eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 93/VHN Plus

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2024.art09d
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2024
93VHN Plus

Fachbeitrag: Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung

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2024
David Zimmermann
Claudia Becker
Sophie Friedrich
Der vorliegende Beitrag arbeitet die Verschränkung der sozialen und emotionalen Dimensionen von Flucht, Traumatisierung und Behinderung zunächst theoretisch heraus. Anschließend wird das von 2019–2021 an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführte Forschungsprojekt „Flucht, Trauma und Behinderung im Kontext Schule“ vorgestellt. Insbesondere die Ergebnisse der qualitativen Teilstudie, die eine Befragung pädagogischer Fachkräfte zu ihrem subjektiven Erleben im Umgang mit geflüchteten Schüler/innen (mit Behinderung) beinhaltet, werden im vorliegenden Fachbeitrag präsentiert. Die Forschungsergebnisse verweisen auf ein hohes Engagement und auf eine erhebliche Belastung zahlreicher Fachkräfte, die von diesen als im Wechselspiel mit häufig als unzureichend erlebten strukturellen Rahmungen stehend interpretiert wird. Abschließend folgt die Diskussion über eine erweiterte theoretische Anbindung an professionalisierungstheoretische Diskurse und es werden Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis gegeben.
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1 FACH B E ITR AG VHN plus VHN plus , 93. Jg. (2024) DOI 10.2378/ vhn2024.art09d © Ernst Reinhardt Verlag Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung Subjektive Perspektiven von schulischen Fachkräften auf strukturelle Rahmenbedingungen, praktisches Handeln und Beziehung David Zimmermann, Claudia Becker, Sophie Friedrich HU Berlin Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag arbeitet die Verschränkung der sozialen und emotionalen Dimensionen von Flucht, Traumatisierung und Behinderung zunächst theoretisch heraus. Anschließend wird das von 2019 -2021 an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführte Forschungsprojekt „Flucht, Trauma und Behinderung im Kontext Schule“ vorgestellt. Insbesondere die Ergebnisse der qualitativen Teilstudie, die eine Befragung pädagogischer Fachkräfte zu ihrem subjektiven Erleben im Umgang mit geflüchteten Schüler/ innen (mit Behinderung) beinhaltet, werden im vorliegenden Fachbeitrag präsentiert. Die Forschungsergebnisse verweisen auf ein hohes Engagement und auf eine erhebliche Belastung zahlreicher Fachkräfte, die von diesen als im Wechselspiel mit häufig als unzureichend erlebten strukturellen Rahmungen stehend interpretiert wird. Abschließend folgt die Diskussion über eine erweiterte theoretische Anbindung an professionalisierungstheoretische Diskurse und es werden Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis gegeben. Schlüsselbegriffe: Flucht, Trauma, Behinderung, Schule, Professionalisierung Pedagogy in the Context of Flight, Trauma and Disability. Subjective Perspectives of School Professionals on Structural Conditions, Practical Action, and Relationships Summary: This article first elaborates on theories about the intertwining of social and emotional dimensions of flight, trauma and disability. Subsequently, the research project “Flight, Trauma and Disability in the Context of Schools”, which was conducted at Humboldt-Universität zu Berlin from 2019 -2021, is presented. In particular, we present the results of the qualitative sub-study, which includes a survey of educational professionals on their subjective experience in dealing with refugee pupils (with disabilities). The research results point to a high level of commitment and a considerable burden on many professionals, which they interpret as interacting with structural frameworks. The latter are often described as inadequate. Finally, there is a discussion about an extended theoretical connection to professionalisationtheoretical discourses as well as recommended action for pedagogical practice. Keywords: Flight, trauma, disability, school, professional development 1 Flucht, Trauma und pädagogische Professionalität Die Spezifika einer Pädagogik mit Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrungen, viele davon hoch belastet, sind in den letzten zehn Jahren sowohl aus der Perspektive der Migrationsals auch der Inklusionspädagogik umfangreich bearbeitet worden (Leuzinger-Bohleber & Hettich, 2018; Müller, 2021). Eine Freitextsuche mit den Begriffen „Flucht“ und „Pädagogik“ in der erziehungswissenschaftlichen Datenbank VHN plus 2 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus „Fachportal Pädagogik“ ergibt mittlerweile 185 Treffer (für einen Überblick s. Schlachzig, 2022). Neben die oft stark methoden- und theorieorientierten Promotionsschriften mit häufig soziologischer Perspektive treten zunehmend Veröffentlichungen, die hochschulische Projekte im gegebenen Kontext reflektieren, u. a. im Bereich der Lehrkräftequalifizierung und zunehmend auch der schulbezogenen fachdidaktischen Weiterentwicklung (Kremsner, Proyer & Biewer, 2020; Mirbek & Birk, 2021). Zur Analyse pädagogischer Interaktions- und Institutionsdynamiken etabliert sich zunehmend die intersektionale Perspektive, da sie die primär soziologisch orientierten empirischen und theoretischen Perspektiven der Migrationspädagogik und die stärker auf Fragen professioneller Entwicklung und Relationalität bezogenen inklusionspädagogischen Zugänge verbindet (Akbaba & Buchner, 2019). Mithilfe einer intersektionalen Perspektive kann aufgezeigt werden, dass pädagogische Arbeit und hier besonders Aspekte der Kategorisierung sich nicht ohne Bezugnahme auf gesellschaftliche Bedingungen und insbesondere Diskriminierungsverhältnisse verstehen lassen (Blanck, 2020; Schlachzig, 2022). In einem erweiterten Schritt können auch die Reaktionen der Kinder und Jugendlichen auf die Zuschreibungen analysiert werden. Jenes Wechselspiel aus Adressierung und individueller Reaktion kann theoretisch als Subjektivierung konzeptualisiert werden. Wird der Leitgedanke eines für die Pädagogik konstitutiven Zusammenspiels äußerer, auch gesellschaftlicher, Erfahrungen und innerer Verarbeitungsmuster ernst genommen, so muss eine intersektionale Perspektive psychoanalytische (Becker, 2020) und traumatheoretische Denkfiguren integrieren (Juche, Friedrich, Weiland, Becker & Zimmermann, 2022). Wird deshalb aus einer genuin pädagogischen Perspektive nach wichtigen theoretischen Bezügen von Forschung im Kontext von Flucht gefragt, so lassen sich zwei zentrale Aspekte benennen: Einerseits bedarf solche Forschung eines Entwicklungskonzepts für Kinder und Jugendliche, bei denen soziale Belastungen und die möglichen damit verbundenen individuellen Entwicklungsbeeinträchtigungen miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Einen wichtigen theoretischen Bezug kann hier das Rahmenmodell der Sequentiellen Traumatisierung (Keilson, 1979) liefern, das in den letzten 15 Jahren in erheblichem Maße erweitert, teils modifiziert, v. a. aber für verschiedene Kontexte adaptiert wurde (Becker, 2017; Zimmermann, 2016). Im Unterschied zu psychiatrischen Traumazugriffen lässt sich in einem solchen Denkmodell kein klarer Ausgangspunkt eines traumatischen Erlebens festmachen und deshalb auch keine „post“-traumatische Symptomatik. Vielmehr interagieren verschiedene, hoch belastende Erfahrungen innerpsychisch miteinander und verdichten sich zumeist zu einem traumatischen Kernerleben (Zimmermann, 2016, S. 62ff.). Das Konzept fungiert einerseits als Scharniertheorie zwischen sozialen Perspektiven auf hohe Belastung, etwa im Rahmen des Labeling-Approaches, und individuumzentrierten Blickwinkeln auf hoch belastete Entwicklung und die Verarbeitung von Extremerfahrungen, wie sie u. a. die Psychoanalyse anbietet, andererseits. Jener Zugriff auf belastete Entwicklung ist im vorliegenden Kontext deshalb von herausragender Bedeutung, weil in zahlreichen Studien die Verwobenheit schulischer Beziehungs- und institutioneller Erfahrung mit den teils traumatischen Vorerfahrungen der Kinder und Jugendlichen mit Fluchterfahrung empirisch nachgewiesen und im Sinne des Konzepts theoretisch integriert werden konnte (Müller, 2021). So lässt sich begründet argumentieren, dass Schule nicht mit vergangenen traumatischen Erfahrungen umgehen muss, sondern stets ein Teil eines traumatischen Prozesses ist - in förderlicher oder