Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte: Lehrkräfte in der Autismus-Beratung. Ergebnisse einer Online-Befragung
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Wolfram Kulig
Bodo Lippl
Christian Lindmeier
Seit zwei Jahrzehnten sind Schülerinnen und Schüler im Autismus-Spektrum zunehmend ein Thema im deutschen Schulsystem. Das betrifft – wenn auch mit Abstufungen – alle Schulformen und begründet sich vor allem durch die gestiegene Zahl autistischer Schülerinnen und Schüler. Im Versorgungsatlas 2018 des Zentralinstitutes für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland wird für die Jahre 2009 bis 2017 bei autistischen Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre eine Prävalenz von 0,94 Prozent angegeben. Darunter fallen auch die Diagnosen „frühkindlicher Autismus“ und „atypischer Autismus“ (https://www.bundestag.de/webarchiv/presse/hib/2020_09/792862-792862). Aufgrund dieser Entwicklungen gewinnt aus schulischer Sicht die Frage an Relevanz, wie pädagogisch-praktisch, aber auch in Hinblick auf die Professionsentwicklung mit den Schülerinnen und Schülern im Autismus-Spektrum umgegangen werden soll.
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VHN 3 | 2024 217 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Lehrkräfte in der Autismus-Beratung. Ergebnisse einer Online-Befragung Wolfram Kulig, Bodo Lippl & Christian Lindmeier Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Seit zwei Jahrzehnten sind Schülerinnen und Schüler im Autismus-Spektrum zunehmend ein Thema im deutschen Schulsystem. Das betrifft - wenn auch mit Abstufungen - alle Schulformen und begründet sich vor allem durch die gestiegene Zahl autistischer Schülerinnen und Schüler. Im Versorgungsatlas 2018 des Zentralinstitutes für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland wird für die Jahre 2009 bis 2017 bei autistischen Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre eine Prävalenz von 0,94 Prozent angegeben. Darunter fallen auch die Diagnosen ‚frühkindlicher Autismus‘ und ‚atypischer Autismus‘ (https: / / www.bundestag.de/ webarchiv/ presse/ hib/ 2020_09/ 792862-792862). Aufgrund dieser Entwicklungen gewinnt aus schulischer Sicht die Frage an Relevanz, wie pädagogisch-praktisch, aber auch in Hinblick auf die Professionsentwicklung mit den Schülerinnen und Schülern im Autismus-Spektrum umgegangen werden soll. Zur Bearbeitung dieses Problems hat sich in den letzten Jahren in allen Bundesländern eine autismusspezifische, externe Beratungsstruktur herausgebildet. Das heißt, spezifisch qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer unterstützen die Schulen, aber auch die einzelne Lehrkraft bei der Arbeit mit autistischen Schülerinnen und Schülern. Diese Unterstützung reicht dabei von didaktischen Fragestellungen über die Integration der Schülerinnen und Schüler in die Klassengemeinschaft bis hin zu juristischen Themen wie zum Beispiel einem Nachteilsausgleich. Die Aufmerksamkeit und damit auch die bildungspolitische Bedeutung, die das Thema Autismus im schulischen Kontext erfährt, unterscheidet sich jedoch erheblich zwischen den Bundesländern, was sich neben dem Ausweis eines eigenen Förderschwerpunktes „Autismus“, den es derzeit in drei Bundesländern gibt, auch im Ausbau der genannten Beratungsstrukturen widerspiegelt. Im Fokus erziehungswissenschaftlicher beziehungsweise sonderpädagogischer Forschung standen die Beratungslehrerinnen und -lehrer selbst bis jetzt jedoch nicht. Zwar gibt es eine Überblicksstudie über die schulischen und schulbürokratischen Strukturen hinsichtlich des Autismus- Spektrums in den einzelnen Bundesländern (Lindmeier et al., 2020), die Beratungslehrkräfte sind bisher jedoch wenig untersucht. Es liegen weder demografische Daten noch Informationen zu spezifischen Weiterbildungen und Qualifikationen vor. Auch über die eigentliche Beratungstätigkeit, die vor Ort geleistet wird, ist noch sehr wenig bekannt. Eine erste Beantwortung dieser Fragen bietet eine Studie von Kulig, Lippl und Lindmeier (2023), die unter http: / / dx.doi.org/ 10. 25673/ 110938 zugänglich ist. Die Online-Befragung versucht, einen quantitativen Überblick über die Gruppe der Beratungslehrkräfte zu gewinnen. Angestrebt wurde dabei der Einbezug aller Bundesländer, der jedoch nicht vollständig realisiert werden konnte. Ausgewertet wurden die Angaben von Beratungslehrkräften aus elf Bundesländern. Standarddemografisch zeigt sich dabei, dass vor allem Förderschullehrkräfte in der Autismusberatung tätig sind, von denen (ebenfalls auffällig) über die Hälfte 50 Jahre oder älter ist. Die Daten deuten auf eine große persönliche Motivation für den Einstieg in die Beratungstätigkeit hin. Die Freude an dieser speziellen Arbeit und das fachliche Interesse sowie eine generelle Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Aufgaben sind die wesentlichen Motivationsfaktoren. Weiterhin ergab die