eJournals motorik 36/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2013
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Das aktuelle Stichwort: Selbstbildungsprozesse

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2013
Astrid Krus
Die Betrachtung von Bildung als Selbstbildung weist eine lange Tradition auf, die durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften (Becker 2010), die Empfehlungen des Forums Bildung (BMBF 2001) sowie die Ergebnisse der Delphi Studien (BMBF 1998) neue Impulse erhalten hat. Die Bildungsdebatte im Kontext der Kindheitspädagogik verfolgt neben der Diskussionslinie Bildung als Selbstbildung, vertreten durch Schäfer (2004a) und Laewen / Andres (2007), das stärker sozialkonstruktivistisch geprägte Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktionsprozess nach Fthenakis (2003). Als zentrale Differenzen zwischen beiden Positionen gelten die Bezugstheorien, der zugrundeliegende Bildungsbegriff sowie die Aufgabe und die Rolle der Pädagogen.
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[ 102 ] 2 | 2013 motorik, 36. Jg., 102-104 © Ernst Reinhardt Verlag [ Auf den Punkt gebrAcht ] Das aktuelle Stichwort: Selbstbildungsprozesse Astrid krus Die Betrachtung von Bildung als Selbstbildung weist eine lange Tradition auf, die durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften (Becker 2010), die Empfehlungen des Forums Bildung (BMBF 2001) sowie die Ergebnisse der Delphi Studien (BMBF 1998) neue Impulse erhalten hat. Die Bildungsdebatte im Kontext der Kindheitspädagogik verfolgt neben der Diskussionslinie Bildung als Selbstbildung, vertreten durch Schäfer (2004a) und Laewen / Andres (2007), das stärker sozialkonstruktivistisch geprägte Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktionsprozess nach Fthenakis (2003). Als zentrale Differenzen zwischen beiden Positionen gelten die Bezugstheorien, der zugrundeliegende Bildungsbegriff sowie die Aufgabe und die Rolle der Pädagogen. Selbstbildungsprozesse - Kerngedanken Schäfer definiert Selbstbildungsprozesse als »die Tätigkeit, die Kinder verrichten müssen, um das, was um sie herum geschieht, aufnehmen und zu einem inneren Bild ihrer Wirklichkeit verarbeiten zu können« (Schäfer 2004b, 7). Bildung beschreibt damit einen Prozess, der durch die selbsttätige Handlung des Kindes geprägt ist. Die aktive Auseinandersetzung des Individuums in seinem Entwicklungskontext ermöglicht die Konstruktion von Weltbildern und die Erfassung von Zusammenhängen. Durch die Selbsttätigkeit erschließt sich das Kind nicht nur die Eigenschaften des Umfeldes, sie ist zugleich ein Spiegelbild der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Das Kind erlebt sich im Kontext seiner personellen und materiellen Bezüge, erfährt Wirksamkeiten in der sozialen Interaktion sowie in der Bewältigung von Herausforderungen. Derart gestaltete Erfahrungsräume eröffnen Potentiale zur Entfaltung der eigenen Möglichkeiten und unterstützen zugleich die Entwicklung der eigenen Identität. Das Interesse des Kindes, die Motivation zur handelnden Auseinandersetzung wie auch die Verwertung der Erfahrungen ist daran gebunden, inwieweit die Umweltstrukturen für das Kind einen Sinn ergeben oder der Sinnfindung dienen. Die Einordnung und Bewertung neuer Erfahrungen ist damit unmittelbar an die Vorerfahrungen des Individuums gebunden. Die zentrale Aufgabe der Pädagogen besteht demzufolge nicht in der Vorgabe von Bildungsinhalten, sondern in der Begleitung des Prozesses als soziales Gegenüber. Eine differenzierte Beobachtung zur Erfassung der Vorerfahrungen und Handlungsmöglichkeiten des Kindes, die Gestaltung einer darauf abgestimmten, anregenden und sinnstiftenden Umwelt sowie emotionale Sicherheit sind die Kernaufgaben des Pädagogen, um kindliche Selbstbildungsprozesse zu aktivieren. [ 103 ] Krus • Selbstbildungsprozesse 2 | 2013 Selbstbildung im historischen Kontext Grell (2010) argumentiert, dass es in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion seit der Antike unumstritten ist, dass ein Individuum zum Lernen