eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 93/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2024.art23d
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2024
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Rezension: Blum, Stefan, Brunner, Sabine, Grossniklaus, Peter, Herzig, Christophe A., Jeltsch-Schudel, Barbara, Meier, Susanne (2022): Kindesvertretung. Konkret, partizipativ, transdisziplinär

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2024
Susanne von Graffenried-Flückiger
Sechs Personen aus unterschiedlichen Disziplinen – Sozialarbeit, Rechtswissenschaften, Psychologie und Sonderpädagogik – treffen sich zu Schreibretraiten, um gemeinsam ein Grundlagenwerk zu verfassen. Dies ist die Ausgangslage für den zweijährigen kollaborativen Entstehungsprozess des Buches „Kindesvertretung – konkret, partizipativ, transdisziplinär“. Die Expert/innen aus Wissenschaft und Praxis pflegen langjährige berufliche Kooperationen und sind verbunden in ihrem großen Engagement für die Partizipation und die Rechte von Kindern. Der Trias im Untertitel macht die Absicht ihres Vorhabens deutlich und vielversprechend. Das Buch widmet sich der Kindesvertretung, die Kinder parteilich begleitet, ihre Rechte vertritt und ihnen eine Stimme gibt, wenn Gerichte und Behörden für sie wichtige Entscheide fällen. Aufgabe dieses Rechtsinstituts ist es, den Willen des Kindes einzubringen, seine Bedürfnisse und Interessen zu wahren und damit sein verfassungs- und völkerrechtlich verankertes Recht auf Partizipation in es betreffenden juristischen Verfahren in alters- und bedürfnisgerechter Weise zu verwirklichen.
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VHN 3 | 2024 229 REZE NSION E N reichungen oder Themenhefte listet und zum anderen auf Anlaufstellen und ein alternatives Schulkonzept verweist. Einige Kurzinstrumente zur schnellen Diagnostik möglicher Frühwarnsignale für Schulabsentismus sind ebenso vorhanden wie Tipps für Elterngespräche und den Umgang mit Schüler/ innen sowie ein Handlungsplan zur Rückkehrgestaltung nach längerer Absenz. Schulabsentismus pädagogisch verstehen ist sehr klar strukturiert und kompakt aufbereitet. Die Fallbeispiele des zweiten Teils werden nach der Lektüre des ersten Teils besser verstanden als ohne, jedoch eignen sie sich auch direkt als Anknüpfungspunkte für das konkrete pädagogische Handeln im schulischen Alltag für Betroffene. Der Serviceteil gibt einen guten und anschlussfähigen Ratgeber an die Hand mit weiterführender Literatur und einigen Anlaufstellen im nördlichen Teil Deutschlands. Das Buch bietet eine gute erste Orientierung für Personen, die sich in ihrem pädagogischen Alltag akut mit Schulabsentismus konfrontiert sehen. Leider wird die Zielgruppe im Buch nicht explizit benannt oder angesprochen, weshalb die Frage der Passung recht allgemein beantwortet werden muss. Die verwendeten psychologischen Fachbegriffe können für noch wenig belesene Personen zunächst schwierig sein. Kritisch anzumerken ist ferner, dass Kapitel 2 in seinem Aufbau und Umfang suggeriert, dass Schulabsentismus generell auf Beeinträchtigungen zurückgehe. Das stimmt auch in den allermeisten Fällen, jedoch sollte im Sinne der Vielfalt im Unterricht auch nicht unerwähnt bleiben, dass Absentismus für eine Teilgruppe durchaus unschädlich für die schulischen Leistungen auch der Anstrengungsregulation dient und sehr clever vor allem von Schüler/ innen am Gymnasium eingesetzt wird. Insgesamt eignet sich Schulabsentismus pädagogisch verstehen gut als Orientierung für einen zugewandten Umgang mit Schulabsentismus im pädagogischen Alltag und zeigt auf, wie das mittlerweile gut belegte Wissen aus der Forschung praktisch umgesetzt werden kann. Prof. Dr. Christine Sälzer D-70174 Stuttgart DOI 10.2378/ vhn2024.art22d Blum, Stefan; Brunner, Sabine; Grossniklaus, Peter; Herzig, Christophe A.; Jeltsch-Schudel, Barbara; Meier, Susanne (2022): Kindesvertretung. Konkret, partizipativ, transdisziplinär Bielefeld: transcript. 