chronifizierender Art und Weise. Ein solches Rahmenkonzept kann selbstverständlich keine verallgemeinernden Aussagen über individuelle Bedürfnisse, Ängste und VHN plus 3 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus Beziehungswünsche machen; sehr wohl aber dient es als Reflexions- und Verständnisfolie für Fallverstehen und Diagnostik, ohne klinisch oder schulorganisatorisch entsprechende Kategorien bedienen zu müssen (Zimmermann & Lindner, 2022). Ein aktuelles Projekt versteht die Entwicklung einer „traumasensiblen Schule“ weitgehend parallel zu gängigen Mehrebenenpräventionsmodellen und damit verbundenen gruppen- und individuumsbezogenen Interventionen (Linderkamp & Casale, 2023). Andererseits geraten Fragen der professionellen Identität, des individuell-beruflichen Gewordenseins von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften und der strukturlogischen Spannungsfelder in den Fokus von pädagogischer Forschung (Kratz, 2022), ohne die sich ebenfalls die spezifischen Dynamiken zwischen Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrungen und ihren Bezugspersonen nicht verstehen lassen. Auch mit dieser fachlichen Perspektive sind in den letzten Jahren eine Reihe von empirischen Untersuchungen vorgelegt worden, die eine höhere Belastung von Fachkräften im gegebenen Arbeitsfeld nahelegen, vor allem aber auf eine spezifische institutionelle Subjektivierung auch der Fachkräfte verweisen (Müller, 2021; Weiß, Scheuerer & Kiel, 2021; Juche et al., 2022). So lässt sich zumindest näherungsweise eine komplexe Verschränkung verschiedener Dimensionen von professionellem Gewordensein ausmachen: Gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, strukturelle Verantwortungslosigkeiten in schulischen und außerschulischen Feldern, „professional beliefs“ und vor- und unbewusste, häufig biografisch geprägte Bedürfnisse und Ängste professionell Handelnder greifen in komplexer Weise ineinander. Wenngleich also kein gänzlich geklärtes Professionalisierungsmodell vorgelegt werden kann, so muss doch zumindest der „Raum voller Ungewissheiten“ (Kratz, 2022, S. 191) betont werden, denen Lehrkräfte im hier beschriebenen Handlungsfeld ausgesetzt sind und denen sie nur unter der Perspektive von kritischer Reflexionsfähigkeit (Brookfield, 2009) begegnen können. 2 Überlegungen zur Interdependenz von Trauma mit der Kategorie Beeinträchtigung/ Behinderung Ein weitgehend unbearbeitetes Themenfeld bilden das Nebeneinander und die Interdependenz zwischen hoch erschwerter, teils traumatisch beeinflusster Entwicklung einerseits sowie Beeinträchtigungen und Behinderungen andererseits. So liegen kaum Publikationen vor, die im Kontext von Flucht und Pädagogik spezifische Bedarfe, Beeinträchtigungen und Behinderungen fokussieren (vgl. Juche et al., 2022). Jedoch ist mit der Heterogenitätsdimension „Beeinträchtigung/ Behinderung“ eine weitere Dimension pädagogischer Herausforderungen zu konstatieren, die mit einem erheblichen Professionalisierungs- und Institutionsentwicklungsbedarf verbunden ist. So können sich aus Sinnes- oder körperlichen Beeinträchtigungen und den damit verbundenen Benachteiligungen - z. B. mangelnde Zugänge zu Bildung im Herkunftsland oder auf der Flucht (Schahrzad, Otten & Zuhr, 2017) - spezifische Handlungsbedarfe ergeben, auf die fachwissenschaftliche und pädagogisch-praktische Antworten gefunden werden müssen. Dies ist z. B. der Fall, wenn geflüchtete gehörlose Jugendliche ohne eine ausgebildete Erstsprache (eine Laut- oder eine Gebärdensprache) und ohne Alphabetisierung Deutsch und/ oder Deutsche Gebärdensprache lernen und gleichzeitig einen Schulabschluss bzw. eine Ausbildung anstreben (Becker & Zimmermann, 2019; Becker & Juche, 2018). Insbesondere in den Förderbedarfen der emotional-sozialen Entwicklung, des Autismus sowie der geistigen Entwicklung ist eine Unterschei- VHN plus 4 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus dung zwischen hoch belasteten Entwicklungsverläufen und davon unabhängigen Beeinträchtigungen allerdings oft nicht möglich. Aus einer differenzierten theoretischen Perspektive, die u. a. neurowissenschaftliche, psychoanalytische und genuin pädagogische Theoriebildung einbezieht, lassen sich hohe lebensgeschichtliche Belastungen und insbesondere sequenziell traumatische Prozesse nicht trennscharf von manifesten Beeinträchtigungen der Entwicklung unterscheiden (Zimmermann, 2019). Vielmehr zeigen sich die entsprechenden Entwicklungsbelastungen stets als subjektlogisch und in komplexer Weise mit eigenen, transgenerationalen und sozialen Erfahrungen verwoben (Gerspach, 2018, S. 85ff.; Kühn & Bialek, 2017). Während dies im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung geradezu selbsterklärend und offensichtlich erscheint, dominiert im Bereich des Autismus-Spektrums und der kognitiven Beeinträchtigung weiterhin ein weitgehend monokausales, letztlich medizinisches Erklärungsmuster - wenngleich häufig ergänzt durch eine bio-psycho-soziale Sichtweise, die aber nicht in ausreichendem Maße die Idee einer ursprünglich biologischen Verursachung, der nachgeordnet Entwicklungsvulnerabilitäten zugeordnet werden, hinterfragt. Sowohl pädagogische als auch neurowissenschaftliche Zugriffe auf die entsprechenden Entwicklungsverläufe zeigen deutlich, dass von einer hohen Plastizität der Entwicklungen auszugehen ist und somit ein lineares Modell beeinträchtigter Entwicklung ausgeschlossen werden muss (Gerspach, 2018). Zur Interdependenz der Aspekte Flucht, Trauma und Beeinträchtigung/ Behinderung und zur damit verbundenen Komplexität im pädagogischen Handeln liegen folgerichtig in erheblichem Maße Forschungsdesiderata vor. Gleichzeitig bedarf es einer Unterstützung der Professionellen, die Reflexionsprozesse über das eigene pädagogische Handeln, dessen Eingebundensein in gesellschaftliche, institutionelle und subjektive Prozesse und Spannungsfelder sowie die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen und ihre Familien anstößt. 3 Vorstellung des Projekts Kompetenzzentrum Flucht, Trauma und Behinderung im Kontext Schule (FluKoS) Im Jahr 2019 wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin das Kompetenzzentrum Flucht, Trauma und Behinderung im Kontext Schule (FluKoS) mit Mitteln aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (Aktenzeichen AM18-BE4617) eingerichtet. Das Projekt hat zum Ziel, pädagogische Fachkräfte in der Arbeit mit geflüchteten Schüler/ innen mit vermutetem oder diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf zu unterstützen. Es kombiniert Wissenstransfer in die pädagogische Praxis mit Forschung zu o. g. Desiderata und umfasst drei Säulen: Weiterbildungs- und Supervisionsangebot Im Projekt wurde ein umfassendes Weiterbildungs- und Supervisionsangebot für pädagogische Fachkräfte entwickelt und durchgeführt. Die Qualifizierung beinhaltete dreitägige Basismodule, in denen traumapädagogische Grundlagen vermittelt und die Arbeit mit Fallbeispielen im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung sowie Aspekte der Vernetzung insbesondere für den Berliner Raum fokussiert wurden. Daran anschließend konnten sich die Teilnehmer/ innen in zweitägigen Aufbauseminaren in den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten emotional-soziale Entwicklung, geistige Entwicklung sowie Hören und Kommunikation vertiefend mit spezifischen Bedarfen im Kontext von Flucht auseinandersetzen. Ergänzend erhielten die teilnehmenden pädagogischen Fachkräfte die Möglichkeit, sich einer Supervisionsgruppe anzuschließen. VHN plus 5 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus Fachinformationen Des Weiteren wurde im Rahmen des Projekts eine öffentlich zugängliche und kostenfreie Webseite (https: / / kora-berlin.de/ forschung-eva luation/ projekte/ flukos/ ) aufgesetzt, auf der für alle Interessierten neben den Informationen zum Weiterbildungsangebot auch themenspezifische Fachinformationen, Fachliteraturlisten, unterrichtsfachspezifische Überlegungen sowie Anlaufstellen zur Vernetzung zur Verfügung stehen. Begleitforschung Es wurde eine quantitative und eine qualitative Studie durchgeführt, um folgende Leitfragen zu beantworten: n Welche Belastungen erleben pädagogische Fachkräfte in ihrer Arbeit als Folge der traumatischen Erfahrungen der geflüchteten Schüler/ innen (mit Behinderung)? n Welche flucht- und behinderungsspezifischen Bedarfe ihrer Schüler/ innen nehmen pädagogische Fachkräfte wahr? n Wie verändert sich