eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 94/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2025.art17d
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2025
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Fachbeitrag: "Erkenntnis und Interesse": Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule

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2025
Vera Moser
Die sonderpädagogische Historiographie kann als ein umkämpftes Feld beschrieben werden, innerhalb dessen in sogenannten ‚Großen Erzählungen‘ (Lyotard, 1986) Narrationen des eigenen Fachs interessegeleitet vorgelegt werden. Am Beispiel von vier solchen einflussreichen Narrationen zur Gründungsgeschichte der Hilfsschule (Frenzel, Möckel, Ellger-Rüttgardt, Hänsel) kann freigelegt werden, in welcher Weise sich Interessen rekonstruieren lassen, und zwar durch die Offenlegung der Blickrichtung, mit welcher das historische Problem aufgesucht wird. Demgegenüber werden am Ende des Beitrags im Kontext des New Historicism drei kleinere Erzählungen beschrieben, die die offenen Forschungslücken der ‚Großen Erzählungen‘ aufgreifen. Dieser Zugang zeigt sich nicht nur sensitiv für Materialien, Diskurse, Wissensnetze und -ordnungen, sondern kontextualisiert Texte in Wissenspraktiken.
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190 VHN, 94. Jg., S. 190 -202 (2025) DOI 10.2378/ vhn2025.art17d © Ernst Reinhardt Verlag FACH B E ITR AG „Erkenntnis und Interesse“: Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule Vera Moser Goethe Universität Frankfurt am Main Zusammenfassung: Die sonderpädagogische Historiographie kann als ein umkämpftes Feld beschrieben werden, innerhalb dessen in sogenannten ‚Großen Erzählungen‘ (Lyotard, 1986) Narrationen des eigenen Fachs interessegeleitet vorgelegt werden. Am Beispiel von vier solchen einflussreichen Narrationen zur Gründungsgeschichte der Hilfsschule (Frenzel, Möckel, Ellger-Rüttgardt, Hänsel) kann freigelegt werden, in welcher Weise sich Interessen rekonstruieren lassen, und zwar durch die Offenlegung der Blickrichtung, mit welcher das historische Problem aufgesucht wird. Demgegenüber werden am Ende des Beitrags im Kontext des New Historicism drei kleinere Erzählungen beschrieben, die die offenen Forschungslücken der ‚Großen Erzählungen‘ aufgreifen. Dieser Zugang zeigt sich nicht nur sensitiv für Materialien, Diskurse, Wissensnetze und -ordnungen, sondern kontextualisiert Texte in Wissenspraktiken. Schlüsselbegriffe: Sonderpädagogische Historiographie, Große Erzählungen, Erkenntnisinteresse, New Historicism, Hilfsschule “Knowledge and Human Interests”: The Special Educational Historiography of the Hilfsschule in Germany Summary: Special educational historiography can be described as a contested field within which narratives of one’s own subject are presented in so-called ‘grand narratives’ (Lyotard, 1986), guided by interest. Using the example of four such influential narratives on the founding history of the Hilfsschule (Frenzel, Möckel, Ellger-Rüttgardt, Hänsel), we can uncover the way in which interests can be reconstructed by revealing the perspective with which the historical problem is approached. In contrast, three smaller narratives are described at the end of the article in the context of New Historicism, which take up the open research gaps of the ‘grand narratives’. This approach is not only sensitive to materials, discourses, knowledge networks and orders, but also contextualises texts in knowledge practices. Keywords: Special educational historiography, grand narratives, epistemological interest, new historicism, special schools in Germany 1 Das große sonderpädagogische Narrativ Das Erzählen von Geschichte hat seinen Anspruch auf Objektivität seit Langem verloren, dies betrifftinsbesondere die großen Erzählungen in der Perspektive einer longue durée. Denn die Auswahl des Sujets, die Komposition von Zusammenhängen und deren historiographische Einordnung und Ausdeutung ist abhängig vom eigenen Kontext und Erkenntnisinteresse der erzählenden Person. Ob dieses Erkenntnisinteresse, wie Habermas (1973) einst postulierte, im Dienste der Emanzipation steht oder aber im Dienste spezifisch anderer Legitimationsinteressen, soll im Nachstehenden betrachtet werden. Insofern kann auch die sonderpädagogische Historiographie als ein umkämpftes Feld VHN 3 | 2025 191 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG betrachtet werden, denn sie erfüllt, wie sich an vier Beispielen zeigen lässt, erinnerungspolitische, legitimatorische Funktionen, die freilich von den jeweiligen Autor: innen auch unverblümt offengelegt werden. D. h. hier werden Narrative entwickelt, vielfach auch von weiteren Autor: innen wiederholt und damit immunisiert, die einem bestimmten Ziel dienen. In der Erforschung der Legitimationen von wissenschaftlichen Aussagen lassen sich drei Ebenen von kritischen Einsprüchen identifizieren: „Infragestellung im Kontext der Wissenschaft, im Kontext von Politik und Verwaltung und im Kontext der gesellschaftlichen Transformation“ (Barlösius & Ruffing, 2023, S. 27). Insofern interessiert im Folgenden nicht nur ein möglicher wissenschaftsinterner Widerspruch, sondern auch ein auf gesellschaftliche Wirkung hin ausgerichtetes Narrativ: In der sonderpädagogischen Historiographie umfasst dieses große Narrativ eine an ‚Wohltätern‘ und ‚Pionieren‘ orientiert fortschrittsoptimistische Geschichte der Versorgung und Behandlung behinderter Menschen (Waldschmidt, 2010, S. 21). 