258 S., € 35,- (Print) Sechs Personen aus unterschiedlichen Disziplinen - Sozialarbeit, Rechtswissenschaften, Psychologie und Sonderpädagogik - treffen sich zu Schreibretraiten, um gemeinsam ein Grundlagenwerk zu verfassen. Dies ist die Ausgangslage für den zweijährigen kollaborativen Entstehungsprozess des Buches „Kindesvertretung - konkret, partizipativ, transdisziplinär“. Die Expert/ innen aus Wissenschaft und Praxis pflegen langjährige berufliche Kooperationen und sind verbunden in ihrem großen Engagement für die Partizipation und die Rechte von Kindern. Der Trias im Untertitel macht die Absicht ihres Vorhabens deutlich und vielversprechend. Das Buch widmet sich der Kindesvertretung, die Kinder parteilich begleitet, ihre Rechte vertritt und ihnen eine Stimme gibt, wenn Gerichte und Behörden für sie wichtige Entscheide fällen. Aufgabe dieses Rechtsinstituts ist es, den Willen des Kindes einzubringen, seine Bedürfnisse und Interessen zu wahren und damit sein verfassungs- und völkerrechtlich verankertes Recht auf Partizipation in es betreffenden juristischen Verfahren in alters- und bedürfnisgerechter Weise zu verwirklichen. „Kindesvertretung ist im Kern ein Partizipationsinstrument“ (S. 64): so verstanden, schält das Autor/ innenkollektiv die Partizipation als Kernthema der Kindesvertretung heraus. Als besonders vulnerable und von intersektionaler Diskriminierung bedrohte Rechtssubjekte werden Kinder mit Behinderung explizit in die Betrachtung eingeschlossen, weshalb die Publikation im Leser/ innenkreis der VHN besondere Aufmerksamkeit verdient. Das Buch richtet sich an alle, die sich für Kinderrechte und ihre konkrete Umsetzung in der Praxis interessieren. Es vermittelt Erfahrungen, Perspektiven und Diskurse als wichtige Ressourcen zur VHN 3 | 2024 230 REZE NSION E N Entwicklung persönlicher und fachlicher Kompetenzen für die verantwortungsvollen Aufgaben in Beteiligungsprozessen. In Anerkennung der Vielschichtigkeit der Anforderungen sind wohlgemerkt unterschiedliche Ausbildungshintergründe für die Ausübung der Kindesvertretung zulässig. Auch die Autor/ innen betonen die vielseitigen Voraussetzungen, die für die Kindesvertretung erforderlich sind und konstituieren diese als eine inter-, ja gar transdisziplinäre Verbundaufgabe. Als roter Faden zieht sich daher der Versuch durch das Buch, „sich von einzelnen Disziplinen zu lösen und einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu schaffen“ (S. 20). Ein kühnes Unterfangen, ob es gelingen mag? Nach einem Geleitwort von Prof. em. Dr. med. Dieter Bürgin gliedert sich das Buch in fünf Teile. Als partizipatives Element sind jedem Teil Stimmen von betroffenen Kindern oder Jugendlichen vorangestellt. Zudem durchziehen Fallvignetten das Buch, die den Blick auf die von Diversität geprägte Praxis lenken. Bereits in der Einführung erscheinen die Anlässe zum Einsatz einer Kindesvertretung ebenso vielfältig, wie die personellen Anforderungen an die professionellen Akteur/ innen zu deren Erfüllung (S. 