eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 93/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2024.art31d
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2024
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Rezension: Herzog, Dagmar (2024): Eugenische Phantasmen. / Hörnig, J. Thomas (2023): Körperbilder - Krankenmorde.

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2024
Christian Mürner
Die Fakten zu Eugenik, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus sowie deren Wegbereitung und Nachwirkung stehen fest. Angesichts ihrer Bedeutung stellen sich weiter allge-meine und konkrete Fragen. „Wie wird das zuvor Undenkbare denkbar?“ und warum ist es „ungemein langwierig“, die „Eugenik zu verlernen?“, so die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog (He, S. 10, S. 19). „Welche Möglichkeiten hätten [die Angehörigen] gehabt, das Ermorden ihrer Verwandten zu verhindern?“, „gegen wen sollten sich Angehörige wehren und wie?“ sowie „wie wurde in einer Zeit, da […] Kremationen verboten (katholisch) oder unüblich (evangelisch) waren, mit den Urnen, falls angefordert, umgegangen?“, dementsprechend der deutsche Theologe J. Thomas Hörnig (Hö, S. 15f., S. 379). Anhand dieser Fragen thematisieren Herzog und Hörnig jeweils sowohl die wissenschaftlichen als auch die gesellschaftlichen Kontroversen um den „Wert des Menschenlebens mit Behinderungen“. Negativfolie ist dabei die suspekte Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche aus dem Jahr 1920.
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VHN 4 | 2024 309 REZE NSION Die Fakten zu Eugenik, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus sowie deren Wegbereitung und Nachwirkung stehen fest. Angesichts ihrer Bedeutung stellen sich weiter allgemeine und konkrete Fragen. „Wie wird das zuvor Undenkbare denkbar? “ und warum ist es „ungemein langwierig“, die „Eugenik zu verlernen? “, so die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog (He, S. 10, S. 19). „Welche Möglichkeiten hätten [die Angehörigen] gehabt, das Ermorden ihrer Verwandten zu verhindern? “, „gegen wen sollten sich Angehörige wehren und wie? “ sowie „wie wurde in einer Zeit, da […] Kremationen verboten (katholisch) oder unüblich (evangelisch) waren, mit den Urnen, falls angefordert, umgegangen? “, dementsprechend der deutsche Theologe J. Thomas Hörnig (Hö, S. 15f., S. 379). Anhand dieser Fragen thematisieren Herzog und Hörnig jeweils sowohl die wissenschaftlichen als auch die gesellschaftlichen Kontroversen um den „Wert des Menschenlebens mit Behinderungen“. Negativfolie ist dabei die suspekte Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche aus dem Jahr 1920. Herzog nennt ihr Buch ein „Experiment“, den Versuch, „eine Geistesgeschichte geistiger Behinderung zu schreiben“ (S. 21), dabei ist ihr überzeugendes Anliegen, positive Beispiele zu nennen, die vor, während und nach dem Nationalsozialismus den „Wert behinderter Menschen verteidigten“ (S. 13). Nach Herzog ist „die zwiespältige Einstellung zu den Menschen, die aufgrund kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung zu Opfern wurden“ (S. 23), beteiligt an ihrer Geringschätzung, die sich auch in der christlichen Kritik an Binding und Hoche geäußert habe (vgl. He, S. 62, S. 72). Sie bezieht sich dabei auf Stellungnahmen der Inneren Mission und auf die Schrift „Das Problem der Abkürzung ‚lebensunwerten‘ Lebens“ von 1925, verfasst vom protestantischen Arzt Ewald Meltzer, der zugleich Leiter des Katharinenhofes im sächsischen Großhennersdorf war, einer Einrichtung für 200 behinderte, als „bildungsunfähig“ klassifizierte Kinder. Hörnig geht detailliert auf dieses Projekt der „Widerlegung“ von Ewald Meltzer ein (Hö, S. 72ff.). Meltzer fragte die Eltern der Kinder, die in der von ihm geleiteten „Anstalt“ untergebracht waren: „Würden Sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens Ihres Kindes einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, daß es unheilbar blöd ist? “ (zit. nach Hö., S. 83). 