Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2024.art21d
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Rezension: Stommel, Theresa (2023): Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung
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Tobias Bernasconi
Die vorliegende Monografie von Theresa Stommel widmet sich dem Thema Bildung, welches im Kontext der Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger und komplexer Behinderung eine lange Tradition und einen hohen Stellenwert hat. Vor dem Hintergrund der Vielzahl an Veröffentlichungen, die sich mit dem Sujet Bildung auseinandersetzen, kann man durchaus fragen, ob es hier noch neue Aspekte zu beschreiben, zu erforschen und darzustellen gibt. Die Antwort ist dabei eindeutig: Es gelingt der Autorin hier, ganz neue Aspekte zur Bildungsthematik hinzuzufügen, alte Ideen und Beschreibungen kritisch weiterzudenken und letztlich praxisorientierte und zeitgemäße Hinweise für die pädagogische Unterstützung zu geben.
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VHN 3 | 2024 227 REZE NSION E N Stommel, Theresa (2023): Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung Bielefeld: transcript. 277 S., € 44,- Die vorliegende Monografie von Theresa Stommel widmet sich dem Thema Bildung, welches im Kontext der Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger und komplexer Behinderung eine lange Tradition und einen hohen Stellenwert hat. Vor dem Hintergrund der Vielzahl an Veröffentlichungen, die sich mit dem Sujet Bildung auseinandersetzen, kann man durchaus fragen, ob es hier noch neue Aspekte zu beschreiben, zu erforschen und darzustellen gibt. Die Antwort ist dabei eindeutig: Es gelingt der Autorin hier, ganz neue Aspekte zur Bildungsthematik hinzuzufügen, alte Ideen und Beschreibungen kritisch weiterzudenken und letztlich praxisorientierte und zeitgemäße Hinweise für die pädagogische Unterstützung zu geben. Ausgangspunkt der Dissertation ist die Feststellung, dass Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung trotz des bestehenden Menschenrechts auf Bildung weiterhin in vielen Bereichen in Bezug auf Bildung von Diskriminierung, Exklusion und Chancenungleichverteilung betroffen sind. Ziel ist es entsprechend, durch die Bearbeitung des Themas Bildungs- und Teilhabechancen zu entdecken und so für diese Menschengruppe zu erweitern. Um dies zu realisieren folgert die Autorin, dass zunächst eine theoretische und an aktuelle Gegebenheiten angepasste Erörterung von Bildung im Kontext geistiger und komplexer Behinderung vonnöten ist, um den Problemen und Herausforderungen zu begegnen und diese konstruktiv weiterzudenken. Das Werk gliedert sich übergreifend in drei Teile. Zunächst wird das Thema Bildung für Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung umfassend beschrieben, wobei vor allem kulturtheoretische Sichtweisen fokussiert werden. Der bisherige, vielgliedrige Diskurs rund um Bildung insbesondere im Fach der sog. Schwerstbehindertenpädagogik wird hier kritisch rezipiert und aufbereitet. Im zweiten Teil wird dann ein allgemeines Verständnis von Bildung entwickelt, das sich insbesondere durch zwei Aspekte auszeichnet. Erstens wird hier Bildung nicht nur für einen bestimmten Personenkreis beschrieben, womit Exklusionsgefahren vermieden werden. Und zweitens wird dennoch die Lebensrealität einer spezifischen Personengruppe bedacht. Durch Rekurs auf die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse sowie die Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels gelingt es hier tatsächlich in besonderer Weise, einen tragfähigen Bildungsbegriff zu skizzieren, der sich gleichsam als allgemein und individuell definiert. Gängige Vorstellungen von Bildung werden dabei gekonnt offengelegt und einer kritischen Revision unterzogen. Als neue Komponente wird dem Bildungsprozess das Phänomen des Staunens hinzugefügt. Das Staunen wird hier als ein für Bildung bedeutsamer Affekt aufgegriffen, der die Erfahrung des Fremden begleiten und damit weitergehend Bildungsprozesse anstoßen kann. Diese zunächst ambivalente Idee, durch Staunen neue Bildungsprozesse zu evozieren, bietet jedoch einen Diskussionsrahmen, in dem es möglich wird, Bildung und damit verbundene didaktische Implikationen mit Blick auf Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung in veränderter Hinsicht zu denken. Das Innovative liegt hier gerade darin, einen tatsächlich neuen Aspekt - das Staunen - einzuführen und darauf aufbauend sowohl eine theoretische