2 Erkenntnis und Interesse in der Historiographie Mit Jürgen Habermas formuliert, verfolgen die Sozialwissenschaften ein auf die Lebenswelt bezogenes, also praktisches Erkenntnisinteresse, das auf ein aufklärerisches und gesellschaftlich emanzipatorisches Veränderungspotenzial abzielt. Einem solchen deklarativen Ziel der Emanzipation, welches Erkenntnis mit sozialem Handeln koppelt (vgl. Tuschling, 1978), und dem hiermit verbundenen transzendentalen Standpunkt hatte Luhmann einst widersprochen und die Sozialwissenschaften dazu aufgefordert, ‚ideenkonservativ‘ zu sein, i. S. eines jeweils neuen Auslotens der Frage: „Was war das Problem, und wo ist es geblieben? “ (vgl. Horster, 1995). Diese streng auf Differenz hin ausgerichtete soziologische Perspektive lässt sich auch historiographisch wenden - denn sie verbietet ‚große Erzählungen‘, die eine Linearität von Ereignissen über einen längeren Zeitraum postulieren und diesbezügliche Kontinuitäten annehmen, verbunden mit einer übergeordneten interessegeleiteten Positionierung, die in der Regel als moralische ausgewiesen wird (wie z. B. Fürsorge, advokatorische Stellvertretung). Und sie verweist auf Differenzsetzungen, aus denen heraus sich das Problem überhaupt als solches beschreiben lässt. Damit ist aber auch dem Postulat einer einzigartigen Wirklichkeit und Faktizität sowie einer übergeordneten Moral einer dominanten historiographischen Erzählung eine Absage erteilt. Dennoch bleibt die Notwendigkeit der Markierung eines Erkenntnisinteresses in Verbindung mit dem vorliegenden Forschungsstand und dessen Lücken bestehen, ohne freilich daraus praktische oder politische Handlungsempfehlungen abzuleiten. Interesse wäre damit auf ein reduzierteres Maß eines Erkenntnisinteresses zusammengeschrumpft und müsste i. S. des New Historicism freilegen, welches Wissen in welchen Wissensnetzwerken hervorgebracht und zirkuliert wird und damit machtförmig wird. Eine solcherart auf Differenz ausgerichtete historiographische Perspektive verlangt nach mindestens zwei Abklärungen: a) Wie ist der Kegel des Scheinwerfers ausgerichtet, mit dem das Problem gesucht wird? Wie und von wo aus wird dieser Kegel im Sinne eines markierten Erkenntnisinteresses positioniert? b) Welche Quellen, d. h. welche Materialien im Sinne des New Historicism treten dabei als relevant und miteinander verwoben hervor? Angewandt auf die Historiographie der Sonderpädagogik lässt sich mit diesen beiden Perspektiven auf den Kegel des Scheinwerfers und dem Material, welches analysiert wird, eine VHN 3 | 2025 192 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG metatheoretische Betrachtung vornehmen, indem gefragt wird, welches Problem beschrieben wird und unter welchen Prämissen es überhaupt als Problem erscheint und mit welchem Erkenntnisinteresse dies verknüpft ist. Dies möchte ich exemplarisch am Beispiel der Entstehung der Hilfsschule entlang relevanter sonderpädagogischer Historiographien beleuchten. Dabei ist die Frage, sensu Luhmann, zu stellen: „Was war das Problem, und wo ist es geblieben? “ (Vgl. Horster, 1995). 3 Die Hilfsschule im Kontext erfolgs- und verfallsgeschichtlicher Darstellungen Mit dem Urvater der Erzählung der Entstehung der Hilfsschule, dem Chronisten und Zeitzeugen Franz Frenzel, der 1918 eine erste Variante hierzu vorlegte, soll die Analyse beginnen. Sein argumentativer Einstieg ist, dass die Geschichte des Hilfsschulwesens „leider bisher nur sehr spärlich bearbeitet“ sei, da „die Hilfsschulbewegung erst ein junger Zweig an dem Stamme der Pädagogik“ sei (Frenzel, 1918, S. 2). Die hier zu thematisierenden ‚Geistesschwachen‘ seien in der Geschichtsschreibung ohnehin stiefmütterlich behandelt worden, weil es sich offenbar nicht lohne, „den geistig Armen, den Stiefkindern der Natur, besondere Sorgfalt und Behandlung angedeihen zu lassen“ (ebd.). Zudem seien die ‚Geistesschwachen‘ zugehörig zur Gruppe der „Geisteskranken, Irrsinnigen, Kretinen, Taubstummen usw.“ (ebd., S. 6). So betont Frenzel explizit: „Es sei hier ausdrücklich hervorgehoben, daß die Anstalten für Erziehung und Unterricht geistesschwacher Kinder (Idiotenanstalten) als die eigentliche Mutter der Schwachsinnigenbildung bezeichnet zu werden verdienen, von denen sich später als Töchter die Hilfsschulen abgezweigt haben“ (ebd., S. 7). Diese Vorläufergeschichte wird anhand der Aktivitäten ‚großer Männer‘ (trotz der zuvor bemühten Mütter-Töchter-Metapher), die sich um die so markierten Vergessenen bemühten, dargelegt: Pestalozzi, Guggenbühl, Guggenmoos, Disselhof, Stötzner, Berkhan, Kielhorn usw. Mit der Gründung des Verbands der Hilfsschullehrer Deutschlands 1898 wird von Frenzel dann die Glanzzeit der Hilfsschule anberaumt (vgl. ebd., S. 51), die mit der Darstellung der Ausbreitung der Hilfsschule illustriert und begründet wird. Deren konzeptionelles Selbstverständnis wird über die Figur der „Eigenart des schwachbegabten Schülermaterials“ begründet (Frenzel, 1919, S. 3), womit eine individuelle und keine strukturelle oder systemische Ursache postuliert wird. Zusammenfassend basiert dieser erste Erzählstrang auf folgenden Thesen: a) es gab gewissermaßen überhistorisch eine Gruppe von Personen, die sich als ‚Behinderte‘ bezeichnen lassen („Geisteskranke, Irrsinnige, Kretine, Taubstumme usw.