eJournals motorik 36/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2013
362

Ziele einer Selbstkonzeptförderung von Kindern durch Bewegung

41
2013
Miriam Seyda
Bewegung wird ein besonderes Potenzial zugeschrieben, Kinder dabei zu unterstützen, ein positives Selbstkonzept zu entwickeln. In diesem Beitrag wird der Vorschlag unterbreitet, ­dabei auch den Realitätsbezug subjektiver Einschätzungen in der Förderung zu berücksich­tigen. Die Verbindung von Annahmen und Befunden zur Wirkung von Schulsport und psychomotorischer Förderung auf die Selbstkonzeptentwicklung von Kindern lässt darauf schließen, dass es möglich und sinnvoll ist, ein positives, aber realistisches Selbstkonzept auszubilden.
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[ 72 ] 2 | 2013 motorik, 36. Jg., 72-79, DOI 10.2378 / motorik2013.art05d © Ernst Reinhardt Verlag [ Fachbeitrag ] Ziele einer Selbstkonzeptförderung von-Kindern durch Bewegung Miriam Seyda Bewegung wird ein besonderes Potenzial zugeschrieben, Kinder dabei zu unterstützen, ein positives Selbstkonzept zu entwickeln. In diesem Beitrag wird der Vorschlag unterbreitet, dabei auch den Realitätsbezug subjektiver Einschätzungen in der Förderung zu berücksichtigen. Die Verbindung von Annahmen und Befunden zur Wirkung von Schulsport und psychomotorischer Förderung auf die Selbstkonzeptentwicklung von Kindern lässt darauf schließen, dass es möglich und sinnvoll ist, ein positives, aber realistisches Selbstkonzept auszubilden. Schlüsselbegriffe: Selbstkonzept, Entwicklung, Förderung, Realitätsangemessenheit, Schulsport, Psychomotorik, Kindesalter Intentions of promoting children’s self-concept through motor activity In motor activity lies the potential to help children to develop a positive self-concept. In this paper, it is suggested that the accuracy of self-assessment needs to be considered as well. The-connection of assumptions and research findings in two fields - physical education and psychomotor intervention - arrives at the conclusion, that it is possible and reasonable to help -children developing a positive, but also realistic self-concept. Key words: self-concept, development, promotion, realistic self-assessment, psychomotor intervention, physical education, childhood [ 73 ] Seyda • Ziele einer Selbstkonzeptförderung 2 | 2013 Bewegung hat Potenzial zur Förderung des Selbstkonzepts. Das Selbstkonzept ist ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeit (u. a. Asendorpf, 2007). Aus einer kognitionspsychologischen Sichtweise heraus umfasst es »die Gesamtheit der (mehr oder minder stabilen) Sichtweisen, die eine Person (…) von sich geformt hat« (Filipp 1980, 107). Diese subjektiven Sichtweisen, welche auf Erfahrung beruhen, entwickeln sich ein Leben lang und beeinflussen das Handeln eines Menschen, da sie z. B. darauf Einfluss nehmen, wie Situationen gedeutet werden und welches Verhalten daraus resultiert oder welche Ziele man sich steckt (u. a. Montada 2002, 51). Aufgrund seiner Bedeutsamkeit stellt sich die Frage, wie das Selbstkonzept vor allem in frühen Phasen der Entwicklung gefördert werden kann und welches Ziel dabei zu verfolgen ist. Insbesondere bewegungsorientierte Kontexte nehmen sich dieser Aufgabe an, da dem Medium Bewegung ein besonderes Potenzial zugeschrieben wird, einen förderlichen, positiven Einfluss auf die Selbstkonzeptentwicklung von Kindern zu haben. So findet sich die Aufgabe der Selbstkonzeptförderung z. B. in curricularen Vorgaben für den Schulsport in der Grundschule, die sich u. a. aus dem ersten Aspekt des Doppelauftrags »Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport« ergibt (MSWWF NRW 1999, XXV). Ebenso stellt das Selbstkonzept auch im Rahmen psychomotorischer Konzepte einen »Schlüsselbegriff« dar (u. a. Fischer 2009; Seewald 1997; Zimmer 2006). So heißt es bei Zimmer (2006, 77): »Eine wesentliche Aufgabe der psychomotorischen Förderung liegt in der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und der Verbesserung der motorischen Fähigkeiten des Kindes. Ebenso wichtig ist jedoch die Stärkung seines Selbstbewußtseins«. