Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2025.art12d
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Aktuelle Forschungsprojekte: RILZCHECK - Vergabe und Auswirkungen von Reduzierten Individuellen Lernzielen
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Caroline Sahli Lozano
Robin Benz
Fynn Siefart
Lernende mit besonderem Bildungsbedarf werden in der Schweiz und international zunehmend integrativ in Regelklassen unterrichtet. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich in der Schweiz verschiedene integrative schulische Maßnahmen etabliert, um die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Lernenden zu berücksichtigen. Die Reduktion individueller Lernziele (RILZ), also eine individuelle Reduktion der Lernziele in einem oder mehreren Fächern mitsamt entsprechenden Anpassungen der Lerninhalte, gehört zu den verbreitetsten dieser Maßnahmen. Die Implementation dieser integrativen Maßnahme unterliegt kantonalen Unterschieden, so ist je nach Kanton unterschiedlich geregelt, welche Instanz RILZ verordnet, ob für die Vergabe von RILZ ein Gutachten einer schulpsychologischen Fachstelle erforderlich ist und ob RILZ zwingend an zusätzliche integrative Fördermaßnahmen geknüpft ist. Gemäß Bundesamt für Statistik waren im Schuljahr 2022/23 schweizweit rund 4.8% aller Lernenden in Regelklassen von Lehrplananpassungen wie RILZ betroffen, wobei dieser Anteil je nach Kanton variiert. Trotz der Bedeutung von RILZ im Schulalltag gibt es bislang kaum Forschung, welche die Vergabe, die Umsetzung sowie die möglichen Auswirkungen von RILZ auf die schulische Leistungsentwicklung und die Bildungsverläufe von Lernenden in den Blick nimmt. Ergebnisse der bislang einzigen systematischen Studie in diesem Bereich, der Berner Längsschnittstudie BELIMA, deuten auf benachteiligende Effekte von RILZ hin, indem RILZ sozial selektiv vergeben wird und sich potenziell negativ auf die schulische Leistungsentwicklung auswirkt. Aufgrund der limitierten Stichprobe verfügt die BELIMA-Studie jedoch nur über begrenzte Möglichkeiten, für andere Schulsysteme verallgemeinerbare Befunde zu schaffen. Das von der Pädagogischen Hochschule Bern geförderte Projekt RILZCHECK knüpft hier an und verfolgt das Ziel, auf Basis von Sekundärdaten einer umfassenden Lernstandserhebung neue Erkenntnisse zur Vergabe und den Auswirkungen von RILZ zu schaffen.
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VHN 2 | 2025 145 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE RILZCHECK - Vergabe und Auswirkungen von Reduzierten Individuellen Lernzielen Caroline Sahli Lozano, Robin Benz, Fynn Siefart Pädagogische Hochschule Bern Hintergrund Lernende mit besonderem Bildungsbedarf werden in der Schweiz und international zunehmend integrativ in Regelklassen unterrichtet. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich in der Schweiz verschiedene integrative schulische Maßnahmen etabliert, um die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Lernenden zu berücksichtigen. Die Reduktion individueller Lernziele (RILZ), also eine individuelle Reduktion der Lernziele in einem oder mehreren Fächern mitsamt entsprechenden Anpassungen der Lerninhalte, gehört zu den verbreitetsten dieser Maßnahmen. Die Implementation dieser integrativen Maßnahme unterliegt kantonalen Unterschieden; so ist je nach Kanton unterschiedlich geregelt, welche Instanz RILZ verordnet, ob für die Vergabe von RILZ ein Gutachten einer schulpsychologischen Fachstelle erforderlich ist und ob RILZ zwingend an zusätzliche integrative Fördermaßnahmen geknüpft ist. Gemäß Bundesamt für Statistik waren