23). Darüber hinaus wird auf die unterschiedlichen Interpretationen und Praktiken hingewiesen, denen die Mandatsausübung unterliegt. Ziele, Funktionen, Rollen und Arbeitsweisen werden nämlich in Praxis, Wissenschaft und Rechtsprechung kontrovers diskutiert. Teil 1 zeichnet die Geschichte und den Stand der Umsetzung der Partizipationsrechte in Verfahren nach Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention in den ausgewählten Ländern England und Wales, Deutschland, Österreich und der Schweiz nach. Auf einer menschenrechtlichen Grundlegung fußend, werden in Teil 2 juristische, psychologische und sonderpädagogische Grundlagen bezüglich der Partizipationsrechte von Kindern thematisiert. Dem transdisziplinären Anspruch folgend, rekurriert dieser umfangreichste Teil auf vielfältige Theoriebezüge: Zur ersten Orientierung erklimmen Lesende etwa die Stufen der Partizipation nach Roger Hart oder werden durch die vier Ebenen des Modells kindlicher Partizipation des Marie Meierhofer Instituts für das Kind geführt. Für die Verwirklichung des Partizipationsrechts von Kindern mit Behinderungen sei das Verständnis von Partizipation erweiterungsbedürftig; in diesem Sinne wird für eine Aufgliederung des Leitziels in seine Elemente Teilsein, Teilhabe, Teilnahme und Teil-Gabe argumentiert (S. 94). Neben dieser Erweiterung wird auch der als notwendig erachtete Rückgriff auf die Behindertenrechtskonvention zur Begründung und Umsetzung der Kindesvertretung für diesen Personenkreis erörtert (S. 97 -101). Eine Aufschlüsselung und Abwägung der Grundbedürfnisse und der Begriffe Kindeswohl und Kindeswille wird im Spannungsfeld ihrer Interdependenz ebenso differenziert wie pointiert dargestellt. Die Hinweise zur Verständigung widerlegen dabei die mögliche Annahme, Willensbildung sei primär eine Angelegenheit der Kognition (S. 95): Hinsichtlich der Meinungsäußerung von Kindern mit Behinderung wird auf die Einbeziehung aller Ausdrucksformen und die dafür notwendige Sensibilisierung und Kenntnis hingewiesen: „Ein Kind mit einer Behinderung kann nur so viel von seinem Willen und seinen Interessen mitteilen, wie wir wahrzunehmen imstande sind“ (S. 96). Aus den grundsätzlichen Überlegungen zur Person, zur Rolle und zum Aufgabenspektrum der Kindesvertretung ergibt sich ein komplexes Anforderungsprofil hinsichtlich der inneren Haltung sowie der fachlichen und persönlichen Voraussetzungen. Als Verbundaufgabe drängt sich die Frage auf, wie ein entsprechendes Verständnis und die Kooperation der Professionen in den Vertretungsmandaten gestaltet werden können. Sie wird mit Ansätzen und Ideen transdisziplinärer Fallführung beantwortet. In Teil 3 kommen vor allem Praktiker/ innen auf ihre Kosten: Ausgehend von den Standards der Kinderanwaltschaft Schweiz, und chronologisch entlang des dynamischen und spiralhaft zu verstehenden Prozesses der Fallarbeit, wird ein Einblick in das Instrumentarium der Kindesvertretung gegeben. Neben praktischen Implikationen - bis hin zu Checklisten - werden Haltungen und Abwägungen erläutert, die eine reflexive Praxis unterstützen. Überlegungen zur Kommunikation mit Kindern - zur Gesprächsführung und zu geeigneten Settings - lassen dabei einen generellen VHN 3 | 2024 231 REZE NSION E N Transfer auf Beratungskontexte zu. Wissenswertes zu Gutachten im Kinderschutz und eine Abgrenzung zwischen Kindesvertretung und Beistandschaft runden diesen Teil ab. Teil 4 veranschaulicht das professionelle Handeln der Kindesvertretung in verschiedenen Handlungsfeldern