eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 94/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2025.art07d
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2025
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Rezension: Dederich, Markus, Seitzer, Philipp (2024): Erfahrung, Wissen, Handeln. Zur Grundlegung der Heil- und Sonderpädagogik

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2025
Christian Mürner
Der Titel Erfahrung, Wissen, Handeln klingt nahezu poetisch. Zusammen mit dem programmatischen Untertitel Zur Grundlegung der Heil- und Sonderpädagogik erscheint das prägnante „Begriffsdreieck“ (S. 11) wie das Projekt für eine glaubwürdige „große Erzählung“. Dies verneinen die Autoren. Dederich und Seitzer geht es um ein „theoretisches Werkzeug“, das die „Vermittlung und Einordnung der spezifischen Geltungsrahmen unterschiedlicher Forschungsansätze“ ermögliche, also nicht um den Vorschlag eines „Königswegs“ (S. 12) oder einer „Supertheorie“ (S. 85), wie sie in einzelnen Gesamtübersichten und Debatten seit den 1970er, 80er und 90er Jahren vorliegen, die aber heute aufgrund der Segmentierung des Fachbereichs scheitern würden (vgl. S. 42).
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VHN 1 | 2025 71 REZE NSION E N Dederich, Markus; Seitzer, Philipp (2024): Erfahrung, Wissen, Handeln Zur Grundlegung der Heil- und Sonderpädagogik Weinheim: BELTZJuventa. 321 S., € 68,- Der Titel Erfahrung, Wissen, Handeln klingt nahezu poetisch. Zusammen mit dem programmatischen Untertitel Zur Grundlegung der Heil- und Sonderpädagogik erscheint das prägnante „Begriffsdreieck“ (S. 11) wie das Projekt für eine glaubwürdige „große Erzählung“. Dies verneinen die Autoren. Dederich und Seitzer geht es um ein „theoretisches Werkzeug“, das die „Vermittlung und Einordnung der spezifischen Geltungsrahmen unterschiedlicher Forschungsansätze“ ermögliche, also nicht um den Vorschlag eines „Königswegs“ (S. 12) oder einer „Supertheorie“ (S. 85), wie sie in einzelnen Gesamtübersichten und Debatten seit den 1970er, 80er und 90er Jahren vorliegen, die aber heute aufgrund der Segmentierung des Fachbereichs scheitern würden (vgl. S. 42). Das Buch gliedert sich in vier Kapitel. In Teil I beziehen sich die Autoren auf den „Problemknoten“ der Begriffsbildung und Legitimation der „Heil- und Sonderpädagogik“. Sie bleiben bei dieser traditionellen, kontroversen Bezeichnung aus dem banalen Grund, weil sie noch immer die gebräuchlichste ist (siehe Institutionen und Zeitschriften, wie die VHN). Zu thematisieren seien die „Bedingungskonstellationen in Krisen“ (S. 23) bei Lern-, Bildungs- und Entwicklungsprozessen. Eine Konzentrierung auf den Begriff „Behinderung“ beurteilen Dederich und Seitzer als tendenziell essentialistisch (S. 45). Die Autoren unterscheiden drei „Denkstile“ (S. 27ff.): den empirisch-pragmatischen, den kritisch-dekonstruktiven und den praktisch-pädagogischen. Diese lassen sich nicht in Einklang bringen und werden durch eine „innere Zerrissenheit“ (S. 43) und „notorische Uneinigkeit“ (S. 46) hinsichtlich der „realen Probleme“ (S. 63) gekennzeichnet. Resultat sei eine „Entsubjektivierung des Pädagogischen“ (S. 95), wobei der Sachverhalt der Normativität und der „Status der Erfahrung“ (S. 75) vernachlässigt würden. Teil II stellt „Heil- und Sonderpädagogik als responsive Erfahrungswissenschaft“ (S. 88) vor. Dederich und Seitzer kritisieren die „Empirisierung und Technologisierung von Erfahrung“ (S. 91) im Kontext des Objektivitätsideals der Erziehungswissenschaft. Das Subjekt verstehen sie aber nicht im „klassischen Sinne als autonomes und souveränes Konstitutionszentrum, sondern als eine Art Verflechtung“ (S. 103), bei der das Subjekt „in einem antwortenden und nachträglichen Bezug zu sich, seinen Mitmenschen und seiner Welt steht“ (S. 103). Sie stellen dann die Frage: „Wie VHN 1 | 2025 72 REZE NSION E N genau sieht ein gehaltvoller Begriff der Erfahrung für die Pädagogik aus […]? “ (S. 107). Die Antwort lautet verkürzt: Phänomenologie als eine offene Auseinandersetzung mit Sichtweisen. „Der Dreh- und Angelpunkt - oder besser: der Reibungspunkt - der