motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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»Move on« - Bewegung in den Arbeitsalltag bringen
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Henrike Struck
Am Beispiel des Konzeptes »Move on« der WfbM (Werkstätten für Menschen mit Behinderungen) der AWO Dortmund werden Bewegungsangebote und Psychomotorik als »arbeitsbegleitende Angebote« für erwachsene Menschen mit komplexen Behinderungen vorgestellt. Neben Rahmenbedingungen und methodischen Hinweisen zur Zielgruppe verdeutlicht ein Stundenbeispiel Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Arbeitsförderung über psychomotorische Bewegungsangebote im Kontext der WfbM.
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[ 28 ] [ TiTelRubRik ] [ TiTelRubRik ] 1 | 2013 motorik, 36. Jg., 28-32, DOI 10.2378 / motorik2013.art03d © Ernst Reinhardt Verlag »Move on« - Bewegung in den-Arbeitsalltag bringen Bewegung und Psychomotorik als »arbeitsbegleitendes Angebot« im Kontext der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen Henrike Struck Am Beispiel des Konzeptes »Move on« der WfbM (Werkstätten für Menschen mit Behinderungen) der AWO Dortmund werden Bewegungsangebote und Psychomotorik als »arbeitsbegleitende Angebote« für erwachsene Menschen mit komplexen Behinderungen vorgestellt. Neben Rahmenbedingungen und methodischen Hinweisen zur Zielgruppe verdeutlich ein Stundenbeispiel Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Arbeitsförderung über psychomotorische Bewegungsangebote im Kontext der WfbM. Schlüsselbegriffe: Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM), Arbeitsbegleitendes Angebot, Psychomotorik, Erwachsene, komplexe Behinderung »Move on« - movement into the daily routine Movement and psychomotor intervention as »working process opportunity« in the context of the sheltered workshop for people with disabilities An example of the concept »Move on« of the AWO sheltered workshops Dortmund (workshops for people with disabilities) movement offers and psychomotor intervention as »work accompanying offers« for adult people with complex disabilities are presented. In addition to framework and methodological remarks to the target group, an example shows possibilities, but also limits of the employment promotion of psychomotor intervention in the context of the sheltered workshops. Key words: sheltered workshops, work accompanying offers, psychomotor interventions, adults, complex disabilities [ FACHFORUM ] [ 29 ] Struck • »Move on« - Bewegung in den-Arbeitsalltag bringen 1 | 2013 [ 29 ] Seit zwei Jahren wird im »Werkbereich« der Werkstätten der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Dortmund ein strukturiertes und umfassendes Angebot zur Bewegungsförderung und Psychomotorik durchgeführt. Der »Werkbereich« beschäftigt zurzeit 62 Menschen mit komplexen (schwersten und mehrfachen) Behinderungen in sechs Gruppen mit unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten. Er wurde vor zwei Jahren um 36 Plätze erweitert. In diesem Zuge wurde der gesamte Bereich räumlich und konzeptionell umgestaltet. Dabei wurde dem Schwerpunkt »Bewegung als arbeitsbegleitendes Angebot« besondere Rechnung getragen. Begleitende Angebote sind im Werkstättengesetz verankert. Sie stellen aus arbeitspädagogischer Sicht einen wichtigen Aspekt zur Erhaltung oder zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit bei Menschen mit