73 % antworteten zustimmend, 27 % verneinten. Die suggestive Frage und das Autoritätsgefälle sind dabei deutlich. Auch wenn „der fromme Kirchenmann“ Meltzer in seinem Buchtitel „lebensunwert“ in Anführungszeichen setzte, nannte er dennoch die Kinder im Text „trostloses Material“ (zit. nach Hö, S. 87). Der Historiker und Journalist Götz Aly hält die Angehörigen für mitschuldig. Hörnig fragt nach, ob es so einfach sei. Die Angehörigen standen vor einer komplexen Situation, was nicht heißt, sie „freizusprechen“ (Hö, S. 415). Sie gerieten selbst ins „Visier“ (S. 195). „Wurde ein Familienmitglied zwangssterilisiert, was in den evangelischen Einrichtungen sehr häufig der Fall war, war die gesellschaftliche Stigmatisierung des Opfers noch nicht genug. Auch Familienmitglieder wurden meist sofort erfasst, untersucht und gegebenenfalls gleich auch zwangssterilisiert“ (Hö, S. 195). Von den in der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktion T4 ermordeten Menschen mit Behinderung konnten die Angehörigen die Urnen kurzfristig anfordern, wie ihnen in einem „Trostbrief“ mitgeteilt wurde (vgl. Hö, S. 217f.). Nur Hörnig, J. Thomas (2023): Körperbilder - Krankenmorde. Die nationalsozialistische T4-Aktion und die Reaktion von Angehörigen Stuttgart: Kohlhammer. 610 S., € 44,- Herzog, Dagmar (2024): Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte Berlin: Suhrkamp. 390 S., € 36,- VHN 4 | 2024 310 REZE NSION wenige wurden aktiv; diejenigen, die die Urnen bezogen, standen vor dem Problem, einen Pfarrer zu finden, denn für eine Beisetzung galt: formlos, still, unauffällig (vgl. Hö, S. 464, S. 512). In dem kleinen katholischen Ort Ergenzingen in Südwestdeutschland gab es zwischen 1940 bis 1942 fünf männliche Opfer: drei von ihnen wurden in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet und blieben ohne Begräbnis, einer kam im KZ Buchenwald und einer im KZ Dachau um, beide wurden beigesetzt, weil die Angehörigen die Urnen angefordert hatten, was Hörnig als „Akt von Widerstand durch Nonkonformität“ deutet, denn KZ-Opfer waren „auf der Skala gesellschaftlicher Diskriminierung ganz oben angesiedelt“ (Hö, S. 445). Dennoch fügt Hörnig an, auch im Vergleich mit den „Euthanasie“-Opfern, dass keine „generalisierende[n] Schlüsse“ (ebd.) gezogen werden könnten. Herzog setzt den Schwerpunkt ihres Buches bei den Debatten zu den „Euthanasie“-Morden in der „Nachkriegszeit im Westen“. Sie schreibt: „Denn erst 1983, mit der Veröffentlichung von Ernst Klees Buch ‚Euthanasie‘ und dessen intensiver Rezeption wurde die Aussicht auf eine breite emotionale Identifikation mit den Opfern (statt mit den Tätern oder ihren potenziellen Gegnern, den Anstaltsdirektoren) möglich“ (He, S. 24). Damit bezieht sie sich auf Adorno, der in einem Radiovortrag 1966 in der „Unfähigkeit der Identifikation“ (zit. bei He, S. 21) eine der wichtigsten psychologischen Bedingungen benannte, dass Auschwitz möglich war. Und dass Adorno die Dominanz „des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderer“ (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M., 1970, S. 101) dazuzählte, ist relevant für eine „Geistesgeschichte geistiger Behinderung“ (He, S. 21), denn in Deutschland wurde bis 2001, bis zur Selbstvertretungsgruppe Mensch zuerst - Netzwerk People First Deutschland e.V., meistens stellvertretend über sie gesprochen und geschrieben. Letzteres wird auch deutlich im Abschnitt zu der um 1980 in Bremen entstandenen „Krüppelbewegung“ (He, S. 176). Nur am Rande sei erwähnt, dass es unwahrscheinlich klingt, was Herzog in einer Fußnote insinuiert, dass gleichzeitig im Kontext der Bremer Behindertenpädagogik von der „Verkrüppelung der Nichtbehinderten“ (He, S. 343) die Rede war. Herzogs und Hörnigs Bücher sind in ihrer je eigenen Diktion und Thematisierung der gestellten Fragen ambitionierte und engagierte Auseinandersetzungen mit dem „Menschenbild“, dem zugeschriebenen „Wert“ und der Würde von Menschen mit Behinderungen. Kurz gesagt, Herzogs Antworten sind prononciert, parteinehmend, diejenigen Hörnigs detailliert, hinterfragend - beide entschieden auf die verhängnisvollen, realen und ideologischen Sachverhalte bezogen, aber orientiert an einem ethischen Gegenmodell. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2024.art31d