anhand der Darstellung von sieben Fallbeispielen. Die reflexiven Anteile in deren Schilderung machen den schwierigen Balanceakt, in dem sich die Kindesvertretung bewegt, sowie die Komplexität und Vielfalt der Bedarfslagen erfahrbar. Teil 5 öffnet den Raum für unveränderte Stellungnahmen weiterer Fachpersonen und Entscheidungsträger/ innen, die in ihrer beruflichen Praxis mit Kindesvertreter/ innen kooperieren und bereit sind, ihre Erfahrungen und Einschätzungen zu guter Praxis sowie ihre kritisch-konstruktiven Anliegen an diese zu teilen. Angesichts der Ausdifferenzierung systemischer und interdisziplinärer Handlungsansätze auch in anderen Arbeitskontexten eilt dieses Buch mit seiner transdisziplinären Ausrichtung geradezu voraus. Die konstitutiven Spannungsfelder, die diesem Arbeitsfeld und dem Kinderschutz genuin innewohnen, werden nicht aufgelöst. Leserinnen und Leser mögen daher geneigt sein, sich die Schreibretraiten vorzustellen und ob sich die Kontroversen um die Kindesvertretung und ein Ringen in den Vertretungsmandaten in ihnen niedergeschlagen haben. Der Diskurs wird weiterhin gefördert und gefordert. Es bleibt den Leser/ innen überlassen, aus der Fülle der Leitlinien und Gedanken diejenigen herauszugreifen, die für den eigenen Arbeitskontext und Auftrag relevant sind und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung anregen. Das Buch spiegelt das Ergebnis eines intensiven Fachdiskurses wider, die Suche nach einer gemeinsamen transdisziplinären Sprache durchdringt es als Metaprozess. Das ambitionierte Unterfangen kann als gelungen bezeichnet werden, denn das Werk spannt thematisch einen weiten Bogen zwischen den Disziplinen und zeichnet sich dennoch durch innere Geschlossenheit aus. Die drei Schlagworte des Untertitels, als Versprechen und Anspruch in der Sache, gewinnen bei der Lektüre in doppelter Hinsicht an Profil als Gütekriterium: für gute Kindesvertretung und für das Buch selbst. Es bleibt zu hoffen, dass, nicht zuletzt begünstigt durch die vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützte Open-Access-Publikation, viele Menschen der transdisziplinären 360-Grad-Einladung des Buches folgen, sich der Lektüre widmen und sich dem Diskurs öffnen. lic. phil. Susanne von Graffenried-Flückiger CH-3006 Bern DOI 10.2378/ vhn2024.art23d Mürner, Christian (2023): Verkannte Figuren. Literatur, Lebenswelt, soziale Lesarten Weinheim: Beltz Juventa. 179 S., € 22,- Der 1948 in Zürich geborene Behindertenpädagoge Christian Mürner, der seit 1977 in Hamburg lebt und wirkt, ist den Leserinnen und Lesern der VHN durch viele kleinere und größere Beiträge bekannt, die er in den vergangenen Jahren in der Zeitschrift veröffentlicht hat. Besonders hervorzuheben sind hier die zahlreichen Rezensionen, die an dieser Stelle erschienen sind und die sich meist auf Bücher beziehen, welche im kulturhistorischen Umfeld der Heil- und Sonderpädagogik zu verorten sind. Man könnte auch sagen, dass sie Themen behandeln, die im heilpädagogischen Fachdiskurs, wenn überhaupt, nur am Rande auftauchen, aber deswegen nicht weniger wichtig und relevant sind. Desgleichen die eigene Buchproduktion des Autors Christian Mürner: Viele seiner neueren Publikationen bewegen sich im Spannungsfeld von Kunst und Literatur und Behinderung (Stichwort art brut) oder sie porträtieren Menschen mit Beeinträchtigungen aus verschiedenen Jahrhunderten im Bezug zu den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und was daraus entsteht (etwa „Der hinkende Bote“).