“, s. o.) und die ein soziales Schattendasein führten, aus denen b) naturwüchsig (‚Mutter-Tochter‘) das ‚schwachbegabte Hilfsschulkind‘ erwächst, dessen c) Besonderheit biologistisch verankert wird und dem sich d) in dichter Abfolge bedeutsame Männer caritativ zuwandten. Die institutionelle Ausbreitung der Hilfsschule um 1900 e) wird dabei als ‚Glanzzeit‘ im Sinne eines moralischen Fortschritts gerahmt. Gruppe behinderter Menschen Entstehung Hilfsschulkind Typologie Hilfsschulkind Akteure der Hilfsschulgründung Epochisierung Überhistorisch Schulproblem biologisch Caritative ‚große‘ Männer Entstehungszeit ausgehendes 19. Jh. als Glanzzeit Tab. 1 Argumentationslinien zur Hilfsschulgründung in Frenzel (1918) und Frenzel (1919) VHN 3 | 2025 193 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG Im zweiten Beispiel, Andreas Möckels Buch über die „Geschichte der besonderen Grund- und Hauptschule“, wird die eigene Arbeit bereits einleitend als Studie ‚großer Männer‘ charakterisiert: „Ich habe mich bemüht, die Stimmen zu hören, die um 1880 bewirkt haben, daß sich viele Volksschullehrer mit einer erstaunlichen Hingabe der Hilfsschule stellten. Die Kritik, die heute an der Hilfsschule geübt wird und wohl auch geübt werden muß, übergeht im allgemeinen, daß die Hilfsschule einmal einem Schulnotstand ein Ende bereitet hat“ (Möckel, 2001, V). Die Aktivitäten bedeutsamer, caritativ motivierter Männer reihen sich, wie bei Frenzel, perlenschnurgleich auf: „Johann Heinrich Pestalozzi ging voraus“ (ebd., S. 11), gefolgt von „Guggenmoos, Saegert, Heinecke“ usw. (ebd., S. 12). Ziel sei es, mit seiner Forschungsarbeit, so Möckel, zu erwägen, „wie wir mit unseren schwächsten Schülern umgehen“ (ebd., VI). Das Erzählmotiv, es handele sich um die „schwächsten Schüler“, wird dann wieder aufgegriffen, um diese nun jedoch nicht biologistisch, sondern sozial-strukturell zu rahmen: „Die Hilfsschule war von Anfang an hauptsächlich für Eltern aus einer Bevölkerungsschicht gedacht, die finanziell nicht in der Lage waren, die eigenen Kinder durch private Nachhilfestunden zu stützen“ (ebd., S. 44). [An dieser Stelle sei die Rückfrage erlaubt, welche historischen Daten über die Nutzung von Nachhilfeunterricht im Kreis der Volksschüler bekannt sind.] Im Fortgang seiner Arbeit kritisiert Möckel die biologistische Konstruktion von ‚Schwachbefähigung‘, die zu unnötigen Diskreditierungen eines ansonsten fachlich und moralisch überzeugenden Unterstützungssystems führe: „Hilfe durch Unterricht verdienten die Kinder, weil sie die Pflichtschule besuchten und sich die Lösung des schulischen Problems durch einen intensiven Unterricht geradezu aufdrängte“ (ebd., S. 128). Die immanenten Selektions- und Exklusionsprozesse durch die Konstruktion der Hilfsschule bleiben bei Möckel insofern unterbelichtet, als er die Diktion einer „besonderen Grund- und Hauptschule“ erfindet, die als Subsystem des bestehenden Schulsystems gelesen werden soll. Diesen positiven Anfängen stellt Möckel die „Pervertierung der Heilpädagogik“ im Nationalsozialismus gegenüber. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Wie bei Frenzel bleibt es auch bei Möckel a) bei dem Postulat, es bestehe gewissermaßen überhistorisch eine sozial ausgegrenzte Gruppe von Personen, die sich als ‚Behinderte‘ bezeichnen lassen, aus denen b) naturwüchsig das ‚schwachbegabte Hilfsschulkind‘ erwächst. Die biologistische Positionierung des Hilfsschulkindes wird indessen c) zurückgewiesen zugunsten eines sozio-ökonomischen Argumentes, diesen Kindern habe der private Nachhilfeunterricht gefehlt, den andere Volksschüler angeblich in Anspruch genommen hätten (ohne diese These freilich zu belegen). Und nach wie vor ist d) die Hilfsschulgründung Resultat der caritativen Anstrengungen ‚großer Männer‘, wobei ebenso die Gründungszeit e) moralisch als ‚Glanzzeit‘ gerahmt wird. Im Ganzen, so das Vorwort des Buches, ist diese Forschungsarbeit als Verteidigungsschrift der Sonderschule gegenüber den zeitgenössischen Integrationsbewegungen positioniert und formuliert eine longue durée-Erzählung, nach der sich ein für die Klienten wirksames, positives Unterstützungssystem bis in die damalige Gegenwart durchgesetzt habe. Gruppe behinderter Menschen Entstehung Hilfsschulkind Typologie Hilfsschulkind Akteure der Hilfsschulgründung Epochisierung Überhistorisch Schulproblem Sozio-ökonomisch Caritative ‚große‘ Männer Entstehungszeit ausgehendes 19. Jh. und Weimarer Republik als Glanzzeit Tab. 2 Argumentationslinien zur Hilfsschulgründung in Möckel (1975/ 2001) VHN 3 | 2025 194 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG Als drittes Beispiel seien die Arbeiten von Sieglind Ellger-Rüttgardt zur Geschichte des Hilfsschullehrers von 1980 sowie ihre „Geschichte der Sonderpädagogik“ von 