eJournals motorik 36/4

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2013
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Das aktuelle Stichwort: Exekutive Funktionen

101
2013
Klaus Fischer
Anfänge und Zugänge. Seit mehr als einem Jahrzehnt tritt das Konstrukt der exekutiven Funktionen (EF) zunehmend in den Fokus der interdisziplinären Forschungen um die besondere Bedeutung von motorischer Handlungskompetenz für die Entwicklung des Kindes. Insbesondere im Vorschulalter sind EF oder Kontrollprozesse von zentraler Bedeutung für die kognitive, sozial-emotionale und motorische Entwicklung des Kindes und gelten sogar als bedeutsame Basisprozesse für den Schulerfolg (Röthlisberger et al. 2010; St. Clair-Thompson / Gathercole 2006). Es handelt sich dabei um mehrdimensionale Prozesse wie Handlungsplanung, Impulskontrolle und Aufmerksamkeitssteuerung, Planungsprozesse für die Sprachproduktion, Strategiebildung für Problemlöseverhalten (Kubesch 2007, 23). ­Bischof-Köhler (2000, 39, zit. n. Keller / Chasiotis 2008, 555) geht sogar so weit zu behaupten, dass es sich bei dem Konstrukt der exekutiven Funktionen um einen zentralen Baustein zur »­effizienten Handlungsorganisation« eines Erwachsenen handelt, der in der frühen Kindheit grundgelegt wird. Worum handelt es sich im Einzelnen und welche Themen ergeben sich für eine Vertiefung in der Theorie und die Anwendungspraxis? [...]
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[ 208 ] 4 | 2013 motorik, 36. Jg., 208-210, © Ernst Reinhardt Verlag [ Auf den Punkt GebrAcht ] Das aktuelle Stichwort: Exekutive Funktionen klaus fischer Anfänge und Zugänge Seit mehr als einem Jahrzehnt tritt das Konstrukt der exekutiven Funktionen (EF) zunehmend in den Fokus der interdisziplinären Forschungen um die besondere Bedeutung von motorischer Handlungskompetenz für die Entwicklung des Kindes. Insbesondere im Vorschulalter sind EF oder Kontrollprozesse von zentraler Bedeutung für die kognitive, sozial-emotionale und motorische Entwicklung des Kindes und gelten sogar als bedeutsame Basisprozesse für den Schulerfolg (Röthlisberger et al. 2010; St. Clair-Thompson / Gathercole 2006). Es handelt sich dabei um mehrdimensionale Prozesse wie Handlungsplanung, Impulskontrolle und Aufmerksamkeitssteuerung, Planungsprozesse für die Sprachproduktion, Strategiebildung für Problemlöseverhalten (Kubesch 2007, 23). Bischof-Köhler (2000, 39, zit. n. Keller / Chasiotis 2008, 555) geht sogar so weit zu behaupten, dass es sich bei dem Konstrukt der exekutiven Funktionen um einen zentralen Baustein zur »effizienten Handlungsorganisation« eines Erwachsenen handelt, der in der frühen Kindheit grundgelegt wird. Worum handelt es sich im Einzelnen und welche Themen ergeben sich für eine Vertiefung in der Theorie und die Anwendungspraxis? Die Anfänge lagen nach Zelazo und Müller (2011) in der neuropsychologischen Forschungsperspektive; diese verfolgte das Ziel, neurologische Strukturen kognitiver Prozesse mithilfe bildgebender Verfahren zu kartografieren, um atypische Entwicklungsprozesse identifizieren zu können (z. B. Wahrnehmungsstörungen oder ADHS). Heute herrschen eher kognitionswissenschaftliche, entwicklungspsychologische und pädagogische Forschungsperspektiven vor. In der Sache geht es um die Frage, welche Prozesse bei der bewussten Kontrolle von Gedanken und Handlungen vorherrschen. Auch die Motivstrukturen für Handlungen und ihre Regulationen werden zunehmend identifiziert. Drei Subkomponenten Exekutive Funktionen beinhalten eine Vielzahl komplexer kognitiver Prozesse, die für ein zweckmäßiges, zielgerichtetes und selbstreguliertes Verhalten entscheidend sind (Petermann / Toussaint 2009; Röthlisberger et al. 2010). Dazu zählen u. a. Fähigkeiten wie Impulskontrolle, Handlungsplanung und -initiierung, Entscheidung für Prioritäten, emotionale Regulation, Flexibilität in der Aufmerksamkeitssteuerung, motorische Steuerung, Fehleraufdeckung und Selbstkorrektur. Übereinstimmend wird in der Fachliteratur von drei unterscheidbaren, sich aber überlappenden Subkomponenten berichtet. In deutschsprachigen Beiträgen werden die Komponenten Arbeitsgedächtnis, Selbstregulation und kognitive Flexibilität unterschieden, während in angloamerikanischen Texten die Begriffe »updating«, »inhibition« und »shifting / switching« Verwen- [ 209 ] Fischer • Das aktuelle Stichwort 4 | 2013 dung finden (Denckla 2007; Kubesch / Walk 2009; Röthlisberger et al. 2010). Subkomponente »Arbeitsgedächtnis« Das Arbeitsgedächtnis dient dazu, phonologische und visuell-räumliche Informationen vorübergehend zu speichern und diese für komplexe kognitive Funktionen wie Sprache, Lernen, Schussfolgern, Handlungsplanung und räumliche Informationsverarbeitungsprozesse für zielgerichtetes Verhalten zur Verfügung zu stellen (Kubesch 2007, 25). Subkomponente »Selbstregulation« Unter Selbstregulation (Inhibition) wird