im Schuljahr 2022/ 23 schweizweit rund 4.8 % aller Lernenden in Regelklassen von Lehrplananpassungen wie RILZ betroffen, wobei dieser Anteil je nach Kanton variiert. Trotz der Bedeutung von RILZ im Schulalltag gibt es bislang kaum Forschung, welche die Vergabe, die Umsetzung sowie die möglichen Auswirkungen von RILZ auf die schulische Leistungsentwicklung und die Bildungsverläufe von Lernenden in den Blick nimmt. Ergebnisse der bislang einzigen systematischen Studie in diesem Bereich, der Berner Längsschnittstudie BELIMA, deuten auf benachteiligende Effekte von RILZ hin, indem RILZ sozial selektiv vergeben wird und sich potenziell negativ auf die schulische Leistungsentwicklung auswirkt. Aufgrund der limitierten Stichprobe verfügt die BELIMA-Studie jedoch nur über begrenzte Möglichkeiten, für andere Schulsysteme verallgemeinerbare Befunde zu schaffen. Das von der Pädagogischen Hochschule Bern geförderte Projekt RILZCHECK knüpft hier an und verfolgt das Ziel, auf Basis von Sekundärdaten einer umfassenden Lernstandserhebung neue Erkenntnisse zur Vergabe und den Auswirkungen von RILZ zu schaffen. Fragestellungen In heterogenen Schulklassen können nicht alle Lernenden dieselben Lernziele erreichen. Deshalb benötigen manche Lernende spezifische Anpassungen der Lerninhalte oder zusätzliche Unterstützung. Die Maßnahme RILZ sieht für Betroffene individuelle Reduktionen der Lernziele vor. Integrative Maßnahmen wie RILZ sind daher als institutionalisierte Form der inneren Differenzierung charakterisierbar. Aus der Bildungsforschung ist hinlänglich bekannt, dass Maßnahmen der äußeren Differenzierung, wie etwa die Zuweisung zu unterschiedlich anforderungsreichen Schultypen oder Sonderklassen, durch soziale Selektivität gekennzeichnet sind, regionalen Disparitäten unterliegen und Bildungslaufbahnen maßgeblich beeinflussen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich ähnliche Mechanismen auch bei integrativen schulischen Maßnahmen wie RILZ zeigen. Darauf aufbauend widmet sich das Projekt RILZCHECK fünf aufeinander aufbauenden Fragestellungen: 1: Wie verbreitet und persistent ist die Maßnahme RILZ? 2: Inwieweit variiert die Vergabehäufigkeit von RILZ zwischen Kantonen, Schulen und Schulklassen? 3: Inwieweit werden RILZ sozial selektiv vergeben (z. B. nach Geschlecht, Migrationshintergrund oder sozioökonomischem Status)? 4: Wie wirkt sich der Erhalt von RILZ auf die schulische Leistungsentwicklung aus? Und gibt es Spillover-Effekte auf Lernende ohne RILZ? 5: Welche Auswirkungen haben RILZ auf die (nachobligatorischen) Ausbildungsverläufe betroffener Lernender? Auf Grundlage bisheriger Befunde im Bereich der äußeren Differenzierung sowie basierend auf der Theorie primärer und sekundärer Herkunftseffekte, Konzepten der Referenzgruppeneffekte und Lehrpersonenerwartungen sowie der Kapitaltheorie wird unter anderem erwartet, dass sozioökonomisch benachteiligte Lernende systematisch häufiger RILZ haben und dass die ungleiche Vergabe von RILZ intersektionale Muster zeigt. Weiter VHN 2 | 2025 146 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE wird erwartet, dass sich RILZ infolge der anspruchsärmeren Lernumgebung innerhalb der Schulklasse und verminderter Selbstwirksamkeitserwartungen negativ auf die Leistungsentwicklung der betroffenen Lernenden auswirkt und aufgrund der starken Signalwirkung auch (nachobligatorische) Bildungsverläufe negativ beeinflusst. Die kantonal unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Implementation von RILZ - etwa hinsichtlich der Vergabekriterien, der Kombination mit Fördermaßnahmen, der Sozialstruktur der Schüler: innenschaft oder der Prävalenz separativer Sonderschulung - birgt überdies breites Potenzial für kontrafaktische Analysen. Daten und Methoden Seit Kurzem bieten Sekundärdaten der in der Nordwestschweiz durchgeführten Lernstandserhebungen, die Checks, eine vielversprechende Möglichkeit zu vertiefenden Analysen zur Vergabe und den Auswirkungen von RILZ. Die Checks umfassen jährliche standardisierte Schulleistungstests ganzer Kohorten der Kantone Aargau, Basel- Landschaft, Basel-Stadt und Solothurn zu unterschiedlichen Zeitpunkten der obligatorischen Schule. Anhand der Checks können für den Zeitraum von 2013 -2023 die schulischen Leistungen von rund 195’000 Lernenden - davon rund 17’500 mit RILZ - aus über 1’200 Schulen mit je bis zu vier Messzeitpunkten analysiert werden. Die Sekundärdaten der Checks enthalten zudem differenzierte und fachbezogene Angaben zu RILZ. Damit birgt die Datengrundlage nebst quer- und längsschnittlichen Zugängen auch das Potenzial für Trendaussagen (vgl. Abbildung 1). Damit die Daten der standardisierten Leistungstests im Rahmen der Checks ausreichend kontextualisiert werden können, erfolgt eine Datenverknüpfung mit Registerdaten auf Basis der Sozialversicherungsnummer. Dabei wird auf Datenbestände des Bundesamtes für Statistik sowie der Zentralen Ausgleichsstelle zurückgegriffen, wodurch Informationen zu Ausbildungsverläufen, zur Haushaltssituation, zur Migrationsgeschichte und zum sozioökonomischen Hintergrund der Schuljahr 2013/ 14 2014/ 15 2015/ 16 2016/ 17 2017/ 18 2018/ 19 2019/ 20 2020/ 21 2021/ 22 2022/ 23 Anzahl Lernende 8’177 15’717 27’338 37’392 47’722 50’040 50’717 40’202 51’758 52’206 Davon RILZ 293 777 1’443 2’085 2’616 2’580 2’706 2’497 3’051 3’284 9. Klasse 8. Klasse 7. Klasse 6. Klasse 5. Klasse 4. Klasse 3. Klasse Sekundarstufe I Primarstufe Abb. 1 Datenverfügbarkeit der Checks im Bildungsraum Nordwestschweiz nach Schuljahr und Klassenstufe ( ■ = AG, ■ = BL, ● = BS, ● = SO) VHN 2 | 2025 147 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Lernenden verfügbar werden. Entlang der Fragestellungen werden die verknüpften Daten quantitativ mittels regressionsanalytischer Verfahren unter Anwendung von quasi-experimentellen Untersuchungsdesigns, Matching-Verfahren sowie Machine Learning analysiert. Ausblick RILZ gehört in der Schweiz und international zu den verbreitetsten Maßnahmen, um integrativen Unterricht aller Lernenden während der gesamten obligatorischen Schule zu ermöglichen. Dennoch gibt es kaum verallgemeinerbare Forschung zur Implementation und den Auswirkungen von RILZ, was unter anderem einer limitierten Abdeckung von Lernenden mit besonderem Bildungsbedarf in gängigen Datenangeboten der Bildungsforschung geschuldet ist. Indem das Projekt RILZCHECK neuartige Datenbestände zur Erforschung integrativer Maßnahmen in Regelklassen erschließt, adressiert es diese Forschungslücke und schafft so fundierte Erkenntnisse zur Vergabe und den Auswirkungen dieser Maßnahme. Die gewonnenen Erkenntnisse tragen nicht nur zu einer umfassenden Evaluation von RILZ und vergleichbaren integrativen Maßnahmen bei, sondern liefern auch Hinweise auf förderliche Umsetzungsbedingungen von RILZ, anhand derer konkrete Empfehlungen zuhanden der Bildungsplanung und Schulpraxis abgeleitet werden können. Die empirischen Erkenntnisse aus RILZCHECK werden im Laufe der nächsten drei Jahre fortlaufend in Form von Artikeln in Fachzeitschriften, Berichten und Präsentationen einem diversen Publikum zugänglich gemacht. Kontakt und weitere Informationen: www.phbern.ch/ rilzcheck caroline.sahli@phbern.ch DOI 10.2378/ vhn2025.art12d - Anzeige -
