eJournals motorik 36/3

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2013.art11d
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2013
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Bewegter Schulweg?

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2013
Jürgen Kühnis
Der Schulweg bietet eine einfache und umweltschonende Möglichkeit, den täglichen Aktivitätsgrad von Kindern zu erhöhen. Im Rahmen dieser überregionalen Querschnittsstudie wurde die Schulwegmobilität von 157 Schulkindern der 5. Klassenstufe in Liechtenstein (FL) und 261 Schulkindern der 5. Klassenstufe im Kanton Schwyz (SZ) untersucht. Ziel dieser deskriptiven Analyse war eine möglichst realitätsnahe Erfassung und Quantifizierung der wöchentlichen Wegbewältigung mittels Schulwegprotokoll, Stoppuhr und geographischem Informationssystem (GIS). Insgesamt absolvierte die Mehrheit der Kinder (FL: 87,8 %; SZ: 91 %) ihren Schulweg körperlich-aktiv. Die Kinder trugen dadurch durchschnittlich 35 bzw. 37 Min. / Tag zur Erfüllung der offiziellen Bewegungsempfehlungen der WHO (> 60 Min. / Tag mit mittlerer bis hoher Intensität) bei.
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[ 138 ] [ Fachbeitrag ] 3 | 2013 motorik, 36. Jg., 138-144, DOI 10.2378 / motorik2013.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Bewegter Schulweg? eine Querschnittsstudie bei Primarschulkindern in Liechtenstein und im Kanton Schwyz Jürgen Kühnis 2 Der Schulweg bietet eine einfache und umweltschonende Möglichkeit, den täglichen Aktivitätsgrad von Kindern zu erhöhen. Im Rahmen dieser überregionalen Querschnittsstudie wurde die Schulwegmobilität von 157 Schulkindern der 5. Klassenstufe in Liechtenstein (FL) und 261 Schulkindern der 5. Klassenstufe im Kanton Schwyz (SZ) untersucht. Ziel dieser deskriptiven Analyse war eine möglichst realitätsnahe Erfassung und Quantifizierung der wöchentlichen Wegbewältigung mittels Schulwegprotokoll, Stoppuhr und geographischem Informationssystem (GIS). Insgesamt absolvierte die Mehrheit der Kinder (FL: 87,8 %; SZ: 91 %) ihren Schulweg körperlich-aktiv. Die Kinder trugen dadurch durchschnittlich 35 bzw. 37 Min. / Tag zur Erfüllung der offiziellen Bewegungsempfehlungen der WHO (> 60 Min. / Tag mit mittlerer bis hoher Intensität) bei. Schlüsselbegriffe: Schulwegmobilität, Bewegungsempfehlung, Primarschulkinder, Liechtenstein, Kanton Schwyz Active commuting to school. A cross-sectional study among 5th grade pupils in Liechtenstein and the canton of Schwyz Commuting to school provides an easy and environmentally friendly way to increase children’s daily physical activity. For the present cross-sectional study 157 of 5th grades in Liechtenstein (FL) and 261 pupils of 5th grades in the canton of Schwyz (SZ) were randomly selected. The aim of this descriptive analysis was to measure and to quantify weekly commuting to school as realistically as possible by using a daily protocol, stop watch and geographic information system (GIS). In summary, the majority of children (FL: 87,8 %; SZ: 91 %) were physically active commuting to / from school which represents an average of 35 resp. 37 min. / day of the WHO’s official activity recommendations (60 min. / day with moderate to vigorous physical activity). Key words: commuting to school, activity guidelines, primary school children, Liechtenstein, canton Schwyz 2 Im Projektteam mitgearbeitet haben: Anna Bürgler, Marino Britschgi, Flurin Dermon, Jolanda Imholz, Jeannine Marty, Simone-Rickenbacher, Michel Steffan, Beat Wachter und Marianne Zurfluh [ 139 ] Kühnis • Bewegter Schulweg? 