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, was das explizite Ziel einer bewegungsorientierten Förderung der Selbstkonzeptentwicklung von Kindern sein kann und sollte. Zur Beantwortung wird der Fokus auf zwei bewegungsorientierte Kontexte im Kindesalter gelegt: den Schulsport in der Grundschule und die psychomotorische Förderung. Letztere kann allerdings auf ganz unterschiedlichen theoretischen Konzepten fußen (u. a. Fischer 2009, 193 ff ), was sich vor allem in der methodischen Vorgehensweise und beim Therapeutenverhalten zeigen kann (ebd., 239). Wenn im Folgenden von psychomotorischer Förderung gesprochen wird, dann steht dies stellvertretend für verschiedene Konzepte, deren gemeinsames Ziel es ist, über Bewegung die Gesamtpersönlichkeit und damit auch das Selbstkonzept von Kindern zu fördern (ebd.). Im Folgenden wird der Versuch unternommen, Begründungslinien, Annahmen und Befunde zu dieser Thematik aus sportpädagogischpsychologischer Perspektive, d. h. sowohl mit Blick auf Arbeiten aus dem sportpädagogischen als auch psychologischen Bereich zur Förderung des Selbstkonzepts, mit jenen aus psychomotorischer Perspektive zu vergleichen und zu verbinden. Die gemeinschaftliche Betrachtung beider Kontexte liegt vor allem deswegen nahe, da sowohl in curricularen Vorgaben des Grundschulsports als auch in den verschiedenen psychomotorischen Konzepten der Förderungsgedanke besonders betont und eine individuelle Entwicklungsperspektive auf die Kinder angelegt wird (zu einer möglichen Verhältnisbestimmung von Schulsport und psychomotorischer Förderung u. a. Seewald 2000; 2008). Ein weiterer gemeinsamer »Nenner« liegt darin, das primäre Ziel der Selbstkonzeptförderung in der Unterstützung eines möglichst positiven Selbstkonzepts zu sehen, was oftmals damit gleichgesetzt wird, dass subjektive Einschätzungen über sich selbst möglichst hoch ausfallen sollen. Eine erfolgreiche Förderung des Selbstkonzepts durch Schulsport wird z. B. daran festgemacht, dass eine Ausweitung des Schulsports zu einem möglichst hoch ausgeprägten, positiven Selbstkonzept führen sollte (u. a. Seyda 2011). In der psychomotorischen Förderung wird die Ausbildung eines positiven Selbstkonzepts explizit als Ziel formuliert (u. a. Zimmer 2006; Fischer 2009; Quante 2010). Mit Blick auf die aktuelle sportwissenschaftliche Diskussion um das Ziel der Selbstkonzeptförderung durch Bewegung wird in Anlehnung an Helmke (1998) postuliert, [ 74 ] 2 | 2013 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis eher ein »realistisch-optimistisches Selbstkonzept« zu fördern (für den Schulsport u. a.: Seyda 2011; Schmidt/ Conzelmann 2011). Auch für die psychomotorische Förderung könnte die Erweiterung um den Realitätsbezug fruchtbar sein. Dazu werden zunächst theoretische Grundlagen für das mittlere Kindesalter gelegt. Selbstkonzeptentwicklung im mittleren Kindesalter Das Selbstkonzept wird als kognitive Repräsentation verstanden (Filipp 1980). Das heißt, dass subjektive Sichtweisen, über welche sich eine Person selbst definiert, in einem komplexen System selbstbezogenen Wissens abgelegt sind (Asendorpf 2007, 263). Jene Sichtweisen liegen in Form von Beschreibungen und Bewertungen vor. Diese Perspektive auf das Selbstkonzept unterscheidet sich dabei z. T. von derjenigen, welche auch affektive und konative