systemsprenger […] gewissermaßen nur die eine Hälfte von Produkten aus speziellen Wechselwirkungsprozessen eines Systems, deren andere Hälfte bemerkenswert unaufgeklärt bleibt“ (ebd., S. 86). Während Hiller (2022) die Untauglichkeit des Systemsprengerinnen / Systemsprenger-Modells attestiert, spricht sich Baumann (2020) trotzdem für die fachliche Nutzung des Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Begriffs aus. Aufgrund des Mangels an durchsetzungsstarken und alternativen Adressatinnen- und Adressatenbegriffen plädiert Baumann für eine relationale Perspektive, die verschiedene - durchaus positive - Nutzungsperspektiven bei gleichzeitiger Inkaufnahme der Widerspruchspotenziale mitreflektiert (vgl. ebd., S. 16ff.). 3 Adressierungsvorgänge einer Metapher Eine weitere notwendige Problematisierung der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger- Metapher ist notwendig, weil über die assoziative Reinszenierung die Differenz zwischen der Erzählung und dem eigentlich abweichenden Verhalten wenig konkretisiert wird. Die Suggestivkausalität der individualisierten Form des „Sprengens“ geht mit ihrer Dramatisierungsrhetorik über eine reine Tätigkeitsbeschreibung einer absichtsvollen wie antisozialen Schädigung hinaus. Metaphern dienen einerseits als kognitive Orientierungsmodelle (Lakoff & Johnson, 2021), und andererseits sind sie mit Mitteln logischer Verfahren nicht ausreichend zu dechiffrieren, weil sie einen absoluten wie nichtlinearen Status beanspruchen (vgl. Blumenberg, 2013). Die Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Figur ist mittels ihrer zugespitzten Metaphorik vielmehr eine polarisierende Steigerungsform einer fiktiven Weitererzählung als ein normativ-fachlicher Begriff (hierzu ausführlich: Heuer, 2022). Dabei wird das „Sprengen“ als Analogie für eine destruktive Tätigkeit gegen staatliche Institutionen als personalisierter Willen zur Zerstörung beschrieben, eine rigorose Abwehr kontinuierlicher Bindungen und verlässlicher Strukturversprechen: Beim „Systemsprengen“ dreht es sich im Kern um eine mehr oder weniger beabsichtigte Störung eines Helfersystems, einer Unterrichtsstunde, einer pädagogischen Arbeitsbeziehung, den Bruch mit einer Vereinbarung, die Ablehnung eines Integrations- oder Hilfeplans innerhalb einer Jugendwohngruppe. Mit dem Organisationsbegriff der Systeme sind erstens die diesbezüglich zentralen institutionellen Norm- und Kontrollfunktionen wie unter anderem die Justiz, Polizei, Jugendhilfe, Sozialen Dienste und die Schul- und Bildungsinstitutionen angedeutet. Die Hilfeangebote auf Systemebene stehen zweitens für einen spezialisierten wie passgenauen Zuschnitt an pädagogischen Hilfesettings, die in ihren institutionellen Grenzen den Radius des Sprengers insofern negativ definieren, als das reguläre Systemangebot für alle Beteiligten (vor dem eigentlichen intensivpädagogischen Interventionsanlass) als dysfunktional erscheint. Lückenhafte und fehlende Zuständigkeit, Überlastungssymptome, Ressourcenknappheit, strukturell bedingte Unverbindlichkeit und mangelnde Professionalität als beliebiges Handlungsrepertoire der Praxisakteurinnen VHN 2 | 2024 85 SVEN HEUER Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! DAS PROVOK ATIVE ESSAY und Praxisakteure prägen die handlungslogischen Systemgrenzen zwischen „normalen“ und intensivpädagogischen Maßnahmen. Die Frage, ob intensivpädagogische Settings das passende Lösungsangebot für das Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Problem vorhalten, ist vermutlich genauso falsch gestellt, wie die Frage, ob der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Begriff fachlich genutzt werden soll oder nicht. Gerade weil die metaphorische Begriffsverwendung erhebliche Materialisierungseffekte von Verhaltenszuschreibungen als einseitige Adressatinnen- und Adressatenproblematik evoziert, ist eine Problematisierung fachlich notwendig (vgl. Heuer, 2022; Herz, 2020; Hiller, 2022). 