Behinderungen dar. Im Bereich der Menschen mit komplexen Behinderungen machen Bewegungsangebote in dieser Werkstatt derzeit ca. 50 % der begleitenden Angebote aus. Hierdurch nehmen sie einen besonderen Stellenwert ein. Dem Werkbereich stehen momentan für Bewegungsangebote ein Bewegungsraum mit verschiedenen psychomotorischen Materialien, ein Snoezelenraum mit Tageslicht und eher bewegungsorientierten Angeboten (Bällebad, Vibrationsboard für Rollstühle etc.), ein Dunkelsnoezelenraum mit Wasserbett, Lichteffekten etc., ein Innenhof mit Rasenfläche und Nestschaukel der direkt neben der Werkstatt befindliche Park mit Wald sowie das Angebot eines Therapeutischen Reiterhofes, der zur Werkstatt gehört, zur Verfügung. Durch diese unterschiedlichen Umgebungen können vielfältige Bewegungsanreize geschaffen werden. Organisatorisch wird dieser Bereich durch eine Mitarbeiterin geleitet, die eine Fortbildung im Bereich Psychomotorik absolviert hat. Sie führt im Tagesverlauf einerseits unterschiedliche Angebote durch und organisiert andererseits die Belegung und Wartung der verschiedenen Räume sowie den Transport zum Reiterhof. Den Bewegungsraum nutzen derzeit täglich vier angeleitete Gruppen mit je vier bis sechs Teilnehmern. Der Arbeitstag beginnt mit einer »Frühsportgruppe«, an der sowohl Mitarbeiter mit sehr hohem Bewegungsdrang und häufig sehr herausfordernden Verhaltensweisen teilnehmen, als auch Mitarbeiter, die einer besonderen Aktivierung bedürfen und diese über Bewegung erfahren können. Im Vormittagsbereich finden dann jeweils zwei Gruppen statt, von denen eine den Schwerpunkt auf Angebote für Mitarbeiter der Arbeitsgruppe für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen legt. An einem Vormittag in der Woche fahren darüber hinaus zwei Gruppen zur Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd auf den Reiterhof. Im Nachmittagsbereich wird jeweils eine feste Snoezelengruppe durch die Fachkraft durchgeführt. An einem Nachmittag in der Woche existiert seit neustem eine »Rückenschule« durch einen externen Anbieter, an der Mitarbeiter mit und ohne Behinderung gemeinsam teilnehmen können. Insgesamt nehmen so ca. 90 Teilnehmer pro Woche die angeleiteten Angebote wahr, wobei einige Mitarbeiter täglich zum »Sport« gehen, andere einmal wöchentlich. Neben diesen festen Angeboten haben alle Gruppenleiter der Werkstatt die Möglichkeit, die freien Räume zu eigenen Angeboten mit ihrer Gruppe zu nutzen, so dass die Räume in der Regel durchgängig belegt sind. Die vorrangigen Förderziele aller Angebote liegen im Sinne der Arbeitsförderung im Bereich der Fein- und Grobmotorik sowie der Konzentration, der Anbahnung und Festigung sozialer Kontakte und der emotionalen Stabilisierung. Darüber hinaus werden für die Teilnehmer im jährlichen Personal- »Da kann man sich bewegen und das tut auch alles recht gut …« Dirk, 29 Jahre (erworbene Hirnschädigung durch Schädel-Hirn-Trauma), auf die Frage, warum er gerne zum »Sport« geht. Wie seine »Sportgruppenleiterin« heißt, fällt ihm zwar gerade nicht ein, wie so viele andere Dinge seit dem Unfall auch nicht, und zum Bewegungsraum im selben Gebäude würde er auch nicht selbständig finden. Aber dass die Bewegung ihm gut tut, und dass er Spaß daran hat, scheint fest in seinem Bewusstsein verankert zu sein. [ 30 ] [ 30 ] 1 | 2013 Fachforum entwicklungsgespräch individuelle Ziele für die begleitenden Maßnahmen vereinbart, über die die jeweilige Kursleitung