2008 herangezogen. Bereits die ersten Zeilen der Arbeit von 1980, ihrer Dissertationsschrift, markieren ihr Erkenntnisinteresse, nämlich die bisherige „Nichtbeachtung der Behindertenpädagogik in der Öffentlichkeit“ (Ellger-Rüttgardt, 1980, S. 1), wobei, so die Autorin, in „jüngster Zeit die Behindertenpädagogik selbst die von der Gesellschaft auferlegte bzw. freiwillig gewählte Isolation aufzugeben beginnt“ (ebd.). Damit positioniert sie sich, wie Möckel, in einer Zeit der bildungspolitischen Kritik an der Lernbehindertenschule, um die „bislang vernachlässigte historische Dimension in die wissenschaftliche Diskussion einzubeziehen“ (ebd., S. 2), um damit der Lernbehindertenschule ein positiveres Image zu verleihen. Die Arbeit wird in die bildungshistorische Erforschung des Lehrerberufs eingeordnet, nicht zuletzt deshalb, weil Ellger-Rüttgardt die Hilfsschullehrer: innen als zentrale Motoren zur Entwicklung der Hilfsschule ansieht (ebd., S. 9), was wiederum auch sozialgeschichtlich einzuordnen sei. In diesem Kontext werden die Wirkmächtigkeit des eigenen Berufsverbandes sowie Interessenkonflikte mit den Anstalten einerseits und den Volksschulen andererseits beschrieben, die nicht zuletzt auch in Besoldungsfragen münden. Insbesondere diese konflikttheoretische Perspektive lässt die Perlenschnur caritativer Tätigkeiten ‚großer Männer‘ in den Hintergrund treten - so wird beispielsweise die geringe Bedeutung Heinrich Stötzners bei der Verbandsgründung herausgestellt (ebd., S. 51f.), der in anderen Darstellungen wiederum als Gründervater der Hilfsschule gilt. Die Statuskämpfe seien, so Ellger-Rüttgardt, schließlich auch das Motiv für die Biologisierung der Klientel und Grundlage der eigenen Qualifizierungsanstrengungen, ebenso wie der Entwurf einer „überragenden Lehrerpersönlichkeit“ und eines „karitativen Selbstverständnisses“ (ebd., S. 225ff.). Vor dem Hintergrund dieser Erörterungen kommt Ellger-Rüttgardt zum Schluss, dass die Lernbehindertenpädagogik grundsätzlich danach fragen müsse, „wie ein Schulwesen - und damit auch eine Gesellschaft - aussehen [müsste], die auch jenen ein Höchstmaß an individueller Förderung und sozialer Gerechtigkeit widerfahren lassen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sind, gesetzten Durchschnittsnormen zu entsprechen? “ (ebd., S. 438). In der hier, also 1980, beobachteten Gegenwart erscheinen größere Möglichkeiten zur Realisierung sozialer Teilhabe (ebd.), womit Ellger-Rüttgardt an dieser Stelle den Blick für die zuvor an Volksschulen beschulten, nunmehr selektierten und exkludierten Hilfsschüler: innen durch die Berufsgruppe der Hilfsschullehrer jetzt jedoch ausblendet und zurück zur caritativen Erzählung kehrt, nach der die Lernbehindertenpädagogik in den Bildungsreformen der damaligen Gegenwart, wie bereits fortwährend seit den Hilfsschulgründungen, für die „personale Entfaltung und Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung auch für die ihr Anvertrauten“ eingetreten sei und einzutreten habe (ebd., S. 441). Die von Ellger-Rüttgardt 2008 publizierte „Geschichte der Sonderpädagogik“ verspricht, historiographische Forschung mit einem veränderten Fokus zu betreiben, und zwar aufruhend auf einer ideengeschichtlichen Perspektive auf die pädagogische Konzeptualisierung von Bildsamkeit, denn das Buchprojekt entsteht im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“ (Raphael, 2006; Tenorth, 2006). Diese annoncierte Perspektive verspreche einen differenzierten Blick auf die Verhandlung von Bildsamkeit in Methoden, Institutionen, Klassifikation, Bildungszielen und Normen im Kontext einer gesellschafts- und politikgeschichtlichen Rahmung VHN 3 | 2025 195 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG (vgl. Ellger-Rüttgardt, 2008, S. 17), die sich über den Zeitraum von mehreren hundert Jahren hinweg erstreckt. Dieser Zielsetzung gegenüber wird jedoch wieder die Erzählung caritativer ‚großer Männer‘ aufgenommen - Locke, Diderot, Pestalozzi, Itard, Rousseau, de l’Eppé, Sicard, Heinecke usw. -, die als relevante Akteure einer Humanisierung der Gesellschaft aufgeführt und damit gegenüber späteren erbbiologischen und sozialdarwinistischen Tendenzen kontrastierend in Stellung gebracht werden. Im Teilkapitel über die Hilfsschule wird nun - gegenüber der Arbeit von 1980 - eine veränderte Darstellung positioniert: Statt der Hilfsschullehrergruppe ist nun der Staat ein relevanter Akteur: „Die Parallelität einer fördernden staatlichen Bildungspolitik und einer äußerst agilen Interessenvertretung der jungen Aufsteiger Hilfsschullehrer (…) erklärt die überaus erfolgreiche Entwicklung des Hilfsschulwesens im nationalen Maßstab“ (ebd., S. 162). In dieser Generalperspektive von mehr als 300 Jahren, über verschiedene Behinderungsformen hinweg, kann eine pointierte Fokussierung von ‚Bildsamkeit‘ als Folie einer Organisation von pädagogischen Normen, Institutionen, Professionsentwicklungen und einer Differenzierung der Schüler: innenschaft sicher nicht gelingen. Gewissermaßen aus Gründen der Komplexitätsreduktion drängt diese Arbeit wieder in Richtung einer caritativen Erzählung, die die Konstruktion des Hilfsschülers nicht in den Fokus von