die Steuerungsfähigkeit der Aufmerksamkeit und des Verhaltens verstanden, indem bestehende Impulse unterdrückt und auftretende Ablenkungsreize bei der angestrebten Zielverfolgung ignoriert werden. Dadurch können vorschnelle oder automatisierte Antworten unterdrückt, stattdessen selbstdisziplinierte Verhaltensweisen generiert werden. Subkomponente »kognitive Flexibilität« Die dritte Subkomponente der exekutiven Funktionen ist die kognitive Flexibilität, die auf dem Arbeitsgedächtnis und der exekutiven (inhibitorischen) Kontrolle aufbaut. Sie ermöglicht es einerseits, sich schnell auf neue Situationen und Anforderungen einstellen zu können und lässt andererseits variable situative Einschätzungen oder Betrachtungen von Personen und Zuständen zu. Exekutive Funktionen zwischen Entwicklung und Förderung In ihrem Überblicksbeitrag machen Röthlisberger et al. (2010) deutlich, dass das Konzept der EF mit mehreren Entwicklungsdimensionen verwoben ist. Neben Evidenzen hoher korrelativer Zusammenhänge »zwischen kognitiven und motorisch-koordinativen exekutiven Prozessen« (Röthlisberger et al. 2010, 103) mehren sich in jüngerer Zeit die Befunde, die die sozial-emotionalen Teilaspekte des Konstrukts mit motorischkörperlichen »Merkmalskonstellationen« des Kindes in Zusammenhang bringen. Für Bischof- Köhler (2011, 369 ff ) sind EF nicht von der Ontogenese der Selbstkontrolle zu trennen und damit als Baustein der Selbstkonzeptentwicklung des Kindes zu verstehen. Die empirischen Befunde untermauern eine wachsende Bedeutung der EF auch für Förderprozesse, etwa bei Kindern mit AD(H)S. Trotz der unterschiedlichen Erklärungsansätze hat sich in den letzten Jahren der Konsens verstärkt, »dass es sich bei ADHS weniger um eine Aufmerksamkeitsproblematik im engeren Sinne als vielmehr um eine Störung der selbstregulativen Fähigkeiten handelt« (Gawrilow et al. 2011, 43; für einen Überblick siehe Schlink/ Fischer 2012). Als Königsweg zur Förderung selbstregulativer Fähigkeiten bei differenziellen Entwicklungsverläufen bieten sich Zugänge über körperliche Aktivitäten an. So weisen Kubesch und Walk (2009, 316) in ihrem Überblicksbeitrag darauf hin, dass sich die Komplexleistung der EF insbesondere über motorische und spielerische Aneignungsprozesse entwickelt, da bei »der Ausführung von Bewegungsspielen vor allem die Entwicklung der kindlichen Selbstregulation gefördert wird«. Damit ist die Körperlichkeit im entwicklungspsychologischen und pädagogischen Denken (wieder) hoffähig geworden. [ 210 ] 4 | 2013 Auf den Punkt gebracht Literatur Bischof-Köhler, D. (2011): Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Kohlhammer, Stuttgart Denckla, M. B. (2007): Executive Function - Binding Together the Definitions of Attention-Deficit/ Hyperactivity Disorder and Learning Disabilities. In: L. Meltzer (Ed.), Executive Function in Education - From Theory to Practice. The Guilford Press, New York/ London, 5-18 Gawrilow, C., Schmitt, K., Rauch, W. (2011): Kognitive Kontrolle und Selbstregulation bei Kindern mit ADHS. Kindheit und Entwicklung, 20 (1), 41-48 Keller, H., Chasiotis, A. (2008): Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur. In: Hasselhorn, M., Silbereisen, R. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters. Hogrefe, Göttingen, 531-570 Kubesch, S. (2008): Das bewegte Gehirn. Körperliche Aktivität und exekutive Funktionen. Hofmann, Schondorf Kubesch, S., Walk, L. (2009): Körperliches und kognitives Training exekutiver Funktionen in Kindergarten und Schule. Sportwissenschaft, 4, 309-317 Petermann, F., Toussaint, A. (2009): Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern mit ADHS. Kindheit und Entwicklung, 18 (2), 83-94 Röthlisberger, M., Neuenschwander, R., Michel, E., Roebers, C. M. (2010): Exekutive Funktionen: Zugrundeliegende kognitive Prozesse und deren Korrelate bei Kindern im späten Vorschulalter. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 42 (2), 99-110 Schlink, P., Fischer, K. (2012): AD(H)S - im Gehirn oder im Körper? Die Entdeckung der exekutiven Funktionen. motorik 35 (3), 131-139 St. Clair-Thompson, H. L., Gathercole, S. E. (2006): Executive functions and achievements in school: Shifting, updating, inhibition, and working memory. The Quarterly Journal of Experimental Psychology 59 (4), 745-759 Zelazo, Ph. D., Müller, U. (2011): Executive Function in Typical and Atypical Development. In: Goswami, U. (Ed.): The Wiley-Blackwell Handbook of Childhood Cognitive Development. Wiley & Sons, Chichester UK, 574-603 Der Autor Prof. Dr. Klaus Fischer Univ.-Professor am Lehrstuhl für Bewegungserziehung und Bewegungstherapie der Humanwissenschaftlichen Fakultät (Universität zu Köln) Anschrift Prof. Dr. Klaus Fischer Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Dep. Heilpädagogik und Rehabilitation Gronewaldstr. 2a D-50931 Köln klaus.fischer@uni-koeln.de Anzeige