durch die werkstattinterne Fördersoftware »life-concept« informiert wird. Die Resonanz sowohl durch die Mitarbeiter mit Behinderungen, als auch durch die Rückmeldungen der Gruppenleiter über die Steigerung Arbeitsfähigkeit zeigen, dass das umfassende Bewegungsangebot des Werkbereiches einen sinnvollen Ansatz zur Arbeitsförderung darstellt. Die folgenden Schilderungen geben einen Praxiseindruck davon, Bewegung in den Arbeitsalltag zu transportieren. Sechs Menschen aus verschiedenen Gruppen und mit sehr unterschiedlichen Behinderungen sind im »Sportraum« des Werkbereichs versammelt. Diverse Materialien bieten dabei Anreiz für variantenreiche Bewegungsanlässe. Zwei Studentinnen, die im Rahmen einer Lehrkooperation mit dem Lehrgebiet Bewegungserziehung und -therapie der TU Dortmund die Durchführung der Einheit übernommen haben, erzählen eine Geschichte zum Thema »Urlaub« und führen dabei durch verschiedene Stationen. Zunächst ist ein Teil der Mitarbeiter mit Behinderungen zurückhaltend, im Verlauf der Einheit verstärkt sich die Eigenaktivität und auch die Stimmung der Mitwirkenden hebt sich merklich. Zum Schluss sind alle bereit, sich auf eine gemeinsame »Entspannung« einzulassen. dieses Stundenbeispiel verdeutlicht einige wichtige Prinzipien in der arbeit mit erwachsenen Menschen mit Behinderungen: ■ Themen, Übungen und Materialien müssen erwachsenengerecht sein. Beispiel: »Spielgeschichten« werden von den Teilnehmern gerne angenommen, die Themen bewegen sich aber im erwachsenengerechten Bereich, z. B. »Arbeit«, »Urlaub«, »Spaziergang«, »Wetter«. ■ Der Schwierigkeitsgrad der Übungen muss sich auf Grund der unterschiedlichen Behinderungsformen gut differenzieren lassen. Beispiel: Eine Bank kann von einem Teilnehmer zum Balancieren benutzt werden, ein anderer Teilnehmer im Rollstuhl begleitet die Person z. B., indem sie gemeinsam ein Seil, Poolnudel etc. festhalten. ■ Aufgrund der teilweise geringen Eigenaktivität reicht der Anreiz durch Materialien häufig nicht aus, sondern muss zusätzlich verstärkt werden. Beispiel: Der Aufbau eines Bewegungsparcours allein reicht in der Regel als Anreiz nicht. Der gemeinsame Aufbau und das Mitbewegen des Gruppenleiters motivieren nach und nach die meisten Teilnehmer, sich am Parcours oder zumindest an Teilen davon zu versuchen. ■ Dem Verletzungsrisiko aufgrund individueller Konstitution und Behinderung muss insbesondere bei älteren Menschen Rechnung getragen werden. Beispiel: Aufgrund der geringen Bewegungsaktivität ist die Kraft-Gewicht-Relation der meis- Abb. 1: Urlaubsreise im Slalom Abb. 2: Das Zelt wird aufgebaut [ 31 ] Struck • »Move on« - Bewegung in den-Arbeitsalltag bringen 1 | 2013 [ 31 ] Stundenbild des Praxisseminars des Lehrgebiets Bewegungserziehung und -therapie der tu dortmund im Sommersemester 2012 1. die reisegruppe lernt sich kennen: Die Teilnehmer rollen sich einen Ball zu und nennen dabei ihren Namen. Dafür wird ein großer Gymnastikball benutzt, der auch für Rollstuhlfahrer gut erreichbar ist. Ziele: ■ Teilnehmer kennenlernen ■ Förderung der Auge-Hand-Koordination Material: ■ großer Gymnastikball 2. urlaubsanreise im Slalom (s. abb. 1): Die Teilnehmer fahren mit ihrem Rollstuhl oder auf einem Rollbrett im Slalom durch die Stäbe. Ziele: ■ Raumwahrnehmung, Raumorientierung ■ räumliches Denken ■ Umgang mit dem Rollstuhl oder dem Rollbrett Material: ■ Slalomstäbe 3. das Zelt wird aufgebaut (s. abb. 2): Ein Schwungtuch