Professions- und Organisationsentwicklung aufnimmt, wie in der 1980er Arbeit angelegt war, sondern wieder in der Tradition der longue durée eine Erzählung vorlegt, nach der schon immer dagewesene Problemlagen auftreten, nämlich schwierige Schüler: innen als ein Problem der Schulorganisation - ein Thema übrigens, das die 1980er und die 2008er Arbeit verbindet, obgleich diese Thematik in der 1980er Arbeit zentral professionstheoretisch reflektiert wurde. Zu diesen drei Erzählungen kommt prominent eine hierzu als Gegenerzählung deklarierte Arbeit von Dagmar Hänsel und Hans-Joachim Schwager aus dem Jahr 2004 hinzu. Auch hier findet sich in der Einleitung zugleich das Erkenntnisinteresse: Unzulänglicherweise sei die Geschichte der Sonderschule bisher ausschließlich von Sonderpädagog: innen verfasst worden (Hänsel & Schwager, 2004, S. 11). Als besonders kritisch erachten die Autor: innen dabei den postulierten, positiv konnotierten ‚Eigencharakter der Sonderschule‘ gegenüber der Volksschule. Wie die Einleitung schon vorwegnimmt, kommt die Studie zu dem Schluss, dass aus dem „armen Kind“ durch die sonderpädagogische Intervention ein „an der Grenze zur Idiotie stehende[s] Kind“ konstruiert und dabei das „Armenproblem“ in ein „Gesundheitsproblem“ transformiert wurde (ebd. S. 13). Zudem leide die sonderpädagogische Geschichtsschreibung an einer falschen Epochisierung, die zur Reduktion des betrachteten Materials führe, denn der Startpunkt sei mit Georgens & Deinhardt in den 1860er Jahren zu setzen. Weiterhin kritisieren die Autor: innen den legitimatorischen Charakter der bisheri- Gruppe behinderter Menschen Entstehung Hilfsschulkind Typologie Hilfsschulkind Akteure der Hilfsschulgründung Epochisierung Überhistorisch Schulproblem Sozioökonomisch, schulorganisatorisch, professionspolitisch (Caritative) ‚große‘ Männer Entstehungszeit ausgehendes 19. Jh. und Weimarer Republik als Glanzzeit Tab. 3 Argumentationslinien zur Hilfsschulgründung in Ellger-Rüttgardt (1980) und Ellger-Rüttgardt (2008) VHN 3 | 2025 196 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG gen Historiographie für die Organisationsform ‚Sonderschule‘ (ebd., S. 21). Um diese Thesen zu belegen, werden die Historiographien von Frenzel, Fuchs, Beschel, Bleidick und Möckel in Bezug auf Epochisierung und Legitimationsfunktion durchgesehen, die mehr oder weniger Vorläufer-, Entstehungs- und Konsolidierungsphasen beschreiben, mit dem, so die beiden Autor: innen, illegitimen Schluss einer ansteigenden Humanisierung, da sie in die Gründung von exkludierenden Hilfsschulen münden. Hiermit schreiben die Autor: innen ebenfalls eine Geschichte von ‚großen Männern‘ und Wohltätern (vgl. Waldschmidt, 2010), die nun, statt in der Gründung von Hilfsschulen, in der Gründung von Volksschulen mündet. Demgegenüber wird kontrastierend eine Niedergangsgeschichte geschrieben, in der der Hilfsschule die Konstruktion des ‚schwachsinnigen Schülers‘ zugerechnet wird, parallel zur These Ellger- Rüttgardts 1980, wie auch die organisatorische Abtrennung aus der Volksschule mit Verlaufslinien über den NS-Staat bis hin zur 1994er KMK-Empfehlung im Sinne einer Erzählung in der Tradition der longue durée vorgelegt wird. Zusammengefasst besteht die Pointe dieser Arbeit darin, dass die Hilfsschule in der bisherigen Geschichtsschreibung als alternativlose Förderung schulschwacher Schüler: innen positioniert wurde, was die Autor: innen als „verhängnisvollen Irrtum“ (sowohl der damaligen Akteur: innen als auch der Historiograph: innen) markieren (Hänsel & Schwager, 2004, S. 293). Demgegenüber wird u. a. auch das Thema des Professionskonfliktes zwischen Hilfs- und Volksschullehrern adressiert, ohne jedoch an die Analysen von Ellger-Rüttgardt (1980) anzuschließen und kontrastierend hierzu die Selbstpositionierung der Gruppe der Volksschullehrer zu untersuchen. Der Professionskonflikt münde darin, dass die „Kinder der Armen und die aus der Hilfsklasse ausgeschlossenen“ den „Preis für den Gewinn, den die Hilfsschullehrer gegenüber den Volksschullehrern“ erzielten, zahlten (Hänsel & Schwager, 2004, S. 302f.). In den Arbeiten von Ellger-Rüttgardt (insbesondere in ihrer Dissertationsschrift) und der Publikation von Hänsel und Schwager finden sich damit folgende Problembeschreibungen: Analog zu Frenzel und Möckel bleibt es a) bei dem Postulat, es bestehe gewissermaßen überhistorisch eine Gruppe von Personen, die sich als sozial desintegrierte behinderte Menschen bezeichnen lasse, aus der b) jedoch nicht naturwüchsig das ‚schwachbegabte Hilfsschulkind‘ erwächst, sondern die dem Konstruktionsprozess der Hilfsschulen zugerechnet wird. Die biologistische Positionierung des Hilfsschulkindes wird indessen c) zurückgewiesen zugunsten eines professionsbezogenen Argumentes. Und nach wie vor ist die Hilfsschulgründung d) Resultat der Anstrengung ‚großer Männer‘, die einmal in ein wohltätiges Licht (Ellger- Rüttgardt, 2008) und einmal in ein eher sozialdarwinistisches Licht (Hänsel & Schwager, 2004) getaucht werden. Insofern erscheint auch e) die Gründungszeit entweder als ‚Glanzzeit‘ oder als ‚verhängnisvoller Irrtum‘. Gruppe behinderter Menschen Entstehung Hilfsschulkind Typologie Hilfsschulkind