das professionelle Selbsterleben in der Arbeit mit Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen durch eine traumapädagogische und fluchtspezifische Unterstützung? n Welche Good-Practice-Beispiele können in der pädagogischen Praxis entwickelt werden? n Welche institutionellen Rahmungen benötigen pädagogische Fachkräfte, um im Kontext von Trauma und Behinderung pädagogischprofessionelle Arbeit leisten zu können (unter besonderer Beachtung des Aspekts der Kooperation)? n Welche Grenzen erleben pädagogische Fachkräfte trotz der fachlichen Unterstützung? Im Rahmen der quantitativ orientierten Studie erfolgte eine Befragung der Teilnehmer/ innen der Weiterbildungsmodule. Diese fand zu einem Prä- und einem Postmesszeitpunkt mittels eines Online-Fragebogens statt. Das Vorgehen ermöglichte die Analyse der Veränderungen von Wissensbeständen, Einstellungen und professionellem Selbsterleben und gleichzeitig das FluKoS-Professionalisierungsangebot zu evaluieren. Jeweils nach den Aufbaumodulen wurden zudem in einer qualitativen Studie themenzentrierte Einzel- und Gruppeninterviews realisiert. Individuell wahrgenommene Veränderungen und Einblicke in die spezifische, traumabezogene Dynamik der pädagogischen Arbeit mit der Zielgruppe konnten dadurch ermittelt werden. Im Folgenden konzentriert sich der Beitrag auf die Darstellung der Methodik und die Zusammenfassung der Ergebnisse der qualitativen Studie. 4 Methodik der qualitativen Studie Um im skizzierten Themenfeld zu empirisch fundierten und zugleich praxisrelevanten Aussagen zu gelangen, ist das grundlegende pädagogische Paradigma der Praxeologie von hoher Bedeutung. Der nur noch wenig rezipierte Terminus der „Praxeologie“ ist ursprünglich in der psychoanalytischen Pädagogik verwurzelt (Fürstenau, 1992), wurde aber in jüngerer Zeit für die Fachdidaktik, zunächst aus religionspädagogischer Perspektive, rezipiert (Grümme, 2021). Diesem Paradigma zufolge sind gelebte pädagogische Praxis, Theoriebildung und Empirie stets in komplexer Weise aufeinander bezogen. Es kann deshalb als Grundprinzip rekonstruktiv-qualitativer Forschung interpretiert werden (Garz, 2007, S. 224). Neues Wissen über spezifische pädagogische Herausforderungen und Lösungsansätze muss also über ein forschendes Einlassen auf die Praxis generiert und schließlich an bestehende Wissensbestände VHN plus 6 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus angebunden werden. Professionalisierungsbedarfe und -grenzen lassen sich am besten aus der gemeinsamen Reflexion mit Praktiker/ innen über ihre alltägliche Arbeit rekonstruieren. Im vorliegenden Projekt stehen zunächst die subjektiven Perspektiven von pädagogischen Fachkräften auf die schulische Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt; Unterrichtsbeobachtungen und die Perspektiven der Schüler/ innen werden in einem Folgeprojekt einbezogen und anschließend mit den hier vorgelegten Ergebnissen trianguliert. 4.1 Stichprobe und Datenerhebung Im Zeitraum von Juni 2020 bis Juni 2021 wurden 18 leitfadengestützte problemzentrierte Einzel- und Gruppeninterviews mit insgesamt 44 Personen jeweils nach der Teilnahme an den Aufbaumodulen geführt. Die oben genannten Leitfragen strukturierten dabei maßgeblich die Gespräche. Alle Interviews wurden aufgrund der Covid-19-Pandemiesituation digital in Form einer Videokonferenz durchgeführt. Zu den Teilnehmenden der Interviews gehörten: n 23 Sonderpädagog/ innen, von denen 15 an Regelschulen (Primar- und Sekundarbereich) und acht in Förderzentren mit dem Schwerpunkt Hören und Kommunikation (7) bzw. Geistige Entwicklung (1) tätig sind, n acht pädagogische Fachkräfte, die im Bereich der sonderpädagogischen Diagnostik und Beratung an Unterstützungszentren arbeiten und mit mehreren Schulen kooperieren, n zehn Lehrkräfte aus unterschiedlichen Schulformen (davon sieben mit schulpraktischer Erfahrung in sogenannten Willkommensklassen) und n drei Sozialpädagog/ innen bzw. Schulsozialarbeiter/ innen. Da an einem Interview gehörlose Fachkräfte beteiligt waren, wurden hier Dolmetschende für Deutsch - Deutsche Gebärdensprache eingesetzt. Für die Auswertung wurden die Interviews anschließend in deutsche Schriftsprache transkribiert bzw. übersetzt. 4.2 Datenauswertung Für die Analyse der anonymisierten Transkripte dieser Befragungen wurden zunächst unter kollegialer Validierung Kernthemen identifiziert. Mittels einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2022) erfolgte sowohl induktiv als auch deduktiv die Entwicklung eines differenzierten Kategoriensystems. Dieses orientierte sich einerseits an den Bereichen Struktur, Kultur und Praxis (angelehnt an Booth & Ainscow, 2017) und andererseits an den am Bildungsprozess beteiligten Akteur/ innen. Die pädagogische Situation sowie das Fremd- und Selbsterleben von Fachkräften, Schüler/ innen und Eltern wurden zusätzlich zu den Hauptkategorien noch einer differenzierten Analyse unterzogen, wobei all dies stets die subjektiven Perspektiven der pädagogischen Fachkräfte abbildet, da die Eltern und Schüler/ innen in dieser Begleitforschung selbst nicht befragt wurden. Die Ausprägungen der einzelnen Kategorien wurden mit entsprechenden Codesets, die sich aus der Sichtung des Materials herleiten ließen (u. a. aktuelle Formen, Veränderungen, Herausforderungen, Good-Practice usw.), strukturiert. Die vollständige Codierung aller Interviewtranskripte sowie die daran anschließende Systematisierung des Datenmaterials erfolgte mit der Software MAXQDA. Dabei wurden die codierten Textstellen in kurze Summaries transferiert, um diese in einem nächsten Schritt thematisch zusammenzuschließen. Die kategorienbasierte Strukturierung stellte somit den Ausgangspunkt für die Analyse zentraler Thesen und erste Interpretationen dar. VHN plus 7 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus 5 Ergebnisse der qualitativen Studie Die von den interviewten pädagogischen Fachkräften thematisierten Erfahrungs- und Erlebensbereiche im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung beziehen sich sowohl auf Aspekte der strukturellen Rahmung als auch auf das praktische Handeln. Darüber hinaus haben sich die (unterschiedlichen) Haltungen der Akteur/ innen sowie das konkrete Beziehungserleben als besonders bedeutsam erwiesen. Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse entsprechend dieser drei Dimensionen zusammenfassend dargestellt. 5.1 Strukturelle Rahmung Viele der Themen, über die die Interviewten im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung sprechen, betreffen strukturelle Gegebenheiten. Die Fachkräfte thematisieren sowohl äußere Rahmenbedingungen (z. B. curriculare Vorgaben und Klassengrößen, Ressourcen, die das Schulsystem für Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen zur Verfügung stellt, Anforderungen des Arbeitsmarkts an Bildungsabschlüsse) als auch innerschulische Strukturen (z. B. Bildungsziele, die eine Schule oder eine Lehrkraft für geflüchtete Schüler/ innen festlegt, Formen der Klassenbildung und personelle, sächliche und zeitliche Ressourcen innerhalb der Institution). 5.1.1 Bildungsziele Viele der Interviewten nehmen eine erhöhte Bedürftigkeit bzw. Vulnerabilität von geflüchteten Schüler/ innen wahr, die aus ihrer Sicht Modifikationen der curricularen Vorgaben notwendig machen. Dazu gehören im Bereich Sprache der Erwerb von Deutsch und bei Bedarf von Deutscher Gebärdensprache im Kontext mehrsprachiger Biografien, wobei Beeinträchtigungen wie z. B. eine Gehörlosigkeit den Spracherwerb beeinflussen und erschweren können. Im Bereich Lebenspraxis zählt dazu der Erwerb von Fähigkeiten für die Alltagsbewältigung (u. a. auch Kulturvermittlung) und im emotional-sozialen Bereich die Vermittlung emotionaler Sicherheit und sozialer Integration in die Schulgemeinschaft. Im fachlichen Bereich wird die Eingliederung in das deutsche Schulsystem und in den Arbeitsmarkt durch Vermittlung der durch die Curricula vorgegebenen Inhalte genannt. Fachkräfte berichten dabei von diversen Spannungsfeldern, die sie als belastend und unbefriedigend erleben. Die mit eigener Expertise begründeten Bildungsziele stünden im Widerspruch zu den als unflexibel erlebten curricularen Vorgaben und den Ansprüchen des Arbeitsmarktes. Einige Interviewte geben an, dass der Fokus zu stark auf dem Erreichen fachlicher und sprachlicher Ziele liege, um eine schnelle Anpassung in ein unveränderbares Regelsystem zu evozieren, und deshalb notwendige lebenspraktische