3 | 2013 Viele der sich heute manifestierenden somatischen Beeinträchtigungen von Kindern haben ihren Ursprung im zunehmend bewegungsarmen Lebenskontext und werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in spätere Lebensabschnitte transferiert (Hills et al. 2007; Völker 2008). Besorgniserregend ist nicht nur die Persistenz ungesunder Verhaltensmuster, sondern vor allem die Tatsache, dass typische Lifestyle-Erkrankungen (z. B. Übergewicht und Haltungsschwächen) immer früher auftreten. Weltweit gelten bereits 43 Millionen aller Vorschulkinder als übergewichtig und bis zum Jahre 2020 wird ein Anstieg auf 60 Millionen prognostiziert (De Onis et al. 2010). In der Schweiz liegt die aktuelle Prävalenzrate bei 6-12-jährigen bei 18 % (Aeberli et al. 2010) und in Liechtenstein (5-14-jährige) bei 15,5 % (Kühnis / Erne 2012). Ein Großteil der nachwachsenden Generation bewegt sich heute zu wenig. In Europa erfüllen weniger als die Hälfte (Currie et al. 2008) und in der Schweiz lediglich 12,3 % der 11-15-jährigen (Kuntsche / Delgrande Jordan 2012) die offizielle Aktivitätsempfehlung von mindestens 60 Minuten pro Tag mit mittlerer bis hoher Intensität (WHO 2010). Einhergehend mit der reduzierten Alltagsaktivität werden vermehrt Haltungsdefizite festgestellt. In Deutschland liegt der Anteil haltungsschwacher Kinder zwischen 40-55 % (Dordel et al. 2005). In Liechtenstein wird bereits jedes 5. Primarschulkind ins Haltungsturnen empfohlen (Jehle / Kühnis 2011). Aus Public Health-Perspektive gilt das Schulalter deshalb als richtungsweisender Lebensabschnitt für die Entwicklung gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen (WHO 2008). Die Sensibilisierung der Kinder für einen bewegungsaktiven Lebensstil ist dementsprechend ein Kernanliegen der weltweiten gesundheitspolitischen Agenda (WHO 2010). Vor diesem Hintergrund bietet der Schulweg ein geeignetes Handlungsfeld, um den täglichen Aktivitätsgrad von Kindern zu erhöhen und zivilisationsbedingten Risikofaktoren (u. a. Übergewicht und Defiziten in der kardiorespiratorischen Fitness) protektiv entgegenzuwirken (Lubans et al. 2011; WHO 2008). Eine aktive Schulwegbewältigung fördert die Selbständigkeit und eröffnet zugleich wertvolle Körper-, Raum- und Sinneserfahrungen sowie soziale Interaktionen, die für eine ganzheitliche Entwicklung unerlässlich sind (Kühnis 2011; Limbourg 2009). Aufgrund dieser vielfältigen Bedeutungsebenen und als Bestandteil des kindlichen Lebensalltags bildet der Schulweg auch ein wichtiges Element einer gesundheitsfördernden Schule (u. a. www.schulebewegt.ch, www.schoolsforhealth.eu). Als Gesundheitsressource sowie zur Beurteilung des Bewegungsverhaltens von Kindern im Alltag ist der Schulweg deshalb von hoher Relevanz und bildet zugleich eine wichtige Orientierungsgrundlage für mögliche Interventionen. In der Schweiz existieren bislang nur wenige Studien (Kühnis 2012) und auch die Erkenntnislage im Kanton Schwyz (Zentralschweiz) und im Fürstentum Liechtenstein (Alpenrheintal) ist lückenhaft. Die vorliegende Studie verfolgt deshalb das Ziel, die Schulwegmobilität von Kindern der 5. Primarstufe in diesen fokussierten, ländlich geprägten Untersuchungsgebieten möglichst differenziert (Fortbewegungsart, Wegstrecke, Dauer, Distanz) und realitätsnah zu erfassen. Im Rahmen dieser Analyse soll insbesondere dargelegt werden, welchen konkreten Beitrag eine aktive Wegbewältigung zur Erfüllung der offiziellen Bewegungsempfehlungen leistet. Abb. 1: Kinder auf ihrem Schulweg [ 140 ] 3| 2013 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Methode Stichprobe, Ein- und Ausschlusskriterien Nach der behördlichen Genehmigung der Studie in beiden Untersuchungsgebieten wurde aus der jeweiligen Grundgesamtheit (Schulstatistik) aller 5. Klassen eine zufällige Klumpenstichprobe von 10 (Liechtenstein, N = 190) bzw. 15 Klassen (Kanton Schwyz; N = 292) gezogen. Die persönliche Anfrage und Information der betreffenden Klassenlehrpersonen erfolgte in Kooperation mit den lokalen Schulleitungen. Die freiwillige Teilnahme der ausgewählten Kinder setzte eine schriftliche Einverständniserklärung ihrer Eltern voraus. Die definitive Beteiligungsquote lag in Liechtenstein bei 83 %, im Kanton Schwyz bei 90 %. Die Charakteristika der beiden regionalen Stichproben sind aus Tab. 1 ersichtlich. Die Überprüfung der Repräsentativität (Chi-Quadrat-Test, p > .05) zeigte hinsichtlich Geschlechts- und Altersverteilung keine signifikanten Abweichungen zu den jeweiligen Vergleichsdaten der Grundgesamtheit. Datenerhebung und -analyse Die Datenerhebung wurde im Herbst des Schuljahres 2012 / 13 (im Zeitraum von acht Wochen) in beiden Teilgebieten parallel und anonymisiert durchgeführt. Die Untersuchung erfolgte im Klassenverband nach einheitlichem Ablaufplan. Jede Klasse wurde von einem Projektmitarbeiter betreut und jeweils zu Wochenbeginn in Gegenwart der Lehrperson in die Studie eingeführt. Im Rahmen einer Schulstunde wurde der standardisierte Kurzfragebogen (Erfassung soziodemographischer Aspekte, der Freizeitgestaltung sowie der Sportlichkeit der Kinder und ihrer Bezugspersonen) erläutert, von den Kindern ausgefüllt und die Handhabung des Schulwegprotokolls erklärt. Das Protokoll diente der Operationalisierung der Schulwegmobilität während einer Woche (tägliche Fortbewegungsart und Wegzeit, aufgeschlüsselt nach Hin- / Rückweg) und wurde bereits im Rahmen einer Pilotstudie erprobt (Kühnis et al. 2009). Zur Ermittlung der Wegzeit wurde jedem Kind eine digitale Stoppuhr (Typ Stoptec) ausgehändigt. Um die tägliche Aktualisierung des Protokolls sicherzustellen, wurden mehrere Reminder (persönliches Armband, Poster im Klassenzimmer, Infoblatt für zu Hause und täglicher Hinweis der Lehrperson) eingesetzt. Zur Erfassung der Distanz und des räumlichen Verlaufs der Wegstrecken haben die Teilnehmenden am letzten Testtag ihre persönlichen Schulwege auf einer Karte des Schuleinzugsgebietes eingezeichnet. Sämtliche Erhebungsbögen wurden am letzten Testtag vor Ort eingesammelt. Die Wegstrecken wurden mittels geographischem Informationssystem (ArcGIS 9.3) digitalisiert. Für die