eJournals motorik 36/1

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2013
361

Wissen kompakt: Ästhetische Bewegungserziehung

11
2013
Andrea Probst
Ästhetische Bewegungserziehung in einem pädagogischen Kontext zielt darauf ab, Menschen ästhetische Prozesse mittels Bewegung erfahrbar zu machen. Ästhetische Prozesse sind individuell geprägte Welterschließungsprozesse, die gleichbedeutend mit diskursiv-wissenschaftlichen Formen zu betrachten sind.
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[ 42 ] [ 42 ] Wissen kompakt: Ästhetische Bewegungserziehung Andrea Probst ästhetische Bewegungserziehung in einem pädagogischen Kontext zielt darauf ab, Menschen ästhetische Prozesse mittels Bewegung erfahrbar zu machen. ästhetische Prozesse sind individuell geprägte Welterschließungsprozesse, die gleichbedeutend mit diskursiv-wissenschaftlichen Formen zu betrachten sind. Im Bewegungsbereich werden häufig Sportarten wie Turnen, Tanzen, Rhythmische Gymnastik oder Eiskunstlaufen mit ästhetischer Erziehung verbunden. Also Sportarten, bei denen es darauf ankommt, sich anmutig und kunstvoll - eben ästhetisch - zu bewegen. »So gehören gerade im Sport die schönheitsästhetischen Auslegungen von Körper und Bewegung zu den traditionellen Ästhetikvorstellungen« (Röthig 1997, 152). Aber sowohl der Ästhetikals auch der Bewegungsbegriff sind bildungstheoretisch umfassender zu verstehen. Ästhetische Bewegungserziehung ist insbesondere in einem psychomotorischen und pädagogischen Kontext viel weitreichender. Ein Unterricht, der allein auf schönheitsästhetischen Vorstellungen basiert, schließt einen wichtigen Teil des kindlichen und menschlichen Wesens aus: nämlich sich mit Kreativität und Phantasie die Welt auf eigene Weise zu erschließen, abseits vorgegebener Normen. Nach einer kurzen Erläuterung beider Begriffe werden daraus im Folgenden handlungsleitende Ideen für die Bewegungspraxis abgeleitet. ästhetikbegriff Etymologisch stammt das Wort Ästhetik aus dem Griechischen: »aist h ētikós« meint »zur Wahrnehmung fähig«. Der Wortstamm bezieht sich also auf menschliches Wahrnehmen, was schönheitstheoretische Auslegungen von Ästhetik wesentlich erweitert. Baumgarten (1750 / 1983) etablierte in diesem Sinne die Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin. Er beschrieb seinerzeit als erster die Fähigkeit des Menschen zu einer Form der ästhetischen Erkenntnisgewinnung, die auf individuellen sinnlichen Wahrnehmungen basiert. Sie dürfe nicht vernachlässigt werden, da sie »das wissenschaftlich Erkannte dem Fassungsvermögen eines jeden einzelnen anpasst und die Verbesserung der Erkenntnisse über die Grenzen des deutlich Erkennbaren vorantreibt.« (Baumgarten 1750 / 1983, 2). Baumgarten legte den Grundstein zu der Erkenntnis, dass ästhetische, subjektive, wahrnehmungsbezogene Weltzugänge ebenso bedeutsam sind wie diskursiv-wissenschaftliche. Mit Welsch (1998) greift ein moderner Philosoph diesen grundsätzlichen Gedanken auf. Er betont die Verbindung und Korrelation beider Richtungen. Logos steht nicht gegen aiesthesis. Weder könnten Wahrnehmungen durch Reflexionen ersetzt werden, noch umgekehrt. Beide Bereiche sollten aufeinander einwirken und ermöglichten so Fortschritt. Geht man von humanistischen Bildungs- und Erziehungsidea- 1 | 2013 motorik, 36. Jg., 42-44 © Ernst Reinhardt Verlag [ TITELRUBRIK ] [ AUF DEN PUNK T GEBR ACHT ] [ 43 ] Probst • Ästhetische Bewegungserziehung 1 | 2013 [ 43 ] len aus, dann sollen Menschen befähigt werden, selbstbestimmt mit den Werten und Dingen der Welt umzugehen. Um wirklich selbstbestimmt