Interesse, Aufmerksamkeit und Bereitschaft zeigen muss und aktiv am Bildungsprozess beteiligt ist. Diskutiert wird hingegen, wie und in welcher Form diese Lerndispositionen geweckt bzw. unterstützt werden können. Der Philosoph John Locke (1632-1704) wies bereits auf die zentrale Bedeutung sinnlicher Erfahrungen für die individuellen Erkenntnisprozesse hin. »Nihil est in intellectu quod non (prius) fuerit in sensibus« (Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre) (Gudjohns 2008, 81). Er wendet sich damit gegen das Vorhandensein angeborener Ideen und sieht die Aufgabe der Pädagogen in der Schaffung sinnlicher Erfahrungsfelder, mit deren Hilfe Erziehungsziele verwirklicht werden können. Der Genfer Philosoph Jean Jaques Rousseau (1712-1778) relativierte diesen Erziehungsoptimismus und forderte stattdessen die Zurückhaltung des Erziehers zugunsten der Eigentätigkeit des Kindes. Die Aufgabe des Erziehers bestand nach Rousseau primär darin, die Umwelt so zu gestalten, dass dem Kind die handelnde Auseinandersetzung ermöglicht werde. Dieses dem Selbstbildungsprozess sehr nahe liegende Bildungsverständnis betont die innere Stärke und vorhandenen Potentiale eines Menschen, die es zu fördern gilt. Für die deutsche Bildungsdiskussion ist der Bildungsbegriff von Humboldt (1767- 1838) bis heute von hoher Relevanz, der in seiner »Theorie der Bildung des Menschen« (1793) Kritik am utilitaristischen Bildungsideal seiner Zeit äußerte und statt eines an der Verwertung orientierten Bildungsbegriffs die freie Entfaltung der inneren Kräfte des Einzelnen in den Vordergrund rückte. Eine vergleichbare Argumentationslinie verfolgen Laewen / Andres (2007), die Bildung primär als die Verwirklichung eigener Potentiale und die Konstruktion der inneren Welt ansehen und die Orientierung der Bildungsziele an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes kritisieren. Diese Ausrichtung der Bildung auf die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit und die Fokussierung auf die selbstbildenden Anteile formuliert von Hentig in seinem Verständnis der Humboldtschen Bildungstheorie: »Bildung sei die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt in wechselseitiger Ver- und Beschränkung harmonisch-proportionierlich entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität oder Persönlichkeit führen, die in ihrer Idealität und Einzigartigkeit die Menschheit bereichere« (von Hentig 1996, 40). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts orientierte sich Bildung primär an den Inhalten und Zielen der schulischen Bildung. Die Bildungsprozesse wurden dadurch zunehmend fremdbestimmt und die Aspekte der Selbstbildung deutlich vernachlässigt. Erst durch die Bildungsdiskussion in der Kindheitspädagogik haben sie wieder an Bedeutung gewonnen. Selbstbildungsprozesse im Kontext der Psychomotorik Die Selbsttätigkeit des Kindes als Motor der handelnden Auseinandersetzung mit der materiellen und personellen Umwelt sowie als Basis der Entwicklung des Selbst bildet ein Grundparadigma der psychomotorischen Arbeit, wie es bereits Kiphard 1987 formulierte und in den nachfolgenden Ansätzen (Zimmer 2000, Krus 2004) weiter ausdifferenziert wurde. Das auf Eleanor Gibsons Theorie basierende Verständnis von Wahrnehmung als Erkundungsaktivität und Differenzierungsprozess (Fischer 2009, 63 f ) setzt die sinnliche Wahrnehmung in den Fokus des Konstruktions- und Aneignungsprozesses der (Um-) Welt und sieht in der körperlichen und leiblichen Selbsterfahrung die Grundlage für die Herausbildung der eigenen Identität. Das Selbstkonzept (Haußer 1995), das auf dem situativen Erleben individueller körperlich / leiblicher Selbsterfahrungen beruht, das Selbstwertgefühl, welches die affektiv, bewertende Komponente des (Bewegungs-)Handelns umfasst wie auch die Erfahrung selbstwirksamer Aktivitäten (Kontrollüberzeugungen) dienen der Identitätsbildung. Psychomotorische Settings, die für das Kind sinngebende Strukturen aufweisen, eröffnen als Selbstbildungsangebote unmittelbare Möglich- [ 104 ] 2 | 2013 Auf den Punkt gebracht keiten der