Untersuchung eine große Bandbreite von themenspezifischen Weiterbildungen, wobei erwartungsgemäß das Thema Autismus im Allgemeinen am häufigsten genannt wurde. Eine ebenfalls überraschend große Bandbreite ergab die Untersuchung hinsichtlich der in der Beratungstätigkeit bearbeiteten Themen wie auch hinsichtlich der tatsächlichen Tätigkeiten selbst. Besonders die hohe Anzahl an Kooperationspartnern in schulischen und außerschulischen Feldern sowie die Tatsache, dass ein Drittel der Befragten angibt, häufig selbst als Referent/ innen in Fort- und Weiterbildungen tätig zu sein, macht die Multiplikatorenrolle der Beratungslehrkräfte deutlich. Sie bestimmen wesentlich das Verständnis von Autismus-Spektrum an den einzelnen Schulen mit. Auch zu Fragen, wie gut sich die Beratungslehrerinnen und -lehrer in ihrer Arbeit unterstützt fühlen sowie zu Fragen von individuellem Belastungserleben präsentiert die Studie einige Ergebnisse. Abgeschlossen wird VHN 3 | 2024 218 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE die Untersuchung mit einer Sammlung von Aspekten, die laut Aussagen der Lehrkräfte ihre Beratungsarbeit unterstützen würden. Diese offen erfragten und dann entsprechend kategorisierten Aspekte geben einen sehr guten Einblick in die vor Ort bestehenden Arbeitsverhältnisse und reichen von politischen Fragestellungen, die zum Beispiel die Lehrer/ innenbildung insgesamt betreffen, bis hin zu fehlendem Büromaterial. Insgesamt liefert die Studie einen ersten bundesweiten Überblick über ein bisher kaum untersuchtes Berufsfeld und die dort tätigen Akteur/ innen. Weitere Auskünfte und Literaturhinweise können eingeholt werden bei Dr. Wolfram Kulig: wolfram.kulig@paedagogik.uni-halle.de DOI 10.2378/ vhn2024.art19d PerSAS - Schüler/ innenperspektiven von Jugendlichen im Autismus-Spektrum Projektmitarbeiterin: Mieke Sagrauske Projektleiter: Prof. Dr. Christian Lindmeier Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Das Projekt „PerSAS“ hat eine Laufzeit von Februar 2023 bis Januar 2026 und wird von der Software AG-Stiftung und der autismus Deutschland-Stiftung finanziert, wobei erstere mehr als 90 Prozent der Finanzierung übernimmt. Ausgangslage International gibt es immer mehr Studien zu den schulischen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum, in denen die Betroffenen selber zu Wort kommen und aus der eigenen Perspektive berichten (vgl. Hummerstone & Parsons, 2021; Saggers, 2015; Humphrey & Lewis, 2008). Diese Studien verdeutlichen, dass die Schulerfahrungen von Jugendlichen im Autismus- Spektrum, die an allgemeinen Schulen unterrichtet werden, komplex und auch individuell unterschiedlich sein können. Gleichwohl stellt sich heraus, dass Lehrkräfte und Peers einen sehr großen Einfluss auf das Gelingen oder Misslingen der schulischen Inklusion von autistischen Jugendlichen haben (vgl. Sagrauske, Lindmeier & Chemnitz, i. E.; Horgan, Kenny & Flynn, 2022). Einige dieser Studien fokussieren neben der Perspektive der autistischen Schüler/ innen auch die Perspektiven der Eltern und/ oder Lehrkräfte (vgl. Hay & Winn, 2005; Carrington & Graham, 2001), wobei deutlich wird, dass sich die jeweiligen Perspektiven erheblich voneinander unterscheiden können. Dies bestätigt die Notwendigkeit, die Schüler/ innen selbst über ihre schulischen Erfahrungen anzuhören, denn nur sie können sagen, welche Unterstützungsmöglichkeiten für sie wirklich hilfreich wären. In Deutschland gibt es keine aktuellen Studien zu den schulischen Erfahrungen von Jugendlichen im Autismus-Spektrum. Von der Erhebung der Perspektiven autistischer Schüler/ innen erhoffen wir uns deshalb wichtige Einblicke, um bspw. schulische Barrieren leichter identifizieren zu können. Außerdem ist dies eines der besten Mittel, um eine passgenaue Unterstützung zu kreieren und zur Weiterentwicklung der inklusiven schulischen Praxis beizutragen. Forschungsziele In der geplanten Projektlaufzeit von drei Jahren sollen folgende drei Ziele realisiert werden: 1. Das erste Ziel dieser Untersuchung ist es, fundiertes Praxiswissen über die individuellen schulischen Perspektiven autistischer Jugendlicher zu erhalten. 2. Das zweite Forschungsziel besteht aus der Ableitung von praxisrelevanten Empfehlungen zur „autismusfreundlichen“ Weiterentwicklung schulischer Praxis in der Sekundarstufe aus den Erfahrungen der autistischen Jugendlichen. Dabei spielen schulische Kontexte, Unterrichtsgestaltung und Unterstützungsmethoden, angst- und stresserzeugende Situationen und Masking (Camouflaging), Diskriminierung und Bullying, Nachteilsausgleich bei zielgleichem Unterricht, sonder- und allgemeinpädagogische Lehrkräfte und Schulassistenzkräfte sowie Peers eine besondere Rolle. 3. Das dritte und letzte Ziel besteht darin, aus den Erfahrungen im Projekt Empfehlungen zur Gestaltung von Interviewsettings mit autistischen Jugendlichen abzuleiten und so einen Weg für weitere Forschungen zu ebnen.