Akteure der Hilfsschulgründung Epochisierung Überhistorisch Schulproblem Sozioökonomisch, schulorganisatorisch, professionspolitisch Sozialdarwinistisch orientierte ‚große‘ Männer Niedergang sozialistischer Ideale in der Entstehungszeit ausgehendes 19. Jh. Tab. 4 Argumentationslinien zur Hilfsschulgründung in Hänsel & Schwager (2004) VHN 3 | 2025 197 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG 4 Reduzierte sonderpädagogische Narrative Zurück zu Luhmann: „Was war das Problem, und wo ist es geblieben? “ (Horster, 1995). Das Problem erscheint offensichtlich in den hier vorgestellten Historiographien als die intentionale Verknüpfung von historiographischer Forschung und einem politischen Handlungsinteresse, das durch einen übergeordneten moralischen Standort legitimiert wird. Während Frenzel gewissermaßen als Zeitzeuge die Hilfsschulgründung in überhistorische Kontexte der schon immer da gewesenen ‚Behinderten‘ und ‚Schwachen‘ und den ihnen zugewandten Wohltätern in Konsolidierungsabsicht einschreibt, sind die Arbeiten von Möckel, Ellger- Rüttgardt und Hänsel und Schwager in einen bildungspolitischen Kontext gerückt, nämlich in die Frage der Legitimierung bzw. Delegitimierung der Sonderschule. Das Problem in diesen Historiographien ist also weniger die Hilfsschule selbst, sondern eine bildungspolitisch motivierte wirkungsvolle Erzählstrategie mit einem transzendentalen Standpunkt, mit dem sich eine moralische Bewertung der zuvor als Akteure markierten Personen begründet. Diesen transzendentalen Ort der Moral hatte Luhmanns Entwurf einer Systemtheorie m. E. zu Recht kritisiert, mit dem auch historische Forschung unmittelbar in politische Handlung zu überführen wäre. Und: Mit Luhmanns Theorie sozialer Differenzierung ließe sich auch eine solcherart akteurstheoretische Geschichtsschreibung aushebeln, die inzwischen vielfach als unzulässiger Historismus zurückgewiesen worden ist. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive gesehen setzen sich Personen und ihre Ideen nicht durch, weil sie besonders gut, human oder klug sind, sondern sie setzen sich durch, weil sie in einem gesellschaftlichen Kontext, der spezifisch koordiniert ist, Antworten für relevante Probleme liefern (vgl. auch Fleck, 1980, sowie Kuhn, 1970). Damit sind, so auch Lutz Raphael, der gemeinsam mit Tenorth für das DFG- Schwerpunktprogramm zuständig war, in dem die Arbeit von Ellger-Rüttgardt 2008 entstand, Ideen als „Deutungs- und Denkstile“ zu begreifen, die innerhalb von „Verbreitungs- und Kommunikationsprozessen“ wirksam werden und in „Wissens- und Wissenschaftsordnungen“ einmünden, weitgehend abstrahierend von einzelnen Personen (Raphael, 2006, S. 11). Und zu Luhmanns zweiter Frage: Wo ist das Problem geblieben? Die Frage nach der Legitimation der Sonderpädagogik stellt sich in einer Phase einer ungeheuren Expansion ihrer Klientel und Institutionalisierung in Deutschland derzeit nicht. Und ihre Legitimität wird gegenwärtig auch auf dem Seziertisch der Empirie geprüft - historische Forschung ist damit deutlich von einer vorab definierten Zielstellung entlastet. Gibt es aber überhaupt eine ‚richtige‘ oder ‚legitime‘ Geschichtsschreibung? Und gibt es eine Immunisierungsstrategie gegen die zuweilen als ‚gefällige Portraitmalerei‘ zu beschreibenden historischen Erzählungen? Und wie sähe eine Historiographie aus, die auf große Linien, Traditionen und heroische Einzelakteur: innen verzichtet? Ein erster Zugang wäre, das Erkenntnisinteresse an Forschungslücken oder lückenhafte Argumentationen zu knüpfen. Ein zweiter Zugang wäre, kritisch über die politische Indienstnahme von Forschungserkenntnissen zu reflektieren. Hierfür lässt sich die Perspektive des New Historicism heranziehen, der im Wesentlichen von Stephen Greenblatt begründet wurde. Dabei geht es um den Abschied von einer Wiedererzählung tradierter „Differenzierungen, Hierarchisierungen und Privilegierungen“ zugunsten des Aufsuchens neuer Dynamiken und der Frage nach der Zirkulation von kulturellen Gegenständen, Überzeugungen oder Dokumenten (vgl. Hebel, 1992, S. 333). Eine solche VHN 3 | 2025 198 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG bildungshistorische Optik erweitert die Interpretation von historischen Quellen zudem auch über das Textliche hinaus um einen diesen kulturell umwebenden Rahmen von Ereignissen (vgl. auch Asiner, 2020) sowie um den Blick auf die Art und Weise der Produktion von Wissen sowie auf dessen Materialität. Damit richtet sich der Blick nicht nur kritisch auf die bisherigen historiographisch vorgenommenen Konstellationen von Akteur: innen, Dingen und Wissen, sondern auch auf die Frage, welche Wissensnetze hiermit rekonstruiert werden können, die wiederum welches Wissen hervorbringen und stabilisieren. In Bezug auf die Hilfsschulgeschichtsschreibung wären hier verschiedene Ansatzpunkte denkbar: Wie verhalten sich nationale zu lokalen Aktivitäten? Welche Wissensbestände werden zur Konstruktion von Behinderung herangezogen, da der gemeinsame übergreifende Begriff ‚Behinderung‘ im deutschsprachigen Raum erst seit den 1960er Jahren etabliert ist (Schmuhl, 2010)? In welchen institutionellen und theoretischen