und emotional-soziale Entwicklungsziele in den Hintergrund rückten. Außerdem wird ein höherer Zeitbedarf bei der Bewältigung curricularer Anforderungen für Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen gesehen, der zur vorgegebenen Verweildauer im deutschen Schulsystem im Widerspruch stehe. Als Gründe werden u. a. genannt, dass zu geringe Sprachkompetenzen in Deutsch und/ oder Deutscher Gebärdensprache und limitierte Bildungserfahrungen (z. B. aufgrund von Flucht, Krieg und Behinderung) eine altersgerechte Beschulung erschwerten. Insbesondere im Regelschulsystem ließen sich die Individualisierung der Bildungsziele und der Einsatz differenzierender Methoden nicht realisieren, um den besonderen Bedarfen geflüchteter Schüler/ innen gerecht zu werden. Die Konsequenz sei, dass viele geflüchtete Schüler/ innen mit Beeinträchtigungen in Deutschland die Schule ohne Schulabschluss verlassen müssten. Die Anforderungen des Arbeitsmarktes werden VHN plus 8 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus von den Interviewten als unflexibel erlebt, wobei die Sorge besteht, dass Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen in Deutschland lebenslang in prekären Lebensverhältnissen bleiben, da sie unter den zeitlichen und inhaltlichen Vorgaben im Schulsystem die notwendigen Abschlüsse nicht erreichen können. „… nächstes Thema, Ausbildung (lacht). Also die Kammern haben sich bis heute nicht breitschlagen lassen, Prüfungen für Zweitspracherwerber zu etablieren. Also die Prüfung für Menschen, die jetzt seit, was weiß ich, vier Jahren bei uns wohnen, ist genauso hart wie für Deutsche. Ich finde das ein Unding, ein Unding. Also/ das ist wieder dieses Ding, wir produzieren für den Billigmarkt. Oder für den Mindestlohnsektor, weil die haben eine super Ausbildung, scheitern aber an dieser Deutsch-Spracheignungsprüfung, sind aber fantastische Facharbeiter“. (Sozialpädagog/ in einer berufsbildenden Schule | Interview 8, Abs. 109) 5.1.2 Ressourcenzuweisung Die Ressourcen, die einer Lehrkraft oder pädagogischen Fachkraft bzw. den Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen zur Verfügung stehen, speisen sich a ) aus den äußeren, regulären Strukturen des deutschen Bildungssystems, b) aus den Ressourcen, die im deutschen Bildungssystem speziell für die Unterstützung von geflüchteten Schüler/ innen zeitlich begrenzt zur Verfügung gestellt werden (z. B. Ersatz von Noten, Nachteilsausgleich, Verlängerung von Arbeitszeiten bei Prüfungsleistungen), und c) aus zusätzlichen Ressourcen von kooperierenden außerschulischen Partnern (z. B. Ferienschulen, ergänzende Lernförderung). Aus Sicht vieler Interviewter reichen diese Ressourcen - zeitlich, sächlich, personell - für die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen nicht aus. Es bestehe mehr Zeitbedarf für die Sprachbildung und das Nachholen von Bildungsinhalten zum Erreichen von für den Arbeitsmarkt notwendigen Abschlüssen. Ebenso würden mehr personelle Ressourcen für die emotional-soziale Unterstützung und Beziehungsarbeit mit Schüler/ innen mit Fluchterfahrung und die intensivere Elternarbeit benötigt. Als Good-Practice wird andererseits u. a. Folgendes erlebt: n die Zusammenarbeit von (multidisziplinären) Teams in sogenannten Willkommensklassen, n die Kooperationen mit außerschulischen Partnern, die zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellen können, und n der Ganztagsschulbetrieb, der mehr Zeit für Bildung und sozial-emotionale Unterstützung ermöglicht. Interviewte äußern dabei folgende Wünsche für sich bzw. ihre Einrichtung: n Mehr personelle und zeitliche Ressourcen für z. B. Förderplanung, Teamabsprachen, Beziehungsaufbau mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen, n Bildung kleinerer Lerngruppen, n Aufbau von Kompetenzen im Kollegium für Unterrichtsdifferenzierung und individuelle Förderung und n sonderpädagogische Kompetenzen und Mehrsprachigkeit im Kollegium. 5.1.3 Klassenbildung Für viele Interviewte ist die Klassenbildung in der Arbeit mit Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen ein besonders wichtiges Thema. In der schulischen Realität werden dazu unterschiedliche Lösungen favorisiert und durchgeführt, wobei die Befragten jeweils sowohl Chancen als auch Herausforderungen berichten und die Lösungen oft lediglich als Kompromisse erleben: VHN plus 9 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus a) Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen werden in einigen Schulen in vollständig separierten Klassen beschult. Dafür werden unterschiedliche Bezeichnungen wie „Willkommensklassen“, „Basisklassen“, „internationale Klassen“, „Sprachlernklassen“ verwendet. Mit der Bildung separierter Klassen sind u. a. die Hoffnungen verbunden, dass sie einen geschützten Raum für die gesamte Entwicklung böten und die kleinen Gruppen individuelle Förderung und das Nachholen von Lerninhalten ermöglichten, um den Anschluss an reguläre Klassen anzubahnen. Mit dieser Form der Klassenbildung werden jedoch auch negative Erfahrungen und Herausforderungen beschrieben: Die Fokussierung auf den Lerninhalt „Deutsch“, die geringe soziale Integration in die Schulgemeinschaft und häufig erlebte Ausgrenzungsprozesse gegenüber geflüchteten Schüler/ innen sind mehrfach genannte Nachteile dieses Settings. „[…] ich benutze nicht den Begriff Willkommensklassen, das ist ein Begriff, den ich überhaupt nicht mag, […], weil ich finde, dieser Begriff ist inhaltsleer und ist ein Deckenmäntelchen, der nicht das wiedergibt, was eben an vielen Schulen zu/ gerade auch zu dem Zeitpunkt Sache war, wenn ihnen Klassen aufgedrückt wurden und die Klassen eben nicht willkommen waren, weder die Schüler noch die Lehrkräfte in den Klassen, finde/ fand ich diesen Begriff schon sehr ironisch. Und es war oftmals/ für die Eltern war Willkommensklasse, was heißt das? “. (Lehrer/ in einer weiterführenden Schule | Interview 1, Abs. 26). Interviewte berichten außerdem, dass Übergänge zu regulären Klassen in manchen Fällen aufgrund mangelnder Zusammenarbeit der Lehrkräfte erschwert seien. „[…] und dazu kommt, dass diese Schüler, dass diese Klassen offiziell nicht Teil dieser Schule sind. Sie sind halt an Schulen angedockt, wo räumliche Kapazitäten sind, was immer wieder dazu führt, dass wenn die Schüler für den Regelbereich fit genug sind, die Schulen aussortieren können. Und Schüler, die ihnen nicht genehm sind, die problematisch sind, werden dann gerne aussortiert. Für die hat man dann keinen Platz.“. (Lehrer/ in einer weiterführenden Schule | Interview 1, Abs. 28). b) Einige Schulen beschulen Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen in gemeinsamen „regulären“ Klassen. Die hieran geknüpften Erwartungen sind, dass damit eine langfristige Zuordnung zu einer Klasse bzw. Schule verbunden ist, die einen verlässlichen Beziehungsaufbau ermöglicht und die Schulgemeinschaft eine aufgeschlossene und interessierte Haltung zu geflüchteten Schüler/ innen entwickelt. Die Fachkräfte erleben eine gelingende Praxis, wenn in diesen Fällen eine Doppelbesetzung ermöglicht wird, sodass Gruppen und einzelne Kinder auch getrennt unterstützt werden können, Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen und Förderbedarf zusätzlich individuelle Förderung erhalten und Dolmetschende eingesetzt werden. Als negative Erfahrungen und Herausforderungen wird von den Interviewten genannt, dass die Leistungsanforderungen an geflüchtete Kinder und Jugendliche zu hoch seien und ein geschützter Raum fehle, um zunächst kulturelle Inhalte zu vermitteln und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität zu ermöglichen. „[…] was die Kinder wirklich brauchen, diese verlässliche Beziehung, die haltgebenden Rituale, ne, und Versprechen einhalten und Termine klar setzen und einhalten (.), das funktioniert, zumindest in der Schule, wo ich bin und was ich auch von anderen höre, überhaupt nicht. Es sind viel zu viele Personen da, ständig wechselnde Personen, bei uns ist gerade die Willkommensklasse aufgelöst worden, weil eben eine Lehrkraft fehlte, dann sind sie überall verteilt, also auch das Konzept, dass sie von Anfang an sowohl in VHN plus 10 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus der Willkommensklasse als in den Regelklassen sind, finde ich eine Wahnsinnsüberforderung für die Kinder“. (Pädagogische Fachkraft für Diagnostik und Beratung | Interview 12, Abs. 6). c) Darüber hinaus berichten die Interviewten von teilseparierten Klassen für Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen, wobei einige Stundenanteile im gemeinsamen Unterricht verbracht (z. B. Sport) oder Projekte gemeinsam mit Schüler/ innen aus den „regulären“ Klassen durchgeführt werden. Das wird vor allem von Förderschulen berichtet. Als Voraussetzung für das Gelingen und die Nachhaltigkeit verschiedener Modelle wird genannt, dass geflüchtete Schüler/ innen auch bei einem Umzug wählen können, an einer Schule zu verbleiben. 