4 Labeling Eine andere Perspektive eröffnet die Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Kritik von Peters (2019; 2020), der in klassischer Tradition des Labeling Approach den institutionellen Gebrauchswert genauer umreißt: „Warum die Konstruktion der ‚Schwierigen‘ sich so hartnäckig hält, liegt evtl. daran, dass hier ein Grundmuster der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder aktiviert wird: die Reklamation ihrer universellen ‚Zuständigkeit in der Krise‘. Ihre ‚fürsorgepädagogische Legitimation‘ erhält die Jugendhilfe nämlich dadurch, dass sie Problemdiskurse individueller Abweichung im Spannungsverhältnis zur Sorge um eine Destabilisierung gesellschaftlicher Institutionen (oder gar: ‚Gesellschaft‘) mitproduziert oder aufgreift und sich dadurch zugleich ihren eigenen Legitimations- und Handlungsbedarf schafft“ (Peters, 2020, S. 115). Anders formuliert, sichern sich intensivpädagogische Akteurinnen und Akteure mit der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Etikettierung ihr fachpolitisches Mitspracherecht als Expertinnen und Experten eines Problemphänomens. „Mit der propagierten innovativen Spezialisierung auf ein vermeintlich ‚neues‘ Klientel werden neue Finanzierungsquellen erschlossen, neue Zuständigkeiten generiert, neue Zertifizierungen entwickelt - ja sogar neue Lehrstühle generiert. Die scheinbar empirisch gesicherte diagnostische Gewissheit über eine derart ‚neu‘ geschaffene Risikogruppe generiert wiederum neue Zuständigkeitsroutinen und -rituale“ (Herz, 2020, S. 86). So designen sie bestenfalls - in der Kommunikation über die Typisierung der neuen Abweichlerinnen und Abweichler - ihre intensivpädagogische Qualitäts- und Wirkungsprogrammatik selbst. Welche Kinder und Jugendliche adressiert werden, zeigt sich im Konstituierungsvorgang des Etiketts vor allem an Überforderungsreaktionen des Erziehungs- und Fürsorgesystems. Institutionelle Überlastung, Kostendruck, fachliche Überforderung und Exklusionsdynamiken sind wiederholt entscheidende Faktoren, die gemeinsam die Schwelle der regelgerechten oder „extremen“ Abweichung definieren, anheben oder senken. Dass das Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Label über die Köpfe jener Adressierten hinweg kommuniziert wird, ist kein unüblicher Vorgang eines grundsätzlich asymmetrischen Professionsverständnisses. „Kein/ e Jugendliche / r bezeichnet sich selbst so, und trotz der relativierenden Einlassungen wirkt der Begriff ‚naturalisierend‘ und schreibt fehlende Passungsverhältnisse zwischen Hilfeangeboten und Interaktionen von jungen Menschen als feststehende Eigenschaften der Person zu“ (Peters, 2020, S. 115). Auch wenn Fachkräfte in der konkreten Förderpraxis ihre Adressatinnen und Adressaten (aus guten und glaubwürdigen Gründen des Stigmatisierungsrisikos) nicht als Systemsprengerinnen/ Systemsprenger labeln, wird ein eindeutig expertokratischer Gültigkeitsanspruch auf das Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Etikett erhoben. Die „heimliche“ und nichtspezifizierte Diagnose ist fachlich gesehen keineswegs arbiträr. Zweifelsohne ist die VHN 2 | 2024 86 SVEN HEUER Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! DAS PROVOK ATIVE ESSAY Adressatinnen-/ Adressatenklassifikation für einen Hilfe- und Förderanspruch unumgänglich. Dennoch geht die praktizierte Adressatinnen-/ Adressatencharakterisierung - zwischen dem gezielten Unterschlagen und Nutzen eines Labels - mit dem Risiko einher, die geschilderten Konfliktstrukturen ätiologisch zu reduzieren. 