Referenzrahmen werden Behinderungskonstruktionen gestellt und welche Differenzordnungen liegen dem zugrunde? Welche Expert: innen können sich vor dem Hintergrund spezifischer Legitimationsstrategien an welchen Orten Gehör verschaffen und welches Wissen wird wie materialisiert und zirkuliert? Welche Wissensnetze, Wissensordnungen und Wissensregime sind hier beobachtbar und welche Akteur: innen sind beteiligt? An drei Beispielen kann diese Perspektive abschließend erläutert werden. Eine erste nimmt hier die Erzählung von Hänsel und Schwager auf, Georgens und Deinhardt hätten mit der Dokumentation ihres Erziehungsexperiments Levana die inklusive Pädagogik vorbereitet und sich damit gegenüber den Hilfsschulpädagogen positioniert, womit die Alternativlosigkeit der Hilfsschulgründungen in Zweifel gezogen werden soll: Damit wird der Untertanenerziehung im Kontext der Hilfsschule eine sozialistische Erziehungsidee erzähltechnisch beigestellt. Die vielbeachtete Arbeit von Christian Stöger (2017) spricht hier von einem „Levana-Komplex“, der verschiedentlich instrumentalisiert wurde: „Während Max Kirmsse am Beginn des 20. Jahrhunderts vorwiegend dem historischen Dekorationsbedürfnis einer unangefochtenen und expandierenden pädagogischen Spezialdisziplin genügen muss, stand Walter Bachmanns Beschäftigung mit Jan Daniel Georgens bereits unter dem Vorzeichen der Platz greifenden Legitimationskrise der Sonderpädagogik“ (Stöger, 2017, S. 20f.) Insbesondere die an die Selbmannsche (1982) Deutung anschließenden Positionierungen einer durch Georgens getriebenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den 1848ern im Sinne einer vorrevolutionären Lesart weist Stöger schlicht damit zurück, dass das zweibändige Werk „Die Heilpädagogik unter Berücksichtigung der Idiotie“ kaum Georgens und seiner Verbindung zu Fröbel als vielmehr Deinhardt als Hauptautor zugerechnet werden müsse. Dies habe erhebliche Konsequenzen für die Interpretation dieses Werkes, welches Stöger in den Kontext der demokratischen Bewusstseinsbildung, Theorie- und Bildungsarbeit einordnet (Stöger, 2017, S. 224 und S. 254) vor dem Hintergrund einer ausgearbeiteten radikaldemokratischen Theoriefolie. In diesem Zusammenhang rekonstruiert Stöger bei Deinhardt ein „demokratisches Erziehungswesen als vorpolitische Bedingung“ (S. 471), das jedoch bisher noch nicht detailgenau in der Analyse der „Heilpädagogik“ von 1862/ 63 nachgezeichnet wurde. Diese Arbeit stehe schlicht noch aus. Das zweite Beispiel entstammt dem DFG-Projekt „Profession und normative Ordnungen in der Entstehung der urbanen Hilfsschule: Die Modernisierung der Regierung des Sozialen“ (vgl. Moser & Frenz, 2022). Eine der Fragen, die hier untersucht wurden, war die immer wieder nachzulesende Hypothese, dass die VHN 3 | 2025 199 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG Gründung von Hilfsschulen den angestiegenen Leistungsanforderungen der Volksschule geschuldet sei, somit einer, wie u. a. Möckel und Ellger-Rüttgardt formulierten, schulbezogenen Problematik entstamme, was suggeriert, die Volksschule habe ein zentrales Problem schulschwacher Kinder aufgrund eigener Leistungsanforderungen und möglicher Selektionsanstrengungen diskursiv verhandelt. Diese, in der sonderpädagogischen Historiographie regelmäßig beschriebene Entlastungsfunktion der Volksschule, die die Hilfsschule hier leisten könnte, überzeugt bereits rein zahlenmäßig nicht: Denn wenn bis 1930 ca. max. 2 % der Schüler: innenschaft die Hilfsschule besuchten (vgl. Moser, 2016), bedeutet dies eine durchschnittliche Entlastung einer ca. 60 Kinder umfassenden Volksschulklasse durch maximal zwei Schüler: innen. Eine erste Suchstrategie war der zeitgenössische pädagogische Fachdiskurs, in welchem die Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung, das Verbandsorgan des Deutschen Lehrervereins, dem mehrheitlich Volksschullehrer angehörten, in Bezug auf die jeweiligen Aufsatztitel nach Begriffen systematisch analysiert wurde, in denen die Problematik „Schulschwache Schüler: innen“ adressiert wurde - mit vernichtendem Ergebnis: Von etwa je 100 Beiträgen im Untersuchungszeitraum 1852 bis 1914 befassen sich pro Jahr max. vier mit Themen von ‚Schwachbegabung‘, ‚Intelligenz‘, ‚Störungen durch Schwachbegabte‘, ‚Zensuren‘ als Selektionsinstrumente oder ‚Hilfsschulen‘. Damit ist die Thematik von Hilfsschulgründungen offenbar nicht als eine schulpädagogische im Kontext der Schulmänner des 19. Jahrhunderts aufzuspüren, sondern eher, wie sich in den lokalgeschichtlichen Analysen des Projekts zeigte, im Kontext von a) Transformationen des Anstaltswesens und b) kommunalen Entwicklungen des öffentlichen Schulsystems. Hierzu fanden sich im Vergleich von Berlin und Frankfurt höchst identische Verläufe: In Abb. 1 Beiträge zu hilfsschulbezogenen Themen in der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung 4 3 2 1 0 n Was ist Schwachbegabung? Intelligenz? n Störung durch Schwachbegabte/ unterschiedliche Niveaus? n Zensuren n Eine eigene Schule? Beide Perspektiven 1 8 5 2 1 8 5 4 1 8 5 6 1 8 5 8 1 8 6 0 1 8 6 2 1 8 6 4 1 8 6 6 1 8 6 8 1 8 7 0 1 8 7 2 1 8 7 4 1 8 7 6 1 8 7 8 1 8 8 0 1 8 8 2 1 8 8 4 1 8 8 6 1 8 8 8 1 8 9 