5.2 Praktisches Handeln Im Bereich des eigenen praktischen Handelns in der Arbeit mit geflüchteten Schüler/ innen thematisierten die Interviewten insbesondere Aspekte von (außer-) schulischen Kooperationen und die Zusammenarbeit mit den Eltern geflüchteter Schüler/ innen. Weitere Themenfelder der erlebten Schulpraxis im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung, die die Interviewten aufgriffen, betreffen Fragen der sonderpädagogischen Diagnostik, der Gestaltung des Unterrichts sowie der Integration in die Peergroup. 5.2.1 Kooperationen In der Arbeit mit geflüchteten Schüler/ innen werden Kooperationen mit Partner/ innen verschiedener Professionen innerhalb und außerhalb der Schule von vielen Interviewten als unterstützend erlebt. Als Ziele des kooperativen Miteinanders (u. a. zwischen Lehrkräften, Sonderpädagog/ innen, Sozialpädagog/ innen) innerhalb der Schule werden insbesondere die Erarbeitung von Förderanträgen und -plänen sowie die gemeinsame Unterrichtsvorbereitung benannt. Ein bedeutsamer Aspekt liegt für die Befragten in der gegenseitigen Sensibilisierung und dem Wissenstransfer, beispielsweise im Umgang mit Traumatisierungen, Sprachbildung und der Gestaltung von Übergängen für Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen. Unterschiedliche Haltungen und Einstellungen scheinen ein neuralgischer Punkt bei Fragen von Kooperation zu sein. Diesbezüglich werden erlebte Diskriminierung durch Kolleg/ innen gegenüber geflüchteten Schüler/ innen und mangelnde Offenheit im Kollegium als große Belastungen wahrgenommen. Mehrfach wird der Wunsch nach einer verbindlichen konzeptionellen Rahmung kollegialen Austauschs benannt sowie damit verbundene Aspekte wie zeitliche und räumliche Ressourcen, Rückhalt, Anerkennung und die Bereitstellung von Supervision. „Also ich brauch eine Supervision. Das habe ich jetzt viele Jahre gehabt. Und es fehlt mir sehr, dass ich das jetzt nicht habe, weil das jetzt eben nicht stattfinden kann. Das ist wirklich sehr wichtig und ein Grundpfeiler meiner (lacht) Vitalität und Einsatzbereitschaft. Aber ich brauche natürlich auch diese/ eine gute Struktur, wie (.) [P16] schon erwähnt hat, (.) die einfach dann da ist, wenn du spezielle, individuelle Förderungen ausreizen willst, dann einfach auch Partner nehmen musst. KJPD ist eine ganz wichtige Sache. SPZ kann ja da immer schon was anstoßen, wenn die Kinder zu uns kommen. Aber dann ist es ja auch vorbei.“ (Sonderpädagog/ in an einem Förderzentrum | Interview 9, Abs. 43). Netzwerke mit Fokus auf den Übergang zwischen Schule und Beruf sind aus Sicht der Befragten oft sehr fragil. Hohe Fluktuationen und VHN plus 11 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus mangelnde zeitliche Ressourcen beim Jugendamt, bei Trägern der Schulsozialarbeit oder der Schulpsychologie sowie fehlende Netzwerke im Übergang insbesondere von Schule in den Beruf sind aus Sicht der Interviewten ebenfalls Belastungsfaktoren für gelingende Zusammenarbeit. Gute außerschulische Kooperationen überzeugen durch Kontinuität, die schnelle Vermittlung von Unterstützung und den regelmäßigen Austausch. Insgesamt lässt sich in einer Vielzahl der Interviews der Wunsch nach weiterer Vernetzung erkennen. „Wir als Lehrer/ innen sind da auch viel auf uns selbst gestellt. Wo wir die dann hinschicken könnten, wir bräuchten dann einfach einen Überblick des Netzwerks, wo es in Deutschland, wo es Traumatherapie gibt, wo sie auch schon Erfahrung mit Dolmetschenden haben usw., wo man dann schnell drauf zugreifen kann. Also ich denke, das wäre unbedingt nötig.“ (Sonderpädagog/ in an einem Förderzentrum | Interview 14, Abs. 42). 5.2.2 Zusammenarbeit mit Eltern von geflüchteten Schüler/ innen Einige Fachkräfte thematisieren die Erwartungen der Eltern an sie und erleben diese als Abgabe der Verantwortung für die Kinder an die Schule. „Ja, und die Eltern denken einfach, die Schule hat die Gesamtverantwortung. Spracherwerb, Schriftspracherwerb, Lernen usw., das Kind wird abgegeben und dann los, macht mal (lacht). Löst das mal alles, tschüss und gut.“ (Sonderpädagog/ in an einem Förderzentrum | Interview 14, Abs. 14). In den Interviews werden als Gründe u. a. angegeben, dass einige Eltern „traumatisierter als die Kinder“ (Pädagogische Fachkraft für Beratung und Diagnostik | Interview 13, Abs. 85) seien und/ oder einige nur über wenig Ressourcen verfügten, um ihre Kinder in der Schule zu unterstützen. Viele pädagogische Fachkräfte geben außerdem an, dass die Elternarbeit im Kontext von Fluchterfahrungen und potenziellen Traumatisierungen mit mehr Aufwand verbunden sei, sie aber dafür nicht die nötigen (zeitlichen) Ressourcen hätten. „Und da sagt mir eben eine Klassenleiterin, sie kommt eigentlich schlecht hinterher. Also, wenn sie Zeit hat und so, dann macht sie mal ein Elterngespräch mit dem Vater, und die Eltern/ also die erzählen auch nicht so viel. Und sie will ja da auch nicht irgendwie alte Wunden aufreißen und so, aber ihr Gefühl ist, die sind doch sehr alleine, die Familien, und die bräuchten irgendeine Art Hilfe oder über die Schulsozialarbeit, die aber bei uns nur eine Stelle ist sozusagen.“ (Pädagogische Fachkraft für Beratung und Diagnostik | Interview 3, Abs. 65 - 66). Als Good-Practice wird geschildert, wenn Fachkräfte über (inter-)kulturelles Wissen und Sensibilität verfügen, den Eltern gegenüber empathisch sind und proaktiv auf diese zugehen. Mehrere Befragte haben gute Erfahrungen damit gemacht, Eltern in Eltern-Cafés oder Lesenachmittage einzubinden sowie mehrsprachige Kolleg/ innen zur Unterstützung z. B. bei Elterngesprächen hinzuzuziehen. Ein spezifisches Thema in den Interviews zur Elternarbeit ist die Einbeziehung der Eltern in den diagnostischen Prozess. Einige Fachkräfte betrachten den Einbezug der Eltern als hilfreich, beschreiben jedoch, dass dies nicht oder nur eingeschränkt gelingt. Insbesondere die Kommunikation sonderpädagogischer Diagnosen empfinden die Interviewten als herausfordernd, z. B. durch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache und auch - z. T. kulturell bedingt - aufgrund unterschiedlicher Erwartungen. Es wird z. B. berichtet, dass einige Eltern oder deren Umfeld der Diagnose einer Beeinträchtigung ablehnend gegenüberstehen. Eine interviewte Person erläutert in diesem Zusammenhang: VHN plus 12 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus „… das hat mir auch eine Mutter aus Syrien mal so zurückgemeldet. Die hat gesagt, (..) das wäre ungeheuerlich, dass ich ihr jetzt sagen würde, ihr Kind hätte eine geistige Beeinträchtigung, weil das würde man in ihrem Land so nicht zur Sprache bringen“. (Pädagogische Fachkraft für Diagnostik und Beratung | Interview 12, Abs. 40). Diese Kategorisierung der Schüler/ innen als sonderpädagogisch förderbedürftig scheint insbesondere in den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Elternarbeit zu belasten. Einen Kontrast dazu bildet der Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation, also eine Sinnesbeeinträchtigung, in dem eher von Akzeptanz der Diagnose berichtet wurde. 5.2.3 Sonderpädagogische Diagnostik Überwiegend lässt sich für den Bereich der Diagnostik, der in 14 von 18 Interviews thematisiert wurde, ein Fokus auf Feststellungsverfahren sonderpädagogischer Förderbedarfe identifizieren. Interviewte beschreiben einen massiven Anstieg von Überprüfungen auf sonderpädagogische Förderbedarfe seit den Fluchtbewegungen von 2015, vorrangig in den Bereichen Lernen, emotional-soziale Entwicklung und geistige Entwicklung. Die Vergabe dieser Förderbedarfe dient häufig nicht zuletzt der Ressourcengenerierung und ist unter den Interviewten umstritten, da er zu Stigmatisierungen, eingeschränkterem Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Belastungen in der Zusammenarbeit mit den Eltern führen kann. Ergänzend dazu wird berichtet, dass es einen großen Beratungsbedarf und Unsicherheiten bei den pädagogischen Fachkräften gibt. Gleichzeitig wird erlebt, dass eine Diagnose einer Beeinträchtigung oft nicht eindeutig möglich ist, da sie durch die Sprachbedingungen und die Abgrenzung von Ursachen (z. B. Folgen von traumarelevanten Belastungen) erschwert ist, was sich auch in einer Diskrepanz zwischen der kognitiven Leistung, dem Lernverhalten und der lebensweltlichen Handlungsfähigkeit von geflüchteten Schüler/ innen widerspiegele. „Wir hatten jetzt tatsächlich neulich so eine Geschichte, wo es einen Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung gab und dieses Kind (…) ist eine sehr enge Beziehung mit der Lehrerin eingegangen und das hat dieses Mädchen so stabilisiert, dass die tatsächlich hinterher ein extrem abweichendes IQ-Ergebnis geliefert hat.