Komponenten im Selbstkonzept verorten (hierzu u. a. Fischer 1996; 2009; Zimmer 2006). Die Entwicklung des Selbstkonzepts lässt sich bezogen auf die Struktur dieser Sichtweisen und ihren Inhalt (z. B. Fähigkeiten, Merkmale, Attribute) beschreiben. Grundlegend ist dabei die dynamisch-interaktionistische Sichtweise auf Entwicklung (u. a. Conzelmann 2008, 52). Diese betont eine wechselseitige und lebenslange Beeinflussung von Individuum und Umwelt und schreibt dem Individuum eine aktive Rolle im eigenen Entwicklungsprozess zu. Hinzu kommt, dass Entwicklung als Veränderung subjektiver Einschätzungen auf einem Kontinuum von niedrig / negativ bis hin zu hoch / positiv verstanden werden kann, welche differentiell (also z. B. bezogen auf einen allgemeinen Entwicklungstrend) zu beschreiben ist (hierzu auch Seyda 2011, 55 ff ). Auf struktureller Ebene besteht das Selbstkonzept aus verschiedenen Facetten, in denen Erfahrungen aus unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Inhalten in generalisierter Form vorliegen (Shavelson et al. 1976): als generelle Bewertung der Person (generelles Selbstkonzept bzw. Selbstwertgefühl), als Fähigkeitseinschätzungen im kognitiven Bereich (akademisches Selbstkonzept) und als subjektive Sichtweisen zu emotionalen Zuständen (emotionales Selbstkonzept), zu sozialer Eingebundenheit (soziales Selbstkonzept) und zum Körper, bezogen auf physische Fähigkeiten und wahrgenommene Attraktivität (Körperkonzept bzw. physisches Selbstkonzept). Diese skizzierte Struktur des Selbstkonzepts bildet sich im Kindesalter maßgeblich dadurch aus, dass Kinder aus Wirksamkeits- und Kompetenzerfahrungen erste Ableitungen über sich selbst und ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten vornehmen können (Harter 1983). Darüber hinaus können Kinder unterschiedliche Quellen nutzen, die ihnen Aufschluss über sich selbst, ihre Fähig- und Fertigkeiten geben (Filipp 1979). Im Kindesalter sind dies besonders direkte und indirekte Prädikatenzuweisungen durch andere Personen (z. B. Lob (direkt) oder unerbetene Hilfestellung (indirekt) und komparative Selbstzuweisungen, die z. B. aus Fähigkeitsvergleichen mit anderen gewonnen werden (detaillierter Seyda 2011). Die Verarbeitung dieser selbstbezogenen Informationen wird flankiert von kognitiven Entwicklungsprozessen, die Kindern mit zunehmendem Alter die Integration dieser verschiedenen Informationen in ihr eigenes Selbsturteil ermöglichen. Aus diesen Mechanismen ergibt sich die Annahme, dass Einschätzungen zum Selbstkonzept mit zunehmendem Alter realistischer werden, was auch mit einem abwärts gerichteten Entwicklungstrend der subjektiven Einschätzungen verbunden ist (Harter 1983). Bewegung als Entwicklungsfaktor des Selbstkonzepts Dass Bewegung eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung des Selbstkonzepts im Kindesalter hat, wird häufig mit Rückgriff auf Piagets Entwicklungstheorie (Piaget/ Inhelder 1972), bezogen auf die sensomotorische Phase, erklärt. Demnach erschließt sich das Kind über die Auseinandersetzung mit seinem Körper die Umwelt. Über die Erfahrung mit dem Körper entwickelt sich bis zum zweiten Lebensjahr zuerst das »existential self«, was auch als »Körper-Selbst« beschrieben werden kann und welches sich bereits in dieser frühen Phase bereichsspezifisch [ 75 ] Seyda • Ziele einer Selbstkonzeptförderung 2 | 2013 Bewegungsorientierte Kontexte halten wichtige selbstbezogene Informationen bereit. ausdifferenziert (Filipp 1980) sowie im weiteren Verlauf der Entwicklung die oben beschriebene Struktur annimmt. Gerade bewegungsorientierte Kontexte eröffnen die Möglichkeit, die für die Selbstkonzeptentwicklung im Kindesalter so bedeutsamen direkten