handeln zu können, sind beide Formen des Weltzugangs nötig. Unsere Welt besteht nicht nur aus logisch erklärbaren Dingen und Sachverhalten. Wir brauchen auch den Teil von Welt, der unsere Sinnlichkeit, unsere Freude am Ausdruck und an individuellen, kreativen Denkprozessen beinhaltet. Individuelles Wahrnehmen ist die Grundlage ästhetischer Prozesse. Kreatives Denken, Gestalten und »Sich-Auszudrücken« sind elementare menschliche Bedürfnisse. Durch sie kann man sich selber erklären oder andere zum Denken, Handeln sowie Fühlen anregen. Eine Förderung ästhetischer Prozesse kann in vielen Lernbereichen geschehen. Im Rahmen von Bewegungserziehung oder Psychomotorik sollte sie eine Selbstverständlichkeit sein, wie der folgende Absatz zeigt. Phänomenologischer Körper und Bewegungsbegriff Der Körper und die Fähigkeit, sich zu bewegen, sind für den Menschen weit bedeutender als nur für die Möglichkeit, Sport zu treiben. Aus einer anthropologisch-phänomenologischen Betrachtungsweise lernen wir, dass der Mensch nicht nur seinen Körper hat, um rational gesteuert in der Welt zu handeln, wie es für den Sport nötig ist. Der Mensch ist gleichzeitig immer auch sein Körper, d. h. er existiert, fühlt und erlebt die Welt mit seinem Körper und definiert sich darüber (Merleau-Ponty 1976). Somit haben Körper und Bewegung eine wesentliche Bedeutung, um sich Welt zu erschließen und in ihr zu agieren. Ohne die Fähigkeit wahrzunehmen, wären wir in unserem Körper verhaftet und hätten keinerlei Bezug zu der uns umgebenden Welt. Ohne Bewegung könnten wir nicht in der Welt handeln. Im Bewegen werden Verhaltensmöglichkeiten entdeckt und ausprobiert - eben auch ästhetische Formen des Weltzuganges (Probst 2012). Somit ist die Bewegungserziehung ein ideales Feld, um ästhetische Prozesse zu initiieren. Allerdings nur, wenn man über einen sportiven Herangang hinausgeht und vom phänomenologischen Kern, dem »Sich-Bewegen« ausgeht, wie in der Psychomotorik üblich. Praxis ästhetischer Bewegungserziehung Ästhetische Prozesse gliedern sich in zwei Bereiche. Sie korrelieren miteinander und gehen ineinander über. Beide Bereiche kann man mittels Bewegung fördern. »Aiesthesis« bezieht sich auf die inneren Vorgänge ästhetischer Prozesse, das Wahrnehmen, Spüren und ästhetische Denken. Aus der Vielzahl an sinnlichen Eindrücken, die auf uns einströmen, wird individuell etwas Bedeutsames herausgefiltert und mit Sinn belegt. Auch prärationale Eindrücke, ohne kognitive Verarbeitung, sind an diesem Sinngebungsprozess beteiligt. Für die Bewegungserziehung bedeutet das, Menschen für ihren Körper und ihre Bewegungen zu sensibilisieren. »Ein Mensch, der seinen Körper wahr nimmt ist offen für Botschaften, die ihm leiblich übermittelt werden und kann adäquat handeln« (Probst 2012, 15). Grundlegend dafür ist zunächst eine Vorstellung von sich selber, seinem Körper und seinen Fähigkeiten. Im Unterricht sollten immer wieder Übungen zur Selbstwahrnehmung angeboten werden: »Wie groß bin ich, wie lang sind meine Beine, wie weit kann ich springen, usw.? « Anregungen für entsprechende Aufgaben und Übungen finden sich in der psychomotorischen Praxisliteratur. Außerdem sollten Bewegungssituationen angeboten werden, die den Übenden Gelegenheiten eröffnen, sie entsprechend ihrer Bedürfnisse zu gestalten oder umzugestalten, wie z. B. in der Bewegungsbaustelle (Miedzinski 2009). Wenn ein Kind z. B. eine Balanciermöglichkeit als zu schwierig bewertet, sollte ihm die Möglichkeit gegeben werden, sie so zu gestalten, dass sie der momentanen Wahrnehmung des eigenen Könnens entspricht, z. B. niedriger