Ergebnisdeskription wurden nur vollständige Datensätze berücksichtigt (Tab. 2). Da die Voraussetzungen für parametrische Analysen bei den abhängigen Variablen nicht vollständig erfüllt wurden, kamen non-parametrische Verfahren zum Einsatz. Die Datenanalyse erfolgte mit SPSS (Version 21). Ergebnisse Wegstrecke und Dauer Die durchschnittliche Schulwegstrecke umfasste in Liechtenstein 943 m (Min. 104 m; Max. 7,1 km) und im Kanton Schwyz 973 m (Min. 91 m; Max. 4,3 km), wobei in beiden Untersuchungsregionen über 60 % der Schulkinder eine Wegdistanz unter einem Kilometer aufweisen (Tab. 2, Abb. 2). Im Durchschnitt wurde in Liechtenstein pro Schultag eine Gesamtdistanz von 3,3 km und im Kanton Schwyz von 3,4 km zurückgelegt. Abbildung 2 zeigt eine exemplarische Darstellung Geschlecht Alter Untersuchungsgebiete (UG) Total Mädchen Knaben MW+SD Liechtenstein (FL) 157 80 (51 %) 77 (49 %) 10.4 ± 0.5 Kanton Schwyz (SZ) 261 139 (53 %) 122 (47 %) 10.7 ± 0.7 Tab. 1: Stichprobenübersicht [ 141 ] Kühnis • Bewegter Schulweg? 3 | 2013 der digital erfassten Schulwege. Beim Absolvieren der persönlichen Wegstrecke waren die SchülerInnen in Liechtenstein durchschnittlich 10,4 Minuten (Hin- / Rückweg: 10,2 / 11,1 Min.) und im Kanton Schwyz 11 Minuten (Hin- / Rückweg 10,2 / 11,4 Min.) unterwegs, wobei jeweils 45 % der Kinder eine Wegzeit von unter 10 Minuten benötigten. Zwischen Knaben und Mädchen konnten sowohl innerhalb wie auch im überregionalen Vergleich der beiden Untersuchungsgebiete (UG) keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden. Art der Fortbewegung Die Mehrheit der untersuchten Kinder bewältigte ihren Ausbildungsweg körperlich-aktiv (Tab. 2), wobei in Liechtenstein 70,5 % und im Kanton Schwyz 67,1 % den Schulweg zu Fuß zurücklegten. Nur 12,2 % bzw. 9 % waren motorisiert/ teilmotorisiert (z. B. Kombination von zu Fuß und Bus) unterwegs. Die Wegstrecke wurde vorwiegend zusammen mit anderen SchülerInnen (FL: 66,2 %; SZ: 71,8 %) absolviert. Zwischen der Fortbewegungsart und der Entfernung zum Schulstandort zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang (p < .001): Kinder, die ihren Schulweg motorisiert/ teilmotorisiert bewältigten, hatten im Schnitt deutlich längere Wege (FL: 1,7 km; SZ: 2,5 km) als körperlich-aktive Kinder (FL: 828 m; SZ: 823 m). Von allen SchülerInnen, die innerhalb eines Kilometers zur Schule entfernt wohnten, absolvierten in Liechtenstein 94,6 % und im Kanton Schwyz 98 % ihren Schulweg aus eigener Muskelkraft. Bei einer Distanz über zwei Kilometer reduzierte sich der Anteil auf 0 % bzw. 13,3 %. In beiden Teilgebieten erfüllten Kinder mit einer körperlich-aktiven Wegbewältigung (FL: 35,5 Min. / Tag; SZ: 37 Min. / Tag) durchschnittlich 60-62 % der offiziellen Bewegungsrichtlinie (> 60 Min. / Tag); jede/ r 10. SchülerIn erfüllte die Empfehlung sogar zu 100 %. Diskussion Mit der vorliegenden Situationsanalyse wurde erstmals ein vertiefter Einblick in die Schulwegbewältigung von Fünftklässlern im Fürstentum Liechtenstein (FL, N = 140) Kanton Schwyz (SZ, N = 234) Parameter Total Mädchen Knaben Total Mädchen Knaben Distanz Wegstrecke (m) a 943 ± 693 963 ± 824 921 ± 522 973 ± 749 1002 ± 853 942 ± 618 Distanz / Tag (km) a 3.3 ± 2.4 3.4 ± 2.9 3.2 ± 1.8 