5 Problematisierung einer Begriffsklassifizierung Sowohl Praktikerinnen und Praktiker als auch Forscherinnen und Forscher sind herausgefordert, die pejorative Funktion des Personenkonzeptes der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Figur innerhalb ihrer empirischen wie gesellschaftspolitischen Relationen, Begrenztheiten und Widersprüchlichkeiten einzuordnen und zu decodieren. Baumann (2020) betont kritisch - er nennt beispielhaft die Forschungsstudien von Giertz & Gervink (2017) und Macsenaere (2018) -, dass Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Fälle als messbare Größen operationalisiert werden. Mit der Folge, dass zwangsläufig systemsprengende Devianz eindeutig klassifiziert wird: „Sie [die genannten Studien] beziehen sich auf statistische Zusammenhänge, die nun einmal keinen Einzelfall erklären können, und zweitens, sie sehen Systemsprenger-Sein als eine Eigenschaft an, die an den Menschen geknüpft ist und dekontextualisieren somit das Phänomen“ (Baumann, 2020, S. 16). Vor diesem Hintergrund gibt es weitere Gründe der Begriffskritik des Systemsprengerinnen / Systemsprenger-Modells, die an zwei Beispielen der Forschungspraxis und deren Umgang weiter illustriert werden können: n Konstruierte Vergleichbarkeit: Für die professionstheoretische wie praxisrelevante Auswertung von Studien könnten wir z. B. fragen, ob die feststellbaren Verhaltensindikatoren und Korrelationen, in denen ausschließlich Systemsprengerinnen und Systemsprenger in ihren jeweiligen Lebensbedingungen und Problemkontexten erfasst werden, tatsächlich im Vergleich zu ‚normalen‘ Adressatinnen- und Adressatengruppen (z. B. der Hilfen zur Erziehung) signifikant höher ausgeprägt sind. Sind signifikante faktorielle Zusammenhänge und Relationen statistisch völlig unauffällig? Provozieren kausalitätsorientierte Grundentitäten möglicherweise Fehlschlüsse, die gegebenenfalls versteckte Segregationen erzeugen? Welche Konstituierungsversuche des Systemsprengerinnen- und Systemsprenger-Begriffs basieren auf diesen statistischen Datenerhebungen? n Klassifikationen einer Problemgruppe: Neben der Problematisierung der validen Vergleichbarkeit zwischen lebensweltsensiblen (langfristig angelegten) und geschlossenen Kurzzeitmaßnahmen sind forschungsmethodisch Wirksamkeitsrelevanzen kaum gegeneinander aufzurechnen. Bedingt durch verschiedene Zielpräferenzen der konkreten Maßnahmen (wie z. B. Gewaltfreiheit, selbstständige Lebensführung oder Rückkehr in die Kernfamilie) variieren innerhalb der fachpolitischen Einbettung die Adressierungseffekte. Wo liegen die datenbasierten Differenzierungen zwischen intensivpädagogischem Hilfebedarf und Regelbedarf ? Der Unterschied zwischen „Intensivtäterinnen“ und „-tätern“ im Anti-Gewalt-Training oder Systemsprengerinnen/ Systemsprengern in intensivpädagogischen Auslandsmaßnahmen definiert den Grad der Devianz und den Grad der Fremdbestimmung oder Eingriffsintensität. Über die theoriegeleitete wie praxisförmige Typisierung einer intensivpädagogischen Zielgruppe entsteht durch administrative Steuerung die Gefahr, dass „‚Systemsprenger‘ auf ihren juridisch definierten und in Fachterminologien korrekt klassifizierten Objektstatus“ (Herz, 2020, S. 88) verwiesen werden. Zielgruppenspezifische Faktorenerhebung und Eingangsdia- VHN 2 | 2024 87 SVEN HEUER Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! DAS PROVOK ATIVE ESSAY gnostik bleiben ein Segment der Wirklichkeitsbildung. Wenn wir z. B. eine Risikopopulation „rein“ empirisch identifizieren und probabilistisch bestimmen, sind wir aus einer kritischen Perspektive aufgerufen, diese Verdinglichungsdynamiken von Verhaltenskategorien konfliktorientiert mitzudenken. Die selbstverständliche Semantik und der Begriffsgebrauch in Forschung und Praxis zeigen, dass der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Topos sich immer wieder in kritischer Relation zum Konstituierungsprozess neu verorten muss. 6 Fazit Fachlich scheint es unstrittig, dass problematisches Verhalten weder nur individuell konstruiert noch pathologisch „systemsprengend“ ist. Dennoch trägt die verallgemeinernde Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Metapher dazu bei, eine anerkennungsorientierte Perspektive auf die Differenz zwischen Person und Verhalten zu verstellen. Ein Blick hinter das Etikett mit ihrer „story line“ und der diesbezüglichen Evokationsdynamik ist angesichts der hier skizzierten Fallstricke in der Systemsprengerinnen/ Systemsprenger-Begriffsnutzung zentral: Die professionalisierte