“ (Pädagogische Fachkraft für Diagnostik und Beratung | Interview 12, Abs. 73). Im Kontext unklarer Genese von Entwicklungsbeeinträchtigungen wird von einigen Interviewten die Gefahr potenzieller Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsmechanismen erkannt, durch welche bestehende prekäre Lebensverhältnisse der Schüler/ innen verfestigt werden können. Die größte Herausforderung wird dabei am Übergang zwischen Schule und Beruf berichtet. Aufgrund der Sorge um soziale Stigmatisierungen und eine Einschränkung der Berufschancen verzichten einige Fachkräfte explizit auf die Vergabe eines sonderpädagogischen Förderbedarfs. 5.2.4 Unterrichtserfahrungen In den Interviews werden nur vereinzelt Erfahrungen aus dem Unterrichtsalltag mit geflüchteten Schüler/ innen berichtet. Aus Sicht der Befragten kennzeichnen verlässliche, haltgebende Unterrichtsstrukturen eine gute Unterrichtspraxis, die eine entlastende Wirkung für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen entfalten. Bewährt hat sich auch ein hohes Maß an Innovationskraft hinsichtlich didaktisch-methodischer Aspekte und der Wechsel von „klassischem Unterricht“ mit anderen Elementen (u. a. Selbstregulationsübungen, Yoga, Konzepte zur emotional-sozialen Kom- VHN plus 13 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus petenzsteigerung). Darüber hinaus wird auch Bezug zum Deutsch-als-Zweitsprache-Erwerb geflüchteter Schüler/ innen genommen. Der Einsatz von Lehrenden und Dolmetscher/ innen, die über die Erstsprachen der Kinder verfügen, führe zu positiven Spracherwerbsprozessen. „Genau, das sagte ich ja vorhin schon, das wird eben/ haben wir viel über die beiden Dolmetscher Arabisch und Persisch gemacht […] Die haben sich extra, die haben sich die Schüler, die wirklich sehr schwach waren, eben rausgenommen und eins-zu-eins unterrichtet.“ (Schulsozialpädagog/ in einer weiterführenden Schule | Interview 8, Abs. 62). Beeinträchtigungen von geflüchteten Schüler/ innen machen darüber hinaus besonderes sprachdidaktisches Handeln notwendig, wenn z. B. aufgrund einer Gehörlosigkeit nicht nur Deutsch, sondern auch Deutsche Gebärdensprache vermittelt wird. Einige Fachkräfte verweisen zudem auf Herausforderungen von Alphabetisierungsprozessen insbesondere bei Schüler/ innen, die aufgrund der Beeinträchtigung einen erschwerten Zugang dazu haben. In diesen Kontexten wird von folgenden Spannungsfeldern berichtet: Die Verweildauer in sogenannten Willkommensklassen (mit Notenschutz) ist häufig kurz, in Regelklassen hingegen herrsche ein Benotungszwang. Dahingehend besteht der Wunsch, den Unterricht mit Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen zumindest in Teilen von den klassisch-schulischen Kriterien und Begrenzungen abzulösen und ihnen bei Bedarf auch mehr Zeit im Schulsystem zu geben. 5.2.5 Integration in die Peergroup Die Integration in die Peergroup wird als relevantes Thema erachtet, wobei die Befragten von unterschiedlichen Wahrnehmungen berichten. Viele erleben insbesondere in Grundschulen und sonderpädagogischen Förderzentren eine positive soziale Integration. Dabei erscheinen initiierte Formen des Miteinanders wie z. B. Buddy-Systeme, Streitschlichtungskonzepte sowie gemeinsame Lern- und Freizeitsettings von Schüler/ innen mit und ohne Fluchterfahrungen als besonders förderlich. Es wird aber auch von Konfliktsituationen berichtet, die einige Interviewte insbesondere auf Ausgrenzungsprozesse und fehlende Kommunikationsmöglichkeiten zurückführen. 5.3 Haltung und Beziehungserleben der Fachkräfte In den Interviews zeigten sich direkt und indirekt unterschiedliche Haltungen der Akteur/ innen in der Arbeit mit geflüchteten Schüler/ innen und ihren Eltern. Das Erleben von Beziehungen im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung und auch das Selbsterleben zwischen Anerkennung und Belastung wurde von den Interviewten vielfach thematisiert. 5.3.1 Anerkennende Haltung, subjektlogisches Verstehen und krisenhafte Dynamiken Aus der Vielzahl der Äußerungen über die Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen lässt sich eine anerkennende Haltung der Interviewten gegenüber den Lernprozessen, aber auch gegenüber den (teils auch als traumatisch wahrgenommenen) Verletzungen der Kinder und Jugendlichen herauskristallisieren. Sowohl die Fähigkeit zur Perspektivübernahme für die Schüler/ innen als auch Formen der Selbstreflexion werden von den Fachkräften als maßgeblich für ein subjektlogisches Verstehen (d. h. für ein Anerkennen der Verhaltensweisen und Lernmöglichkeiten als Ausdruck von innerer Welt) markiert. Aber auch traumaspezifisches Wissen wird als hoch relevant für die Entwicklung bzw. die Aufrechterhaltung der eigenen Haltung und die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten benannt: VHN plus 14 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus „[…] wenn ich bestimmte Sachen nicht weiß, dann kann ich sie auch nicht beobachten und kann sie dementsprechend auch nicht differenziert behandeln […]“. (Pädagogische Fachkraft für Beratung und Diagnostik | Interview 16, Abs. 24). Viele der Interviewten beschreiben, dass sie ihre eigene Haltung in einem Spannungsfeld zur Schulstruktur und zu den bildungsorganisatorischen Rahmungen sehen. Die Teilnehmenden begreifen ihre eigene Fortbildung im Themenfeld von Trauma, Flucht und Beeinträchtigung als wesentliche Stärkung oder auch Gelegenheit zur Transformation ihrer pädagogischen Haltung. Dies bezieht sich nicht zuletzt auf bislang als überfordernd erlebte Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen, die sich im Wissen um traumaspezifische Dynamiken, aber auch wirksame Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse besser verstehen lassen. In den Kollegien erleben die Befragten viele Vorurteile und Ungeduld gegenüber geflüchteten Schüler/ innen. Stellenweise gibt es den Eindruck, dass auch Lehrkräfte in sogenannten Willkommensklassen über kein Wissen zu Flucht und Traumatisierung verfügen bzw. zu wenig Informationen oder Weiterbildung als Vorbereitung auf ihre pädagogische Tätigkeit erhalten haben. Während die wertschätzenden Äußerungen gegenüber Schüler/ innen und Eltern mit Fluchtgeschichte dominieren, zeigen sich in (vergleichsweise wenigen) Einschätzungen von Lehrkräften auch kritische Perspektiven insbesondere auf Eltern von Schüler/ innen: „Ja, und dann tauchte auf einmal die Mutter wieder auf. Und sie fielen sofort aus der Betreuung raus und alles, was wir aufgebaut hatten, brach zusammen, weil die Mutter sich dafür, ja, ich unterstelle ihr jetzt mal, nicht wirklich interessiert hat. Denn es ging ihr darum, die Tochter zu verheiraten frühzeitig. Also es war schon/ also da ist es mir dann erst mal noch mal so bewusstgeworden, dass da ein Roma-Hintergrund war, den hatte ich vorher nur vermutet, aber das ist/ und mir hat es in der Seele leidgetan, die sind dann irgendwann uns völlig auch entglitten.“ (Lehrer/ in einer weiterführenden Schule | Interview 3, Abs. 87). Die Befragten benennen darüber hinaus Unsicherheiten im Umgang mit Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen, im Speziellen, wenn vermeintliche oder manifeste Beeinträchtigungen hinzukommen. So berichtet eine Interviewte von erlebter Sprachlosigkeit in der Arbeit mit einer gehörlosen Schülerin, als diese neu an ihre Schule kam und weder über eine Lautnoch eine Gebärdensprache verfügte. In vielen Fällen ist es das Nichtwissen um die konkreten Fluchterfahrungen der Schüler/ innen, die für Lehrkräfte aus ihrer eigenen Perspektive verunsichernd sein können. Die Interviewten beschreiben, wie sie mit durchaus belastenden Verhaltensweisen und Lernblockaden konfrontiert sind, sie die Bedingungsfelder für selbige jedoch häufig nur fragmentarisch kennen würden. Eine andere Lehrkraft hat sich selbst in der Position eines „Mutterersatzes“ (Pädagogische Fachkraft eines Förderzentrums | Interview 14, Abs. 16) erlebt und berichtet von einer für sie notwendigen Therapie und Supervision, um das Wechselspiel aus Nähe und Distanz wieder professionell leben zu können. 