Umweltaneignung wie auch der Entfaltung der eigenen Potentiale und bilden damit den Kern kindlicher (Selbst-)Bildungsprozesse. Die Theoriekonzepte der Psychomotorik unterstützen die Bedeutung leiblich-ästhetischer Erfahrungen für Selbstbildungsprozesse. Damit verbunden ist ein Plädoyer, die Psychomotorik in der Bildungsdiskussion stärker zu berücksichtigen und nachhaltig zu verankern. Fazit Selbstbildungsprozesse sind ein elementarer Bestandteil kindlicher Bildung, was durch aktuelle Erkenntnisse der Neurowissenschaften gestützt wird und in der pädagogischen Tradition gut begründet ist. Gleichwohl dürfen auch die kritischen Stimmen in Bezug auf eine einseitige Fokussierung auf Selbstbildungsprozesse nicht unberücksichtigt bleiben. Zentrale Kritikpunkte beziehen sich dabei auf die Rolle der Pädagogen, die den Bildungsprozess nur begleiten, aber nicht initiieren. Kritiker (Gisbert 2004, Grell 2010) sehen eine große Gefahr darin, dass transitionsreiche Lebensphasen, in denen Pädagogen als Moderatoren fungieren, eine zu geringe Berücksichtigung finden. In Bezug auf die aktuelle Bildungsdebatte weitaus gravierender scheint die Kritik, dass Diversivität multikultureller Umfelder und Lebensformen sowie sozialökonomische Benachteiligung sich verstärkt negativ auf die Bildungsbiografien auswirken können, wenn keine gezielten Impulse gesetzt werden. Möglicherweise würden die Kinder erheblich benachteiligt, »die am meisten auf Unterstützung, gezielte Anregung und aktive Hilfen angewiesen sind« (Grell 2010, 164), da sie aufgrund fehlender Vorerfahrungen und deprivierender Umfeldbedingungen die freien Angebote nicht zur Entfaltung ihrer Möglichkeiten nutzen können. Literatur Becker, N. (2010): Hirnentwicklung und Lernen in der frühen Kindheit - Möglichkeiten und Grenzen neurowissenschaftlicher Forschung. In Leu, H. R. / von Behr, A. (Hrsg.): Forschung und Praxis der Frühpädagogik. Ernst Reinhardt, München / Basel, 26-38 Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (1998): Delphi-Befragung 1996 / 1998. Abschlussbericht. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2001): Empfehlungen des Forums Bildung. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn Fischer, K. (2009): Einführung in die Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München / Basel Fthenakis, W. E., Gisbert, K., Griebel, W., Kunze, H.- K., Niesel, R., Wustmann, C. (2003): Auf den Anfang kommt es an: Perspektiven für eine neuorientierten frühkindliche Bildung. Bildungsforschung Band 16, Berlin Gisbert, K. (2004): Lernen lernen. Beltz, Weinheim Grell, F. (2010): Über die (Un-)Möglichkeit, Früherziehung durch Selbstbildung zu ersetzen. Zeitschrift für Pädagogik, 2, 154-167 Gudjohns, H. (2008): Pädagogisches Grundwissen. Klinkhardt, Bad Heilbrunn Haußer, R. (1995): Identitätspsychologie. Springer, Berlin Hentig von, H. (1996): Bildung. Ein Essay. Carl Hanser, München Kiphard, J. (1987): Motopädagogik im Krippenalter. Motorik, 3, 85-90 Laewen, H. J., Andres, B. (2007): Forscher, Künstler, Konstrukteure. Cornelsen Skriptor, Berlin Krus, A. (2004): Mut zur Entwicklung. Das Konzept der psychomotorischen Entwicklungstherapie. Hofmann, Schorndorf Schäfer, G. (2004a): Bildungsprozesse im Kindesalter. Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit. Juventa, Weinheim Schäfer, G. (2004b): Die Bildungsvereinbarung NRW - Fragen und Antworten. Auf Augenhöhe mit dem Kind? . klein & groß, 4, 7-11 Schäfer, G. (2007): Bildung beginnt mit der Geburt. Ein offener Bildungsplan für Kindertageseinrichtungen in NRW. 2. Aufl. Cornelsen: Scriptor, Berlin Zimmer, R. (2000): Handbuch der Psychomotorik. Herder, Freiburg Die Autorin Prof. Dr. Astrid Krus Dipl.-Motologin, Professorin für das Fachgebiet Bildung und Erziehung in der Kindheit an der Hochschule Niederrhein, Leiterin des Kompetenzzentrums Kindheitspädagogik in Bewegung an der Hochschule Niederrhein, 1. Vorsitzende des Aktionskreises Psychomotorik Anschrift Prof. Dr. Astrid Krus Hochschule Niederrhein Richard-Wagner-Str. 101 D-41065 Mönchengladbach astrid.krus@hs-niederrhein.de