Vergegenwärtigung der selbsterzeugten Materialisierungseffekte und klassifizierten Stereotype abweichenden Verhaltens - mit all ihren Konfliktpotenzialen - gehört zweifellos zur Macht- und Gesellschaftsanalyse eines intensivpädagogischen Fallverstehens. Literatur Ahrbeck, B. (2022). Kinder, die Systeme sprengen. Psychodynamische Überlegungen. Sonderpädagogische Förderung heute, 67 (1), 93 -99. Baumann, M. (2010). Kinder, die Systeme sprengen. Bd. 1: Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Hohengehren: Schneider. Baumann, M. (2019). Kinder, die Systeme sprengen. Bd. 2: Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule. Hohengehren: Schneider. Baumann, M. (2020). Systemsprenger. Sozialmagazin, 45 (11), 14 -20. Baumann, M. & Macsenaere, M. (2021). Bis an die Grenzen und einen Schritt weiter. Aktueller Forschungsstand zur Jugendhilfe mit riskant agierenden jungen Menschen und „Systemsprengern“. Unsere Jugend, 73 (6), 242 -252. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ uj2021.art41d Blumenberg, H. (2013). Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Giertz, K. & Gervink, T. (2017). „Systemsprenger“ oder eher Patienten mit einem individuellen und komplexen Hilfebedarf? Psychotherapie Forum, 22, 105 -112. https: / / doi.org/ 10.1007/ s00729-017-0104-0 Herz, B. (2020). Intensivpädagogik. Sozialmagazin, 45 (11), 82 -89. Heuer, S. (2022). Systemsprenger: innen - Begriffstransformationen, Metapher und Adressat: innenkonzept. Sonderpädagogische Förderung heute, 67 (4), 351-366. Hiller, G.-G. (2022). Warum die Jugendhilfe Systemsprenger: innen nötig hat und was Landesjugendämtern deshalb zu raten ist. Sonderpädagogische Förderung heute, 67 (1), 84-92. Klawe, W. (2010). Verläufe und Wirkfaktoren Individualpädagogischer Maßnahmen - eine explorativ-rekonstruktive Studie. Köln: AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. Klawe W. (2015). Wirkungen und Wirkfaktoren der Intensiven Sozialpädagogischen Einzelmaßnahmen. Jugendhilfe, 53 (5), 410 -414. Lakoff, G. & Johnson, M. (2021). Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 10. Auflage. Heidelberg: Auer Verlag. Macsenaere, M. (2018). „Systemsprenger“ in den Hilfen zur Erziehung: welche Wirkungen werden erreicht und welche Faktoren sind hierfür verantwortlich? Jugendhilfe, 56 (3), 310 -314. Peters, F. (2019). Die soziale Konstruktion der „Schwierigen“. Ein soziologischer Blick. FORUM für Kinder- und Jugendarbeit, 25 (3), 4 -10. Peters, F. (2020). Der Konstruktionsprozess der „Schwierigen“ - Das Beispiel der sogenannten „Systemsprenger: innen“. Forum Erziehungshilfen, 26 (2), 113 -116. Schmeis, B. (2019). Raus, raus, raus mit der Wut. Der SPIEGEL online. Abgerufen am 3. 7. 2023 von https: / / www.spiegel.de/ kultur/ kino/ system- VHN 2 | 2024 88 SVEN HEUER Kinder und Jugendliche sprengen (keine) Systeme! DAS PROVOK ATIVE ESSAY sprenger-von-nora-fingscheidt-aufschrei-ingrell-pink-filmkritik-a-1287383.html Witte, M. D. & Sander, U. (2011). Problemjugendliche als Herausforderung für die Jugendhilfe. In M. D. Witte & U. Sander (Hrsg.), Erziehungsresistent? ‚Problemjugendliche‘ als besondere Herausforderung für die Jugendhilfe, 7 -15. Baltmannsweiler: Schneider. Anschrift des Autors Dr. Sven Heuer Werkstattschule Bremerhaven Industriestr. 31 D-27570 Bremerhaven E-Mail: s.heuer@schulen.bremerhaven.de Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten sind für Pädagogen eine große Herausforderung. Dieses Lehrbuch bietet Studierenden der Pädagogik, der Sonder- und Heilpädagogik sowie der Sozialpädagogik und Sozialarbeit eine kompakte Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Der Autor vermittelt einen Überblick über die Grundlagen, Theorien und praxisrelevante Forschungsergebnisse. Der didaktische Aufbau, die Übungsaufgaben mit Lösungshinweisen und das Glossar erleichtern das Lernen mit diesem Buch. a www.reinhardt-verlag.de Grundlagen der Verhaltensgestörtenpädagogik 5. Auflage 2024. 256 Seiten. 25 Abb. 6 Tab. (978-3-8252-6200-6) kt