3.4 ± 2.6 3.5 ± 3.0 3.3 ± 2.2 Distanz < 1 km b 66.9 % 68.1 % 65.7 % 64.5 % 67.2 % 61.6 % Dauer Wegzeit (min.) a 10.4 ± 4.6 11.1 ± 4.3 10.2 ± 5.2 11.0 ± 5.6 11.0 ± 6.4 11.0 ± 5.0 Dauer / Tag (min.) a 37.4 ± 17.2 39.0 ± 16.0 36.0 ± 18.3 38.2 ± 20.4 38.3 ± 23.2 38.2 ± 17.3 Fortbewegung Körperlich-aktiv b 87.8 % 88.9 % 86.6 % 91.0 % 88.5 % 93.8 % HPM / Tag c (min.) a 35.5 ± 16.1 38.3 ± 15.4 33.0 ± 16.3 37.0 ± 18.5 36.1 ± 19.5 37.4 ± 17.4 Tab. 2: Zusammenfassende Analyse der Schulwegmobilität a Mittelwert ± SD; keine sig. Gruppenunterschiede (Mann-Whitney-U-Test; p > .05) innerhalb und zwischen UG. b keine sig. Gruppenunterschiede (Chi-Quadrat-Test; p > .05) innerhalb und zwischen UG. c HPM = human powered mobility. [ 142 ] 3| 2013 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Liechtenstein (FL) und im Kanton Schwyz (SZ) eröffnet. Die Fokussierung dieser Schulstufe ist damit zu begründen, dass das Ende der Primarschulzeit eine wichtige Zäsur im Leben der Heranwachsenden darstellt; anderseits sprachen methodische Überlegungen (Anforderungsniveau der Erhebungsinstrumente) für diese Eingrenzung. Von allen eingeladenen Kindern haben 83 % (FL) bzw. 90 % (SZ) freiwillig an der Studie partizipiert; über die Verzichtsgründe von 17 % bzw. 10 % kann aufgrund der anonymisierten Erhebung nur spekuliert werden. Es ist zu berücksichtigen, dass die Schulwegdaten von einer Momentaufnahme im Herbst stammen und grundsätzlich je nach Erhebungszeitpunkt (Jahreszeit und Wetterlage) variieren können. Aufgrund des Querschnittsdesigns sind keine kausalen Interpretationen möglich. Um die Aussagekraft der vorliegenden Referenzdaten zu erhöhen und Entwicklungstrends abschätzen zu können, wäre die Initiierung eines regionalen Schulweg-Monitorings (z. B. im Turnus von 2 Jahren) wünschenswert. Die Erfassung der Schulwegdaten mittels Wochenprotokoll, Stoppuhr und Kartenblatt erwies sich als praktikables und altersadäquates Vorgehen. Im Gegensatz zur Befragung und der meist gerundeten Einschätzung der Wegdauer und -länge liefert diese Methodik sehr realitätsnahe Informationen für den Zeitraum einer Woche. Zudem erlaubt die computerunterstützte Visualisierung mit GIS einen konkreten Einblick in die Schulwegprofile. Da letztlich aber auch diese Daten auf der Selbstauskunft der Kinder beruhen, sind gewisse Verzerrungen nicht auszuschließen (Beneke / Leithäuser 2008). Insgesamt konnten im überregionalen Vergleich der Schulwegmobilität keine statistisch relevanten Unterschiede festgestellt werden. Aufgrund der ähnlichen Siedlungs- und Schulstrukturen mit primär dörflichem Charakter und ländlicher Prägung ist dieses Gesamtbild nicht überraschend. Zudem wurde in den letzten Jahren in vielen der untersuchten Gemeinden in die Schulwegsicherung (u. a. Schaffung sicherer Gehsteige, Temporeduktion, Einsatz von Verkehrslotsen) und Aktionsprogramme zur Förderung des Fußverkehrs investiert. Diese Standortfaktoren und die mehrheitlich kurzen Schulwege dürften maßgeblich zum erfreulich hohen Anteil der auf dem Schulweg körperlich-aktiven Kinder beigetragen haben. Gemäß gesamtschweizerischen Befunden lag die durchschnittliche Wegzeit von 10-12-jährigen Primarschulkindern im Jahre 2005 bei 12 Minuten, wobei 63,8 % ihren Schulweg zu Fuß und 13,8 % mit dem Fahrrad zurücklegten (Sauter 2008). Im Vergleich zu diesen nationalen Befunden konnte in der vorliegenden Studie (Tab. 2) eine etwas kürzere Wegzeit, ein höherer Anteil des Zufußgehens sowie eine regional abweichende Fahrradnutzung festgestellt werden. Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass diese Bewegungsaktivität auf Schweizer Schulwegen im Vergleich zu anderen europäischen Travel Surveys (wenngleich die Vergleichbarkeit aufgrund unterschiedlicher Erhebungsverfahren und Altersgruppen eingeschränkt ist) hoch ausfällt: Während in Skandinavien (Norwegen: 58 %; Finnland: 61 %) ebenfalls ein Großteil der 6-12-jährigen Schulkinder ihren Schulweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad absolviert (Fyhri et al. 2011), umfasst der motorisierte Transport bei 5-10-jährigen in Großbritannien (DfT 2012) bereits 49 % (43 % Auto; 6 % Bus). Heranwachsende benötigen vielfältige Bewegungsimpulse und ein Mindestmaß an täglicher Bewegung (WHO 2010). In beiden Untersuchungsregionen erfüllten Kinder mit Abb. 2: Digitales Wegnetzdiagramm (GIS) von vier Schulstandorten in Liechtenstein [ 143 ] Kühnis • Bewegter Schulweg? 3 | 2013 körperlich-aktiver Schulwegmobilität durchschnittlich 60-62 % der offiziellen Bewegungsempfehlung (> 60 Min. / Tag). Dieser Kernbefund unterstreicht die große Bedeutung des Schulwegs als tägliche Aktivitätsquelle und Handlungsfeld zur frühzeitigen Gesundheitsförderung. Eine körperlich-aktive Schulwegbewältigung eröffnet nicht nur »Schritt für Schritt« altersadäquate Bewegungsreize, sondern vor allem auch Raum für selbstverantwortliches und exploratives Handeln. In Übereinstimmung mit anderen Studien bildet die Distanz einen Schlüsselfaktor für eine aktive Wegbewältigung (Trapp et al. 2011; Panter et al. 2008). Ein gut erreichbarer Schulstandort sowie kindgerechte Wegnetze sind deshalb unabdingbar. Eine maßgebliche Rolle für die Schulwegmobilität von Kindern spielen zudem die mobilitätsbezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen (z. B. Sicherheitsdenken, Umweltwahrnehmung und Vorbildfunktion) ihrer Eltern (Trapp et al. 2011; Panter et al. 2008; Limbourg et al. 2000). Da sich Mobilitätsverhaltensmuster bereits im Sozialisationskontext des Vor- und Grundschulalters ausbilden, sind für die Förderung einer »human powered mobility« neben der Schaffung von attraktiven räumlichen Rahmenbedingungen deshalb bewusstseinsbildende Maßnahmen bei Kindern und ihren Bezugspersonen unerlässlich. Dies erfordert einen integrativen Ansatz und eine Beteiligung aller Akteure (Gemeinde, Schulen, Eltern, Kinder und Behörden). Dabei bietet die Schule ein geeignetes Setting, um Kindern und Eltern (z. B. im Rahmen von Projekttagen oder einer Zukunftswerkstatt) eine ganzheitliche Sichtweise zu eröffnen und sie für ein umwelt- und gesundheitsbewusstes Mobilitätsverhalten zu sensibilisieren. 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Arbeitsschwerpunkte: Bewegung und Gesundheitsförderung im Kindes- / Jugendalter, Bewegte Schule, Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Anschrift Prof. Dr. Dr. Jürgen Kühnis Pädagogische Hochschule Schwyz Zaystr. 42 CH-6410 Goldau juergen.kuehnis@phsz.ch Anzeige