Wirksamkeits- und Kompetenzerfahrungen zu machen (Harter 1983; Fischer 1996; Zimmer 2006), welche sich in der mittleren Kindheit vor allem auf die Entwicklung der Inhalte des Selbstkonzepts auswirken können (z. B. Fähigkeitsbeschreibungen und -bewertungen). In der sportwissenschaftlichen Auseinandersetzung rücken weiterhin Annahmen der sozialisierenden Wirkung von sportlicher Aktivität auf das Selbstkonzept in den Blick, die sich auf unterschiedliche Bereiche beziehen lassen. Nach Sonstroem und Morgen (1989) wirkt sich regelmäßige sportliche Aktivität vor allem auf das physische und generelle Selbstkonzept aus: Durch die sportliche Betätigung verbessern sich zunächst die Fitness und die motorischen Fertigkeiten. Die körperlichen Verbesserungen gehen auch mit Veränderungen in der Wahrnehmung eigener sportlicher Wirksamkeit, eigener physischer Fähigkeiten sowie eigener Attraktivität einher (physisches Selbstkonzept), welche zudem zu einer verbesserten Beurteilung der eigenen Person insgesamt (generelles Selbstkonzept) führen. Darüber hinaus halten bewegungsorientierte Kontexte, z. B. der Sportunterricht, wichtige selbstbezogene Informationen bereit, die in die Beurteilung eigener Fähigkeiten integriert werden. Überträgt man die Annahmen von Filipp (1979) auf den Sportunterricht, können aus dem Lösen bzw. Nicht-Lösen von Bewegungsaufgaben verschiedene selbstbezogene Informationen gewonnen werden: z. B. indem die Lehrkraft eine Rückmeldung zur Lösung der Bewegungsaufgabe gibt oder indem Kinder erfahren, wie gut sie die Bewegungsaufgabe im Vergleich zu anderen Kindern lösen können, wie sie dieselbe Bewegungsaufgabe nach einer Woche lösen können und / oder wie sie eine Bewegungsaufgabe im Vergleich zu einer anderen lösen können (Seyda 2011; Zimmer, 2006). Ebenso sind in Bewegungssituationen auch Informationen zur sozialen Stellung innerhalb der Gruppe enthalten (dazu auch Gerlach 2008). Bewegungssituationen können also Anforderungen schaffen, deren Bewältigung bzw. Nicht-Bewältigung sich auch auf die verschiedenen Selbstkonzeptfacetten auswirken. Betrachtet man den Forschungsstand für das mittlere Kindesalter zu der Frage, ob sich Grundschulsport positiv auf das Selbstkonzept auswirkt, lässt sich festhalten, dass für den Forschungszeitraum der letzten 35 Jahre eher wenige Effektstudien vorliegen, die mittels Kontrollgruppendesign die Wirkungen einer Ausweitung von Schulsport fokussieren. Insgesamt können fünf Studien ausgemacht werden, die über einen Zeitraum von 10 Wochen (2 Studien), einem Jahr (2 Studien) und 4 Jahren (1 Studie) den Schulsport auf bis zu fünf Stunden in der Woche ausgeweitet haben (im Überblick Seyda, 2011). Die Ergebnisse daraus zeigen, dass trotz einer z. T. auch inkonsistenten Befundlage moderate, positive Wirkungen auf das physische und generelle Selbstkonzept festgestellt werden können. Ein ähnliches Bild zeichnet sich ab, wenn man Effektstudien zur Wirkung psychomotorischer Förderung auf das Selbstkonzept von Kindern heranzieht. Kiphard (1990) verweist in einem Forschungsüberblick des Zeitraums von 1975 bis 1990 auf insgesamt fünf kleinere Studien, in denen zwar Tendenzen einer Verbesserung des Selbstkonzepts durch eine mehrwöchige psychomotorische Förderung festgestellt werden konnten, wobei nicht immer berichtet wird, welche Bereiche des Selbstkonzepts betrachtet wurden (in drei Studien war es das generelle Selbstkonzept). Er fügt aber hinzu, dass methodische Mängel die Aussagefähigkeit eingrenzen. Zudem wird oftmals auf die Kontrolle durch eine Vergleichsgruppe verzichtet. Zimmer (2006, 164 ff ) kann in ihrer Studie - ebenfalls ohne Kontrollgruppe - nachweisen, dass signifikante, positive Zusammenhänge zwischen motorischen