wird von allen Teilnehmern auf Zuruf auf und ab bewegt. Nach Absprache ziehen alle das Schwungtuch hinter sich und versammeln sich darunter. Ziele: ■ Gruppendynamik ■ Kraftdosierung ■ Greifen und Festhalten des Schwungtuches ■ Rhythmik Material: ■ Schwungtuch 4. Bergsteigen: Die Reisegruppe möchte einen Berg besteigen indem sie sich an einem festgeknoteten Tau an die Sprossenwand heranzieht. Ziele: ■ Förderung der Auge-Hand-Koordination ■ Greifen und Festhalten ■ Kraftdosierung, Einschätzung der eigenen Kraft ■ Körper-und Bewegungserfahrung ■ Materialerfahrung Material: ■ Tau (an Sprossenwand befestigt) 5. Lagerfeuer mit Musik: Die Reisegruppe lässt den Abend an einem Lagerfeuer mit Musik ausklingen. Hierfür wählt jeder Teilnehmer ein Musikinstrument aus. Ziele: ■ Förderung der Kreativität ■ Selbstwirksamkeit ■ Materialerfahrung ■ Rhythmik ■ Gruppendynamik Material: ■ Unterschiedliche Musikinstrumente 6. Steine aus dem Weg räumen: Die Teilnehmer möchten eine Wanderung machen, doch der Weg wird von Steinen blockiert. In einer langen Kette reichen sie sich die Steine (Bälle) von einer Seite auf die andere weiter. Ziele: ■ Gruppendynamik ■ Förderung der Handmotorik ■ Materialerfahrung (unterschiedliche Bälle) Material: ■ verschiedene Bälle 7. Entspannung: Zum Abschluss der Reise gönnen sich alle Teilnehmer eine entspannende Massage. Hierfür wählen sie ein Massagegerät aus und lassen sich bei gedimmten Licht und ruhiger Musik verwöhnen. Ziele: ■ Wahrnehmung des eigenen Körpers ■ Materialerfahrung ■ Entspannung Material: ■ Unterschiedliche Massagegeräte ■ Entspannungsmusik [ 32 ] [ 32 ] 1 | 2013 Fachforum ten Teilnehmer sehr ungünstig. Das eigene Gewicht kann häufig nicht abgestützt werden. Der Gleichgewichtssinn ist meist ebenfalls stark eingeschränkt. So stellt bereits das Laufen über weiche Untergründe eine Herausforderung dar. Das Ausschalten des visuellen Sinnes (z. B. durch Schließen der Augen) führt zu einem erhöhten Sturzrisiko. Generell gilt hier: »weniger ist mehr«, die körperliche Gesundheit der Teilnehmer und Unfallprophylaxe stehen an erster Stelle! abschließende anmerkung Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Arbeitsförderung durch Psychomotorik und Bewegung in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen gerade im Bereich der Menschen mit komplexen Behinderungen noch sehr wenig etabliert scheint. Literatur und Ausbildungskonzepte sind nach unserer Erfahrung eher auf die Arbeit mit jüngeren und weniger beeinträchtigten Zielgruppen ausgerichtet, so dass hier noch großes Entwicklungspotential für die Adaption psychomotorischer Konzepte besteht. Die Autorin Henrike Struck Sonderpädagogin, freiberufliche (Lehr-)Tätigkeit in verschiedenen psychomotorischen und erlebnispädagogischen Handlungsfeldern, seit 2000 hauptberuflich Bereichsleitung u. a. des »Werkbereiches« für Menschen mit komplexen Behinderungen der AWO Werkstätten Dortmund, Lehrbeauftragte der Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften Anschrift Henrike Struck TU Dortmund Fakultät Rehabilitationswissenschaften Lehrgebiet Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung Emil-Figge-Str. 50 D-44227 Dortmund h.struck@awo-werkstaetten.de Tel. ++49 (0)231/ 8475-989 a w Bewegte Themen bei Reinhardt Marion Esser: Beweg-Gründe Psychomotorik nach Bernard Aucouturier Mit einem Geleitwort von Walther Dreher 4., überarb. Auflage 2011. 111 Seiten. 32 Abb. (978-3-497-02252-6)