0 1 8 9 2 1 8 9 4 1 8 9 6 1 8 9 8 1 9 0 0 1 9 0 2 1 9 0 4 1 9 0 6 1 9 0 8 1 9 1 0 1 9 1 2 1 9 1 4 VHN 3 | 2025 200 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG beiden Städten eruierten die Armenverwaltungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, welche potenziellen Schüler: innen in den Idioten-Anstalten auf Kosten der Kommunen untergebracht waren, um hier Empfehlungen auszusprechen, diese kostengünstiger ambulant in Nebenklassen der Volksschulen (Berlin) oder Hilfsschulklassen bzw. -schulen zu unterrichten. Begünstigt wurden diese Fragestellungen durch die Erfindung und ubiquitäre Nutzung der Statistik und den gleichzeitigen expansiven Schulhausbau der explosiv expandierenden industrialisierten Städte. In diesem Zusammenhang entstanden in beiden untersuchten Städten Hilfsschulen - in Berlin zunächst im Modell der Nebenklassen, vor dem Hintergrundrauschen des nationalen Diskurses um Hilfsschulen, ihrer Klientel und ihrer Lehrer: innenschaft. Hiermit findet sich auf kommunaler Ebene ein ökonomisches Motiv, das sich mit den Professionsinteressen der Hilfsschullehrer verknüpfte, das aber semantisch weniger am pädagogischen, als vielmehr am sozial-hygienischen und psychiatrischen Diskurs orientiert war. Hierfür ist nicht nur die Terminologie ‚Schwachsinn‘ ein Beleg, was in der bisherigen Historiographie auch regelmäßig beschrieben wurde, sondern auch die Herkunft der ersten Zeitschrift des 1898 gegründeten Verbands der Hilfsschullehrer Deutschlands aus dem psychopathologischen Diskurs der Kinderfehler. Die ordnungspolitischen und sozialhygienischen Fragen scheinen also schulpädagogische zu überlagern, denn, wie gezeigt, spielt die Hilfsschule im Kontext der Volksschule auf der Ebene der pädagogischen Debatte kaum eine Rolle. Als ein weiterer Beleg hierfür kann die öffentliche Präsentation der Hilfsschule auf der Internationalen Hygieneausstellung Dresden 1911 angeführt werden (vgl. Moser & Frenz, 2022). Das dritte Beispiel ist der Dissertationsschrift „Zwischen Anstalt und Schule“ von Jona Garz (2022) entnommen und betrifft die bereits oben beschriebene These, aus der Gruppe behinderter Menschen sei eine neue Gruppe der ‚Schwachsinnigen‘ sozusagen naturwüchsig entstanden. Nicht nur konnte bisher gezeigt werden, dass der Konstruktion des Behinderungsbegriffes eine Konstruktion von Seelenbzw. Gesamtseelenschwäche vorausging, sodass das Problem der Behinderung nicht als eine kognitive, sondern als eine moralische Problematik entfaltet wurde (vgl. Moser, 1998; Hoffmann, 2013), sondern auch, dass bis in die 1930er Jahre hinein unklar war, wer überhaupt hier zuzurechnen sei. Insbesondere betraf dies die Gruppe der sinnesbehinderten Menschen, die in den zeitgenössischen Kompendien wahlweise zugerechnet oder ausgeschlossen blieben. Interessant war aber im o. g. Forschungsprojekt, in dem auch die Arbeit von Jona Garz entstand, dass die eindeutige und unmissverständliche Aufzählung und Systematisierung von Differenzmerkmalen zwischen Volks- und Hilfsschüler: innen trotz anhaltender Anstrengungen nicht gelang. Insofern ist hier Jona Garz’ Entdeckung besonders wertvoll, dass die Konstruktion des Hilfsschülers nicht aus einer Vielfalt von Beschreibungen oder möglichen gemeinsamen Kernmerkmalen ableitbar war, sondern schlicht mit der Konstruktion eines Formulars, dem Personalbogen, bestimmt werden konnte. War man durch den Personalbogen, der nicht zwangsläufig vollständig ausgefüllt sein musste, erfasst, gehörte man zur Gruppe der Hilfsschüler: innen - die Form alleine bestimmt damit Identität. Vergleichbare Funktionen erfüllen nationale Identitätsausweise: Man muss nicht bestimmte Kernmerkmale einer Nation erfüllen (die wohl, außer einer gewissen nationalsprachlichen Kompetenz, ohnehin kaum bestimmbar sind), sondern man erhält die Identität über ein Formular, einen Ausweis. Mit diesen drei Beispielen lässt sich für die kleinen Forschungsfragen mit neuen Perspektiven und Erkenntnisinteressen werben, die nicht vorab im Dienste spezifischer Handlungsinteressen stehen, sondern sensitiv sind für VHN 3 | 2025 201 VERA MOSER Die sonderpädagogische Historiographie der Hilfsschule FACH B E ITR AG Materialien, Diskurse, Wissensnetze, -praktiken und -ordnungen, die zudem nicht nur aus Texten, sondern auch aus Wissenspraktiken und vielfältigen Materialien bestehen. Denn auch die sonderpädagogische Historiographie ist offensichtlich um ein Vieles differenzierter als eine Geschichte „toter weißer Männer“ (Howell & Prevenier, 2004, S. 181). Literatur Asiner, M. (2020). Stephen Greenblatt and the New Historicism. Amazon E-Book. Barlösius, E. & Ruffing, E. (2023). Drei Formen der Infragestellung der Bedeutsamkeit und Verlässlichkeit von wissenschaftlicher Expertise. NALhistorica Nr. 82, 25 -47. https: / / doi.org/ 10.261 64/ leopoldina_10_00841 Diehl, P. (2015). 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Im Rahmen von acht Fördereinheiten entdecken, erforschen und erproben die Kinder in einer Kleingruppe unterschiedliche Tricks, die ihnen beim Lernen der Artikel helfen können. a www.reinhardt-verlag.de Das Baum, die Hase, der Auto? 2021. 96 Seiten. 25 Abb. 28 Tab. (978-3-497-02983-9) kt