Kompetenzen und dem Selbstkonzept bei 5bis 7-jährigen Kindern bestehen. Diese Zusammenhänge werden während und nach einer 6-mona- [ 76 ] 2 | 2013 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Kinder mit »Entwicklungsauffälligkeiten« können am stärksten von sportlicher Aktivität profitieren. tigen psychomotorischen Förderung signifikant enger. Zimmer legt ihrer Untersuchung allerdings ein globales Messinstrument zugrunde, in welchem mit je einem Item zehn verschiedene Bereiche über eine Fremdeinschätzung erfasst werden (ebd., 113 ff ), die sie zu einem Wert zusammenfasst. Fünf dieser Items lassen sich auf das Selbstkonzept im Sinne von Shavelson et al. (1976) beziehen (generelles und soziales Selbstkonzept), die anderen thematisieren Neugier, Stimmung, Selbstkontrolle, Aktivität und Umgang mit Misserfolg. Somit ist es schwierig, ihre Ergebnisse in die skizzierte Befundlage einzuordnen. Ob die Ursache der Verbesserung vornehmlich in der psychomotorischen Förderung liegt, bleibt ebenso offen. Weitere Effektstudien lassen sich m.W. nicht ausmachen. Ergebnisse aus Effektstudien zum allgemeinen Zusammenhang von sportlicher Aktivität und Selbstkonzept legen darüber hinaus den Schluss nahe, dass gerade Kinder mit »Entwicklungsauffälligkeiten« im emotionalen und kognitiven Bereich oder sozial Benachteiligte - auch aufgrund ihres geringen generellen Selbstkonzepts - am stärksten von sportlicher Aktivität profitieren, worauf sechs Studien aus den Jahren 1978 bis 1985 hindeuten (Gruber 1986, 33 ff ). Ein realistisches Selbstkonzept als-Ziel der Förderung Bis zu diesem Punkt kann festgehalten werden, dass das Ziel einer Selbstkonzeptförderung in bewegungsorientierten Kontexten sowohl in theoretischer Begründung als auch in empirischer Forschungslogik darin gesehen wird, ein möglichst hohes, positives Selbstkonzept auszuprägen. Verbindet man die Festlegung des Ziels einer Selbstkonzeptförderung mit der Frage danach, welche Ausprägung des Selbstkonzepts für die Entwicklung des Kindes insgesamt günstig erscheint, also auch bezogen darauf, wie funktional unterschiedliche Selbstkonzeptausprägungen für andere Entwicklungsbereiche sind, ergibt sich eine Erweiterung der Perspektive. In der Lernpsychologie wird die Auffassung vertreten, dass eher eine realistische Sicht auf eigene Fähigkeiten auszubilden ist. Demnach müssen Fähigkeitseinschätzungen von Kindern im kognitiven Bereich immer auch daraufhin betrachtet werden, wie nah oder entfernt sie von der kognitiven Leistung sind. Es geht also um die Realitätsangemessenheit des Selbstkonzepts (Helmke 1998), die sich dadurch ausdrückt, inwieweit subjektive Fähigkeitseinschätzungen tatsächlichen Leistungen (Realität) entsprechen. Forschungsergebnisse für die Entwicklungsphase des Kindesalters ergeben, dass sich starke Über- und Unterschätzung kontraproduktiv auf die Lern- und Leistungsentwicklung auswirken, während realistisch-optimistische Einschätzungen eigener Fähigkeiten günstige Voraussetzungen für das kognitive Lernen darstellen (Helmke 1998). Dabei ist das Leistungsniveau der Kinder nicht außer Acht zu lassen, da eine realistische Sicht auf niedrigem Leistungsniveau ebenso wie starke Über- und Unterschätzung problematisch erscheinen, weil sie mit psycho-sozialen Belastungen verbunden sind (Fend 1997). Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es auch für bewegungsorientierte Kontexte wichtig sein kann, die Perspektive auf die Selbstkonzeptentwicklung von Kindern um den Grad bzw. die Güte ihrer subjektiven Einschätzungen zu erweitern und sich differenzierter mit der Realitätsangemessenheit zu beschäftigen. Die wenigen sportpädagogisch-psychologischen Untersuchungen zu dieser Thematik konzentrieren sich bisher auf den physischen Teil des Selbstkonzepts (Fähigkeitseinschätzungen). Ein Grund liegt in der Bedeutsamkeit des physischen Selbstkonzepts für das Selbstwertgefühl (Harter 1983). Darüber hinaus ist eine Übertragung lernpsychologischer Erkenntnisse auf den sportlichen Kontext mit Blick auf die physischen Fähigkeiten und das Bewegungslernen möglich (Seyda 2011). Hinzu kommt, dass sich die Realitätsangemessenheit des physischen Selbstkonzepts gut operationalisieren lässt, indem subjektive Fähigkeitseinschätzungen mit Ergebnissen motorischer Testverfahren, Sportnoten [ 77 ] Seyda • Ziele einer Selbstkonzeptförderung 2 | 2013 Förderung sollte sowohl an der motorischen Leistungsfähigkeit als auch an der subjektiven Sicht ansetzen. oder Einschätzungen von Lehrkräften / TrainerInnen - als Maß der tatsächlichen Leistung- - in Beziehung gesetzt werden: Je enger der Zusammenhang ausfällt, desto realistischer ist das physische Selbstkonzept. Aus den vorliegenden Untersuchungen lassen sich folgende Erkenntnisse für das Kindesalter zusammenfassen: Kinder schätzen ihre physischen Fähigkeiten zunehmend realistischer ein (Ahnert/ Schneider 2006). Allerdings bestehen Unterschiede im Ausmaß der realistischen Einschätzungen: Sie treten sowohl in Kombination mit niedrigem als auch hohem motorischem Leistungsniveau auf (Seyda 2011), zudem liegen auch starke Unterwie Überschätzungen vor (ebd.; Conzelmann et al. 2012). Die Erkenntnisse zur unterschiedlich ausgeprägten Güte physischer Fähigkeitseinschätzungen im Kindesalter sind gerade im bewegungsorientierten Kontext von Bedeutung. Z. B. können unrealistisch hohe Einschätzungen zu körperlicher Gefährdung sowie zu Problemen im sozialen Miteinander führen, insbesondere im Hinblick auf die soziale Akzeptanz durch andere (Schmidt/ Conzelmann 2011). Demgegenüber sind realistische Einschätzungen auf hohem motorischem Leistungsniveau günstig. Dass es möglich ist, im Sportunterricht realistische Einschätzungen zu fördern, zeigt die Interventionsstudie von Conzelmann et al. (2012). Perspektiven für die psychomotorische Förderung Sicherlich lassen sich die aufgeführten Befunde sportpädagogisch-psychologischer Forschung nicht undifferenziert auf den psychomotorischen Kontext übertragen. Obwohl es Gemeinsamkeiten gibt, treten auch wesentliche Unterschiede zwischen Schulsport und psychomotorischer Praxis auf. Im Sportunterricht wird vorwiegend mit großen, recht heterogenen Gruppen gearbeitet (u. a. im Hinblick auf motorische und psychosoziale Voraussetzungen). Psychomotorische Förderung findet in der Regel in kleineren Gruppen statt und der Fokus wird auf diejenigen gelegt, die Entwicklungsauffälligkeiten aufweisen und bei denen die Vermutung nahe liegt, dass sie über ein eher niedrig ausgeprägtes Selbstkonzept verfügen (s. o.). Aber auch für diese spezifische Gruppe von Kindern kann die Erweiterung der Perspektive um den Realitätsbezug für die Selbstkonzeptförderung hilfreich sein: zum einen, wenn es darum geht, Kinder entsprechend ihrer vorliegenden Einschätzung individuell und differenziert zu fördern und zum anderen, wenn es um das Ziel dieser Förderung-- ein positives, möglichst hoch ausgeprägtes Selbstkonzept - geht. Ein niedriges physisches Selbstkonzept kann damit verbunden sein, sich seiner physischen Defizite bewusst zu sein (realistisch auf niedrigem Leistungsniveau), oder damit, die eigenen physischen Leistungen zu unterschätzen. Beide Formen können gerade dann ungünstig sein, wenn es darum geht, sich eigenständig Bewegungsaufgaben auszuwählen und aus ihnen Wirksamkeits- und Kompetenzerfahrungen zu gewinnen. Kinder, die sich unterschätzen, wählen in der Regel zu leichte Aufgaben, aus denen