5.3.2 Konkretes Beziehungsgeschehen: Widersprüche und Herausforderungen Die oben beschriebenen Haltungen spiegeln sich auch in Beschreibungen des Beziehungsgeschehens mit Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen, das seitens der Interviewten durch den Wunsch der engen und förderlichen Begleitung gekennzeichnet ist. Auch hier beschreiben zahlreiche Fachkräfte, dass sie in ihrem ohnehin vorhandenen professionellen Selbstverständnis, das Beziehungsaufbau und -kontinuität in den Fokus rückt, durch die Fortbildungen bestärkt wurden. VHN plus 15 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus „Das ist etwas, was einem so nah ans Herz geht und richtig knabbert und es bleibt. Also es bleibt aus meiner Erfahrung auch jahrelang.“ (Sonderpädagog/ in einer weiterführenden Schule | Interview 17, Abs. 46). Konkret benennen die Befragten eigene Haltungen und Beziehungsdynamiken, die dazu führen, dass Bloßstellungen und ein zu großer Druck im Lernen vermieden werden sollten. Das Gelingen von Beziehungsarbeit beschreiben die Interviewten sehr unterschiedlich: Einige Fachkräfte berichten von einem erheblichen Vertrauen zwischen ihnen und den Schüler/ innen, eine Lehrkraft beschreibt jedoch auch offen ihre Schwierigkeiten in der Kontaktanbahnung: „Also dieses dem nicht gerecht werden und auch nicht durchdringen. Also das ist die andere Sache, weswegen ich denen Hilfe angeboten habe. Einfach nicht durchdringen, nicht wirklich akzeptiert werden von denen. Ich glaube, die können nicht vertrauen.“ (Lehrer/ in einer Gemeinschaftsschule | Interview 18, Abs. 51). Ebenso setzen sich die Befragten sehr kritisch mit Beziehungsangeboten in ihren Kollegien auseinander, die sie teils als diskriminierend gegenüber den Schüler/ innen mit Fluchtgeschichte kategorisieren. Eine Person spricht von „unbewusster Diskriminierung“ (Pädagogische Fachkraft eines Förderzentrums | Interview 14, Abs. 22), wenn z. B. etwa Plakate nur mit deutschen Namensbeispielen versehen werden. Viele Interviewte erleben bei sich selbst eine intensive emotionale Beteiligung. Unter anderem beschreiben sie ein Berührtsein von den vergangenen und aktuellen Belastungen der Schüler/ innen sowie Sorge um die Entwicklung, wobei aktuelle Beziehungskrisen hier als Auslöser für diese Sorgen beschrieben werden. „Aber (..) aber das waren so Sachen, wo ich gedacht habe: ‚Einfach total hilflos! ‘ Ja? Wenn, wenn die Schüler wollen/ nicht wollen, ja? , ich habe nichts in der Hand, womit ich mich, mich schützen kann, womit ich andere Schüler schützen kann. Womit ich, wenn sie, wenn sie wirkli/ und die wa/ sind immer dann aufeinander dann auch noch los.“ (Lehrer/ in einer weiterführenden Schule | Interview 4, Abs. 32). 5.3.3 Selbsterleben als Fachkraft Im Unterschied zur oben beschriebenen, weitgehend einheitlichen Haltung der befragten Fachkräfte gegenüber geflüchteten Schüler/ innen zeigt sich im professionellen Selbsterleben, das zugleich die erlebte Anerkennung in der Schule spiegelt, ein sehr heterogenes Bild. Einige pädagogische Fachkräfte aus sogenannten Willkommensklassen beschreiben sich beispielsweise als fester Bestandteil eines Schulteams, in dem es einen guten Austausch gibt. „Bin total dankbar, dass ich so ein tolles Team habe, mit dem ich mich austauschen kann und wir auch praktisch auf, ja, emotionaler Ebene gucken, wie wir uns gegenseitig entlasten können.“ (Sonderpädagog/ in einer Gemeinschaftsschule | Interview 17, Abs. 32). Andere Interviewte erleben jedoch auch, dass es ein hierarchisches Gefälle zwischen den Stammlehrkräften der Schule und den Lehrkräften in Willkommensklassen, die häufig Seiteneinsteiger/ innen sind, gibt. „Ich habe es schon oft gehört, dass sich die Willkommenslehrer, die also/ keine volle Lehrbefugnis haben, so weniger wertgeschätzt fühlen.“ (Lehrer/ in einer weiterführenden Schule | Interview 3, Abs. 27). Ähnliches erleben auch Sozialpädagog/ innen, wenngleich beide Erfahrungen auch innerhalb der Gruppe der Interviewten nicht verallgemeinert werden können. Eine so erlebte Abwertung gehe häufig einher mit der Zuweisung VHN plus 16 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus einer spezifischen Zuständigkeit für die Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen, es fehle dann an gemeinsamer Verantwortungsübernahme, die zwar teilweise existiere, aber eher als „Zufallsbeziehung“ beschrieben wird. Viele der Interviewten sind sich darin einig, dass die Wertschätzung des Kollegiums innerhalb der Schule wesentlich dafür ist, um gut in der pädagogischen Praxis zurechtzukommen. Dazu zählen gemeinsamer Austausch, kollegiale Kooperationen und Zusammenhalt. 6 Diskussion 6.1 Strukturelle Antinomien unter besonderer Beachtung von Beziehungsarbeit und eigenem Anerkennungswunsch Die Ergebnisse der qualitativen Befragung beschreiben das professionelle Erleben von Fachkräften in der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in sehr unterschiedlichen schulischen Organisationsformen. Gemeinsam ist den Interviewten, dass sie sich bereits für eine trauma- und beeinträchtigungsorientierte Fortbildung angemeldet haben, also definitorisch die Bereitschaft dazu besteht, sich komplexen und teilweise „schwer verdaulichen“ Inhalten zuzuwenden. Zudem haben sich die Befragten - selbstverständlich freiwillig - zu einem Interview bereiterklärt und zeigen auch dadurch ihr hohes Interesse an einem Austausch über ihre berufliche Tätigkeit. Limitierend sollte eingewandt werden, dass ein - digital realisierter - Austausch über Erleben, interpersonale und institutionelle Spannungen, Wünsche und Bedürfnisse immer nur Annäherungen an das tatsächliche Erleben der Fachkraft bieten kann, wohingegen andere Aspekte stets tabuisiert bleiben oder aus zeitlichen Gründen schlichtweg nicht thematisiert werden. Die Diskussion und die Schlussfolgerungen setzen die Hauptkategorien der Struktur, der Praxis und der Haltung/ Beziehung (als Teil von Kultur) nunmehr in Beziehung zueinander und fragen nach Aspekten der Theorieanbindung und -erweiterung. a) Perspektiven der Fachkräfte auf die spezifischen Bedarfe der Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen Die Interviewten nehmen eine komplexe Vulnerabilität vieler Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen wahr. Schule hat nach ihrer Auffassung deshalb nicht nur die Aufgabe, den Erwerb der deutschen Sprache zu fördern, um dann die Eingliederung in das deutsche Schulsystem zu ermöglichen, sondern sollte umfassende Unterstützungs- und Bildungsangebote bereitstellen, um den Bedürfnissen hoch belasteter Schüler/ innen langfristig und nachhaltig zu entsprechen. Aus der Sicht der Befragten bedarf es hierfür zusätzlicher Ressourcen, die bislang nicht ausreichend strukturell gesichert sind. Die vergangenen und aktuellen Belastungen der geflüchteten Schüler/ innen und der Wunsch, diese so gut wie möglich auf allen Ebenen - emotional, sozial, kognitiv/ akademisch - aufzufangen, ist oft mit einer hohen eigenen emotionalen Betroffenheit der pädagogischen Fachkräfte verbunden. Die Forschungsergebnisse spezifizieren somit sowohl den strukturtheoretischen als auch den psychoanalytisch-pädagogischen Professionalisierungsdiskurs (Helsper, 2018; Kratz, 2022). Sichtbar wird, dass die neuen Herausforderungen trotz des erlebten Ressourcenmangels zu einer Weiterentwicklung des eigenen Handelns und zur Schulentwicklung beitragen. Dazu gehört ein hohes Engagement von Lehrkräften und Berater/ innen mit vielen Ideen für innovative Förderung, eine stärkere Vernetzung mit außerschulischen Partnern und die Annahme von Reflexionsangeboten. Gleichwohl entstehen aber auch Spannungen und Unsicherhei- VHN plus 17 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus ten bei den Professionellen: Die eigenen Ziele sind z. B. nicht umsetzbar, da im Kollegium keine Einigkeit darüber herrscht, unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft zur Kooperation besteht sowie eigene und schulische Ressourcen beschränkt sind. Damit bestätigen sich ähnliche Forschungserträge, u. a. aus dem angloamerikanischen Diskurs zur Verschränktheit erlebter Vulnerabilität von Schüler/ innen, Lehrkräften und