Fundierung von Bildung vorzunehmen als auch handlungspraktische Implikationen im Ansatz zu entwickeln. Dies wird vor allem im dritten Teil des Werks entfaltet, in welchem das Phänomen des Staunens als eine bildungsphilosophische Akzentuierung genutzt wird. Darauf aufbauend entwickelt Theresa Stommel erste Ideen und Ansätze eines sogenannten „staunenfreundlichen und staunenerregenden Unterrichts“, welcher gezielt die Momente des Neuen, des Verunsichernd-Staunenden nutzt, um einen gemeinsamen Erfahrungsraum für Lehrende und Lernende, die hier als Lerngemeinschaft begriffen werden, zu schaffen. VHN 3 | 2024 228 REZE NSION E N Die Monografie stellt so eine theoretisch komplexe, jedoch jederzeit nachvollziehbar beschriebene neue Akzentuierung bildungsphilosophischer Fragestellungen dar. Es ist hervorzuheben, dass es der Autorin gelingt, einen nicht ausschließenden Bildungsbegriff zu beschreiben, der dennoch die spezifische Lebensrealität von Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung anerkennt und auf sie zugeschnittene, jedoch im Allgemeinen orientierte Angebote entwirft. Prof. Dr. Tobias Bernasconi D-50931 Köln DOI 10.2378/ vhn2024.art21d Ricking, Heinrich (2023): Schulabsentismus pädagogisch verstehen Stuttgart: Kohlhammer. 163 Seiten, € 32,- Das Buch Schulabsentismus pädagogisch verstehen ist in der Reihe Fallbuch Pädagogik im Kohlhammer-Verlag erschienen. Heinrich Ricking beschreibt darin nach einer fallbasierten Einleitung zunächst die Charakteristika von Schulabsentismus (Kapitel 2) und arbeitet die Beeinträchtigungen heraus, die Schulabsentismus zugrunde liegen (Kapitel 3). Das vierte Kapitel ist einer theoretischen Rahmung mit Fokus auf die Feldtheorie gewidmet. Daran anschließend befassen sich die Kapitel 5 und 6 mit schulischer Prävention und Intervention bei Schulabsentismus. Damit ist der theoretische Teil des Buches abgeschlossen und es folgen drei Falldarstellungen (Kapitel 7 bis 10). Nach dem Fazit in Kapitel 11 folgt ein Serviceteil mit Ressourcen und Arbeitsmaterialien zum konkreten Umgang mit Schulabsentismus sowie Empfehlungen für weiterführende Literatur. Der theoretische Teil und die Falldarstellungen machen jeweils etwa die Hälfte des Umfangs des Buches aus. Präzise und in aller Kürze werden Formgruppen von Schulabsentismus sowie die wichtigsten Risiken und Bedingungsfaktoren von Schulabsentismus eingeführt. In Bezug auf die Prävalenz von Schulabsentismus weist Heinrich Ricking darauf hin, dass deutschlandweit repräsentative Zahlen bis dato fehlen und als notwendiger Standard der Erfassung eine systematische digitale Registrierung von Absentismus in Echtzeit anzustreben sei. In Bezug auf die Ursachen von Schulabsentismus wählt der Autor drei Aspekte zugrundeliegender Beeinträchtigungen aus: dysfunktionale Emotionsregulation, Angst und Angststörungen sowie Leistungsprobleme und Schulversagen. In diesem Kapitel wird auch das Teufelskreismodell Versagen - Vermeiden vorgestellt. Bei der theoretischen Rahmung von Schulabsentismus entscheidet sich Heinrich Ricking für die Feldtheorie nach Kurt Lewin, weil sie ganzheitlich auf die Bedingungen des schulabsenten Verhaltens in unterschiedlichen Settings blickt und davon ausgeht, dass Wahrnehmung, Erleben und Verhalten der Schüler/ innen in einem dynamischen Kontext wie der Schule zusammenwirken und entsprechend auch gemeinsam betrachtet werden sollten. Zur analytischen Sortierung konkreter Fälle bietet die Feldtheorie das Konzept der Wirkungsräume (Regionen), von denen sich Menschen entweder angezogen oder abgestoßen fühlen können. Für die Arbeit mit Schulabsentismus haben sich die Wirkungsräume Familie, Schule, Peers und alternativer Wirkungsraum als hilfreich erwiesen. Die Falldarstellungen werden im Buch dazu verwendet, die theoretischen Inhalte zu ergänzen und beschriebene Phänomene anschaulicher zu machen. Im Zentrum steht dabei die Rekonstruktion komplexer sozialer Sachverhalte und das Nachvollziehen subjektiver Theorien der Protagonist/ innen der drei Fälle. Entlang der Feldtheorie wird jeder der drei Fälle strukturiert und so detailliert beschrieben, dass mit der Brille einer forschenden Person „Typisches im Individuellen“ (Fatke, 2013, S. 167, Zitat in Ricking, 2023) entdeckt werden kann und aus der Perspektive einer pädagogisch handelnden Person falltypische Muster und Erklärungswege nachvollzogen werden können. Der Serviceteil stellt eine Auswahl an Materialien zusammen, die zum einen frei zugängliche Literatur zum Thema Schulabsentismus, Hand-