heraus sie kaum stärkeres »Zutrauen« in die eigenen Fähigkeiten gewinnen können, und verfügen zudem über hohe Leistungsangst und geringe Kontrollüberzeugungen (Schmidt/ Conzelmann 2011). Eine Förderung ihres Selbstkonzepts durch Bewegung muss diesem Umstand Rechnung tragen und vor allem an der »Korrektur« der Selbsteinschätzung ansetzen. Bei Realisten mit niedrigem motorischem Leistungsniveau liegt eine Gefahr darin, dass sie sich entweder ihren Fähigkeiten entsprechende Aufgaben wählen, aber darum wissen, dass es sich um leichtere Aufgaben handelt, oder sie wählen zu schwere Aufgaben, um in ihrer negativen Sicht bestätigt zu werden. In beiden Fällen senkt dies die Möglichkeit von Wirksamkeits- und Kompetenzerfahrungen. Eine Förderung muss hier sowohl an der Verbesserung der motorischen Leistungsfähigkeit als auch an der subjektiven Sicht ansetzen. Dabei sollte es bei beiden Gruppen darum gehen, ein hohes, aber realistisches Selbstkonzept auszubilden und starken Überschätzungen [ 78 ] 2 | 2013 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis schon aufgrund des physischen Gefährdungspotenzials entgegenzuwirken. Eine Perspektive für die psychomotorische Förderung kann darin liegen, sich systematischer mit der Selbsteinschätzung von Kindern auseinanderzusetzen und expliziter das physische Selbstkonzept zu fokussieren. Dem Forschungsstand ist zu entnehmen, dass eine Förderung dieses Bereiches prinzipiell möglich ist, auch bezogen auf seine Realitätsangemessenheit. Um dies zu erreichen, ergibt sich die Herausforderung, im Vorfeld eine doppelte »Diagnose« vorzunehmen (wie motorisch leistungsfähig ist das Kind und wie schätzt es selbst seine Fähigkeiten ein), diese beiden Diagnosen aufeinander zu beziehen (Realitätsangemessenheit bestimmen) und darauf aufbauend eine individuell-differenzierte Förderung durchzuführen. Gerade in der psychomotorischen Förderung kann dies gelingen, da Therapeuten und Pädagogen, die in diesem Bereich arbeiten, über großes diagnostisches Wissen verfügen, eine individuelle Perspektive in der Förderung einnehmen und ein großer Fundus an Bewegungsarrangements vorhanden ist, die eigenständiges Lernen und Wirksamkeitserfahrungen ermöglichen (u. a. Zimmer 2006). Zudem liegen bereits ab dem frühen Kindesalter Befragungsinstrumente vor, die eine valide und reliable Selbsteinschätzung erlauben (zsfd. Seyda 2011). Daran schließt die weitere Perspektive an, die theoretisch wie auch praktisch plausiblen Möglichkeiten der Selbstkonzeptförderung durch Psychomotorik auch von empirischer Seite her auf ein tragfähigeres Fundament zu stellen. Damit kann der Weg geebnet werden, Kinder durch die psychomotorische Förderung darin zu unterstützen, ein hohes, positives Selbstkonzept zu entwickeln und die eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. Literatur Ahnert, J., Schneider, W. (2006): Selbstkonzept und motorische Leistungen im Grundschulalter - ein dynamisches Wechselspiel? In: Hosenfeld, I., Schrader, F.-W. (Hrsg.): Schulische Leistungen, Grundlagen, Bedingungen, Perspektiven. Waxmann, Münster 154-168 Asendorpf, J. B. (2007): Psychologie der Persönlichkeit. 4. Aufl. Springer, Berlin Conzelmann, A. (2008): Entwicklung. In: Conzelmann, A., Hänsel., F. (Hrsg.): Sport und Selbstkonzeptentwicklung. Struktur, Dynamik, Entwicklung. Hofmann, Schondorf, 45-60 Conzelmann, A., Schmidt, M., Valkanover, S. (2012): Persönlichkeitsentwicklung durch Schulsport. Theorie, Empirie und Praxisbausteine der Berner Interventionsstudie Schulsport (BISS). Huber, Bern Fischer, K. (2009): Einführung in die Psychomotorik. 3. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Fischer, K. (1996): Körpererfahrung und Identität als Grundbegriffe der Psychomotorik. Motorik 19 (3), 102-105 Fend, H. (1997): Schulleistung und Fähigkeitsselbstbild - Universelle Beziehungen oder kontextspezifische Zusammenhänge? Literaturrückblick. In: Weinert, F. E., Helmke, A. (Hrsg.): Entwicklung im Grundschulalter. Beltz, Göttingen, 359-388 Filipp, S.-H. (1980): Entwicklung von Selbstkonzepten. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 12 (2), 105-125 Filipp, S.-H. (1979): Entwurf eines heuristischen Bezugsrahmens für Selbstkonzept-Forschung: Menschliche Informationsverarbeitung und naive Handlungstheorie. In: Filipp, S.-H. (Hrsg.): Selbstkonzept-Forschung, Probleme, Befunde, Perspektiven. Klett-Cotta, Stuttgart, 129-152 Gerlach, E. (2008): Sportengagement und Persönlichkeitsentwicklung. Eine längsschnittliche Analyse der Bedeutung sozialer Faktoren für das Selbstkonzept von Heranwachsenden. Meyer & Meyer, Aachen Gruber, J. J. (1986): Physical activity and self-esteem development in children. A metaanalysis. In: Stull, G. A., Eckert, H. M. 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(1990): Entwicklungen und Perspektiven der Psychomotorik. In: Huber, G., Rieder, H., Neuhäuser, G. (Hrsg.): Psychomotorik in Therapie und Pädagogik. Borgmann, Dortmund, 173-219 Montada, L. (2002): Fragen, Konzepte, Perspektiven. In: Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. 5. Aufl. Beltz, Weinheim, 3-54 Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSWWF NRW) (1999): Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Ritterbach, Frechen Piaget, J., Inhelder, B. (1972): Von der Logik des Kindes zur Logik des Heranwachsenden. Essay über die Ausformung der formalen operativen Strukturen. Walter, Olten Quante, S. (2010): Bewegungsangebote zur Stärkung des Selbstkonzepts. Haltung und Bewegung 30 (4), 24-31 Schmidt, M., Conzelmann, A. (2011): Selbstkonzeptförderung im Sportunterricht. Eine psychologische Betrachtung einer pädagogischen Zielperspektive. Sportwissenschaft 41 (3), 190-201 Seewald, J. (2008): Entwicklungsförderung als neues Paradigma der Sportpädagogik? Sportwissenschaft 38 (2), 149-167 Seewald, J. (2000): Sportpädagogik und psychomotorische Bewegungserziehung - zwei Welten oder zwei Seiten? Sportwissenschaft 30 (4), 422-442 Seewald, J. (1997): Der »Verstehende Ansatz« und seine Stellung in der Theorielandschaft der Psychomotorik. Praxis der Psychomotorik 22 (1), 1-15 Seyda, M. (2011): Persönlichkeitsentwicklung durch Bewegung, Spiel und Sport. Die Bedeutung des Schulsports für die Selbstkonzeptentwicklung im Grundschulalter. Meyer & Meyer, Aachen Shavelson, R., Hubner, J., Stanton, G. C. (1976): Selfconcept: Validation of construct interpretations. Review of Educational Research 46 (3), 407-441 Sonstroem, R. J., Morgan, W. P. (1989): Exercise and self-esteem: Rationale and model. Medicine and Science in Sports and Exercise 21 (3), 329-337 Zimmer, R. (2006): Handbuch der Psychomotorik. 7.-Aufl. Herder, Freiburg i. Br. Dieser Beitrag durchlief das Peer Review. a w Unter Mitarbeit von Andrea Noe. 2007. 148 Seiten. (978-3-497-01893-2) kt Unter Mitarbeit von Andrea Noe. Psychomotorik „im Ansatz verstehen“ Mit diesem Werk liegt die erste umfassende Darstellung des Verstehenden Ansatzes vor - ein Muss für MotologInnen und MotopädInnen! Kinder mit ADHS werden von ihrer Umgebung oft als störend und ungeschickt wahrgenommen. Die Psychomotorik setzt jedoch bei den Stärken der Kinder an: Ihre Bewegungsfreude wird genutzt, um motorische Fähigkeiten zu erweitern, Unruhe und Impulsivität abzubauen sowie Kooperationsfähigkeit und Selbstbewusstsein zu stärken. Auch Eltern werden miteinbezogen, kommen mit ihren Kindern in Bewegung, lernen gemeinsam und genießen Momente der Entspannung.