Phänomenologie der Responsivität ist die Fremdheit“, notieren die Autoren (S. 154). In diesem Zitat ist der Bezug zur Heil- und Sonderpädagogik verborgen, denn „Andere (und auch Anderes) zu verstehen“ (S. 155; vgl. S. 242ff.) gehört zu ihrem Thema, wobei das, was „etwas antiquiert […] pädagogischer Takt“ (S. 176) genannt wird, eine Vermittlungsrolle spielt. In Teil III wird der phänomenologische Zugang durch den kulturwissenschaftlichen Ansatz erweitert (S.186ff.). Der Begriff der Kultur wird erläutert (S. 192ff.), genauso wie das „Programm der Kulturwissenschaft“ (S. 203ff.). In diesem Rahmen ist der Abschnitt „Subjektivierung und Behinderung“ (S. 232ff.) von besonderem Interesse, da, wie Dederich und Seitzer schreiben, „heute eine Lebensform und ein hegemonialer Typus von Subjektivität dominant sind, die diametral dem entgegenstehen, was sich in manchen Behinderungen zu verkörpern scheint“ (S. 233). Oder anders formuliert: „Es geht, kurz gesagt, um eine Veränderung der Kultur […], um eine Veränderung der Beziehung zum Anderen“ (S. 259), wobei mit der „Veränderung“ kein neues Paradigma gemeint ist, sondern die Untersuchung gesellschaftlicher Prozesse der „Wahrnehmung von Behinderung“ (S. 262). Daran anschließend folgen in Teil IV die „normativen bzw. ethischen Implikationen der Veränderung des Verhältnisses zum Anderen“ (S. 265) im „Zeichen der Sorge“ (S. 266), der „Ethik der Verantwortung“ (S. 270ff.), dem „Diskurs über die Anerkennung“ (S. 287ff.) und dem „Problem der Gerechtigkeit“ (S. 291ff.). Mit Erfahrung, Wissen, Handeln liegt eine überzeugende und umsichtige Grundlegung im Rahmen phänomenologischer, kulturwissenschaftlicher und ethischer Überlegungen und Begriffe vor, die in pädagogischen Situationen maßgebend sind. Es mag enttäuschend erscheinen, dass sich keine Beispiele für heil- und sonderpädagogisch Tätige finden. Es gibt keine Erfahrungsberichte, Wissenslisten oder Handlungsempfehlungen. Das „theoretische Werkzeug“ erläutert die Sachlage nüchtern, wobei der Eindruck entstehen kann, dass emotionale und imaginative Dimensionen in pädagogischen Situationen außer Acht gelassen werden. Sie könnten ebenso für „anschlussfähige Möglichkeiten der Reflexion und Anhaltspunkte für die Verständigung“ (S. 85) Anlass geben. (Ich schreibe vom Eindruck, der beim Lesen der gedruckten Ausgabe entstand, habe mir dies aber, weil das Buch auch Open Access vorliegt, durch die Suchfunktion bestätigen lassen.) Dederich und Seitzer betonen, dass es um eine „Haltung der Zurückhaltung“ oder um eine „Denkbewegung“ gehe, die in Auseinandersetzungen „regelmäßig auf sich selbst zurückkommt“ (S. 300). Dieser Anspruch wird erfüllt, z. B. auf S. 282, wo es heißt, dass es in der Begegnung mit Menschen, „die befremdlich oder abstoßend wirken, die Irritationen und Ärger auslösen, bei denen wir an eine Grenze des Verstehens und Weiterwissens stoßen“, deshalb um Selbstreflexion gehe, weil die Befremdung, die Irritation, der Ärger „zunächst etwas über mich“ aussagen. Dederich und Seitzer schließen, dass „Heil- und sonderpädagogische Praxis […] in einer ruhelosen Bewegung ständig das Objektiv“ zu wechseln habe, um den Blick „für die Vielschichtigkeit und Komplexität der Erfahrungs- und Handlungszusammenhänge“ (S. 299) offenzuhalten. Das ist zweifellos eine große Herausforderung, könnte aber auch an eine Überforderung grenzen. Die sowohl verzweigte als auch differenzierte Darstellung Erfahrung, Wissen, Handeln erfordert beachtliche Lesebereitschaft. Sie wird belohnt durch instruktive Textstellen (vgl. z. B. S. 212ff. zu „Behinderung als Konstruktion“, kultureller Aufmerksamkeit und Deutungsmustern). Manchmal aber auch desillusioniert durch Abschnitte (zur Phänomenologie, S. 114ff., oder zur Verantwortung und „responsiven Anerkennung“, S. 288ff.), die die Frage aufdrängen, wie ein Transfer in die Heil- und Sonderpädagogik nachvollziehbar wäre. Man braucht weder das eine noch das andere zu kritisieren oder zu präferieren, denn es entspricht der Intention des hybriden interaktiven Zugangs zur Grundlegung der Heil- und Sonderpädagogik. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2025.art07d