der Entwicklungsfähigkeit von Schulsystemen. So ist Entwicklung zwar auch unter herausfordernden Bedingungen und in der Arbeit mit hoch belasteten Kindern und Jugendlichen möglich; dominiert aber ein Einsamkeitserleben bei den Akteur/ innen, kommt erstere häufig zum Erliegen (Jopling & Zimmermann, 2023). Ob sehr strukturierte Ideen und auf verbindliche Handlungsmuster rekurrierende Ideen der Schulentwicklung analog zum Response-to-Intervention-Modell (vgl. Linderkamp & Casale, 2023) diese v. a. im Erleben der Fachkräfte liegenden Spannungen aufzulösen vermögen, ist aus Sicht der Autor/ innen des Beitrags fragwürdig. Ausgehend von der Organisationsantinomie (Helsper, 2018) zeigt sich eine Diffusität zwischen vermutetem traumatischem Erleben und der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs. Da die Ressourcen für das Merkmal „Fluchterfahrung“ nur zeitlich begrenzt zur Verfügung stehen, wird nicht selten eine Klärung im Sinne sonderpädagogischen Bedarfs, oft mit dem Label „geistige Entwicklung“, erzwungen, wenngleich die hinreichende Passung dieser Verfahrensweisen von den Befragten deutlich angezweifelt wird. Eine diagnostische Differenzierung ist in vielen Fällen kaum möglich, da z. B. Aspekte der Traumatisierung sowie massive Brüche in Bildungsbiografien sich nicht klar abgrenzen lassen zu Diagnosen der Förderschwerpunkte Sprache, Lernen und geistige Entwicklung. Diesbezüglich lässt sich die intersektionale Perspektive in der Sonderpädagogik gut mit einer traumatheoretischen verbinden. Denn jene Feststellungsverfahren werden nicht einseitig systemisch (ressourcenbezogen) erzwungen (Blanck, 2020), sondern spiegeln auch die emotionale Verwicklung und Verunsicherung der Fachkräfte wider. b) Perspektiven der Fachkräfte auf eigene Professionalität Während das erste übergreifende Forschungsergebnis stärker auf die Bedürfnisse und Bedarfe der Schüler/ innen rekurriert und Spannungsfelder mit Bezug zu den oben ausgeführten theoretischen Bezügen „intersektionale Perspektive“, „Trauma“ und „pädagogische Professionalität“ herausarbeitet, lässt sich ein zweiter übergreifender Forschungsertrag aus einer stärker an den Fachkräften orientierten Perspektive konzeptualisieren. Festzustellen ist allerdings, dass sich insbesondere die emotionalen Herausforderungen im interpersonalen und institutionellen Kontext entfalten, es also keinesfalls darum geht, Bedarfe der pädagogischen Fachkräfte zu isolieren und von den strukturellen Rahmenbedingungen zu entkoppeln. Die Befragten erleben in ihrer alltäglichen Arbeit die Notwendigkeit einer besonderen, intensiven Beziehungsarbeit mit den Schüler/ innen mit Fluchterfahrungen. Dies verweist zwar auch zurück auf die Bedürfnisse der jungen Menschen, zugleich aber auf hohe Professionalisierungsanforderungen, denen sich viele der Interviewten nur zum Teil fachlich und menschlich gewachsen fühlen. Folgerichtig fordern nahezu alle Fachkräfte die Möglichkeit, fallbezogen, aber institutionell verankert mit Kolleg/ innen zusammenzuarbeiten, insbesondere auch, um den Beziehungsaufbau mit den geflüchteten Schüler/ innen über ein 1 : 1-Verhältnis hinaus abzusichern. Dieser Aspekt verweist auch auf die Traumakategorie: Denn eine Reihe der Interviewten beschreibt, dass sie sich mit den emotionalen Dynamiken mit geflüchteten Schüler/ innen allein fühlten VHN plus 18 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus und deshalb in besonderer Weise auch selbst auf Unterstützung angewiesen seien. Die für die Befragten hohe Bedeutung einer wertschätzenden Schulleitung, die diese Wertschätzung gleichsam auch strukturell über entsprechende Institutionalisierungen (z. B. durch regelmäßigen Austausch, kooperativ gestaltete Angebote für geflüchtete Schüler/ innen) lebt, verweist sowohl auf eine spezifische Professionalisierungsvorstellung der hier befragten Fachkräfte als auch auf potenziell traumatische Dynamiken, die sich in der pädagogischen Beziehung Raum verschaffen und im schulischen Milieu ausreichend gut gehalten werden müssen. Dass Fachkräfte im Spannungsfeld teilweise als unzureichend erlebter institutioneller Bedingungen einerseits und potenziell traumatischer Beziehungsdynamiken andererseits sich selbst als sehr vulnerabel erleben, zeigen insbesondere die Aussagen zur Elternarbeit: Hier finden sich neben anerkennenden Beschreibungen auch einige Stereotypisierungen wieder, wobei in einer intersektionalen Perspektive besonders Eltern als problematisch gelabelt werden, deren Fluchtgrund implizit angezweifelt wird. Eine besonders starke Verbindung zwischen den Themenfeldern lässt sich aus dem Selbsterleben einiger Fachkräfte ohne lehramtstypische Ausbildung (sogenannte Seiteneinsteiger/ innen) ableiten: Bei Weitem nicht alle, aber doch zahlreiche dieser Fachkräfte fühlen sich von Kolleg/ innen und Schulleitung nicht ausreichend wertgeschätzt. Dominiert dieses professionelle Selbsterleben, können gerade deshalb die Beziehungen zu den Schüler/ innen als besonders eng erlebt werden, was aber auch dazu führt, dass kollegiales Miteinander und die Integration der geflüchteten Schüler/ innen in der Schule dann häufig nicht mehr gut gelingen und nicht gemeinsam getragen werden. Die Forschungsergebnisse zum Wechselspiel erlebter eigener Anerkennung, Beziehungsdynamik mit den Schüler/ innen und ge- oder misslingenden Kooperationen erweitern den Schulentwicklungsdiskurs um eine vulnerabilitätsorientierte Perspektive mit Blick auf die Fachkräfte. Sie schließen an sozialpädagogische, bislang primär auf das Handlungsfeld „Heim“ bezogene Perspektiven der Psychoanalytischen Pädagogik an (Dörr, 2019). 6.2 Handlungsempfehlungen Die hier vorgestellten Ergebnisse legen nahe, dass es eines verbindlichen, milieuorientierten Unterstützungssystems bedarf, das nicht zeitlich befristet ist und auf komplexe individuelle Entwicklungsverläufe Bezug nimmt. Es bedeutet auch, dass das „Regelsystem“ und individuelle Unterstützungsmaßnahmen nicht parallel funktionieren, sondern wesentlich stärker miteinander verzahnt werden müssen. In einigen Förderschulen z. B. des Förderschwerpunkts Hören und Kommunikation scheint das bereits gut etabliert zu sein, besonderer Handlungsbedarf besteht hier aber in Allgemeinen Schulen und im berufsbildenden Bereich. Darüber hinaus bedarf es eines schulischen Miteinanders der kollegialen Wertschätzung und gemeinsam getragener Veränderungen. Ohne Wertschätzung der Fachkräfte können sich auch die pädagogischen Angebote nicht im Sinne der Bedürfnisse der Schüler/ innen entwickeln. Systematische Angebote der Reflexion und der Vernetzung entlasten Lehrkräfte und generieren neue Ressourcen, die auch zur Weiterentwicklung der eigenen Praktiken und der Schule beitragen. Anhand der Aussagen der Befragten über sich selbst und ihre Kolleg/ innen lässt sich die Forderung nach einer genuin pädagogischen Professionalisierung weitgehend unabhängig von lehramtsspezifischer Ausbildung ableiten. Diagnostisch legitimierten Kategorisierungen ist im gegebenen Kontext mindestens mit Vorsicht zu begegnen. Auch „Trauma“ ist als vermeintlich neue sonderpädagogische Kategorie VHN plus 19 DAVID ZIMMERMANN, CLAUDIA BECKER, SOPHIE FRIEDRICH Pädagogik im Kontext von Flucht, Trauma und Behinderung FACH B E ITR AG VHN plus niemals individuumszentriert zu verstehen, sondern dient als Reflexionsfolie für die hohen Belastungen der Schüler/ innen und die darauf bezogenen Lern- und emotionalen Schwierigkeiten. Schließlich benötigen auch die Schulen selbst eine intensive Begleitung. Die aus den Aussagen der Befragten ableitbare Idee eines Milieus ist zwar spezifisch als Leitungsaufgabe interpretierbar, benötigt aber eine gemeinsame Verantwortungsübernahme aller Beteiligten, zu denen auch die Schulverwaltung gehört. Literatur Akbaba, Y. & Buchner, T. (2019). Dis_ability und Migrationshintergrund: Differenzordnungen der Schule und ihre Analogien. Sonderpädagogische Förderung heute, 64 (3), 240 -252. Becker, D. (2017). Trauma und Traumadiskurse im sozialen Prozess. In M. Jäckle, B. Wuttig & C. 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Anschrift des Autors und der Autorinnen Prof. Dr. David Zimmermann Sophie Friedrich Abteilung Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen Prof. Dr. Claudia Becker Abteilung Gebärdensprach- und Audiopädagogik Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Rehabilitationswissenschaften Unter den Linden 6 D-10099 Berlin E-Mail: david.zimmermann@hu-berlin.de