oder weniger wackelig. »Poiesis« wird der expressive Bereich ästhetischer Prozesse genannt. Hier werden die in einem aisthetischen Prozess gewonnenen Erkenntnisse und Gedanken veräußert. Sie werden anderen zugänglich gemacht, indem sie in [ 44 ] [ 44 ] 1 | 2013 auf den Punkt gebracht ein anderes Medium wie Sprache, Bewegung, Bilder etc. transformiert werden. »Es handelt sich um die Veräußerung von Ideen, die durch ästhetisches Denken im Inneren entstanden sind« (Probst 2008, 30). Der Mensch kann so etwas »Vorher-nicht-da- Gewesenes«, etwas Individuelles schaffen. Bewegung ist die Sprache des Leibes. Wie Sprache kann der Mensch sie zu seinen Zwecken gestalten und sich ausdrücken (Hildebrandt- Stramann / Probst 2006). Über die symbolische Funktion der Bewegung kann er sich Dinge erschließen, indem er sie leiblich darstellt. Damit ist dem Menschen etwas gegeben, was nur ihm zu Eigen ist. Im Bewegungsunterricht sollten Kinder (und natürlich auch Jugendliche und Erwachsene) durch Bewegungsaufgaben oder -angeboten immer wieder angeregt werden, mit Bewegung zu experimentieren und zu spielen. So erfahren sie, dass sie in der Lage sind, ihren Bewegungen selber Gestalt zu geben. Dabei entstehen neue, subjektiv als ungewöhnlich empfundene Bewegungen, die sich aus den gewohnten Bewegungsmustern herausheben und durch die man eine Wirkung auf ein Publikum erzielen kann und erzielen will. Damit einher geht eine Wertschätzung des Leibes und seiner Fähigkeit, sich zu bewegen, die über eine Wertung der rein äußerlichen Attribute, wie Größe, Haarfarbe, Gewicht, etc. hinausgeht (Probst 2007). Fazit Menschen erleben in der ästhetischen Bewegungserziehung ihre Kreativität und Individualität. Sie erfahren, dass Bewegung etwas subjektiv zu Formendes ist und eine Möglichkeit darstellt, etwas über sich selber zu erfahren. Sie entwickeln ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, das sie befähigt, sich in einer pluralisierten und überästhetisierten Lebenswelt zu positionieren, organisieren und präsentieren. Körper und Bewegung bekommen durch ästhetische Bewegungserziehung einen individuellen Sinn, der sich deutlich von einer funktionalisierten Bedeutung, wie sie im Wettkampfsport verankert ist, unterscheidet. Literatur Baumgarten, A. G. (1750): Aesthetica. Aus dem Lateinischen übersetzt von: Schweizer, H. R. (1983): Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Meiner, Hamburg Dudenredaktion (2001) (Hrsg.): Duden Herkunftswörterbuch Bd. 7. Etymologie der deutschen Sprache. Dudenverlag, Mannheim Merleau-Ponty, M. (1976): Phänomenologie der Wahrnehmung. 6. Aufl. Gruyter, Berlin Miedzinski, K. (2009): Die neue Bewegungsbaustelle. Lernen mit Kopf, Herz, Hand und Fuß. 2. Aufl. borgmann verlag, Dortmund Probst, A. (2012): Ästhetische Bewegungserziehung in Turnen, Tanz und Akrobatik. Limpert, Wiebelsheim Probst, A. (2008): Ästhetische Bildung und Bewegung - Bewegungstheater als methodisches Mittel zur Integration ästhetischer Bildung in den fächerübergreifenden Unterricht. Dr. Kovac, Hamburg Röthig, P. (1997): Pädagogische Reflexionen über Sport, Bildung und Ästhetik. In: Müller, E. (Hrsg.): Sportpädagogik in Bewegung. Institut für Sportwissenschaft, Salzburg, 143-160 Welsch, W. (1998): Ästhetisches Denken. Reclam, Stuttgart Die Autorin dr. andrea Probst Diplomsportlehrerin, Sportkultur- und Theaterpädagogin, Lehrkraft am Seminar für Sportwissenschaft der TU Braunschweig. Anschrift dr. andrea Probst TU Braunschweig Seminar für Sportwisssenschaft und Bewegungspädagogik Pockelsstr.11 D-38106 Braunschweig a.probst@tu-bs.de