eJournals motorik 37/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Fachforum: »Haben Sie heute wieder den großen Ball dabei?«

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2014
Helen Schneider
Psychomotorik kann den Alltag der Menschen, die in Altenpflegeheimen leben, bereichern. Sie schafft zugleich Bewegung und Begegnung und führt heraus aus straff strukturierten und oftmals immer gleichen Tagesabläufen hinein in einen Rahmen, der Platz bietet für gemein­sames Spiel, eigene Entscheidungen, Erfolgserlebnisse und Gemeinschaftsgefühl. Dieser ­Artikel beschreibt den Effekt des Riesenluftballons im Rahmen psychomotorischer Stunden in Altenpflegeheimen vor dem Hintergrund dieser Aspekte.
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[ 71 ] motorik, 37. Jg., 71-75, DOI 10.2378 / motorik2014.art13d © Ernst Reinhardt Verlag 2 | 2014 [ FachForum ] »Haben Sie heute wieder den großen Ball dabei? « Der Effekt des riesenluftballons in der psychomotorischen arbeit im altenpflegeheim helen Schneider Psychomotorik kann den Alltag der Menschen, die in Altenpflegeheimen leben, bereichern. Sie schafft zugleich Bewegung und Begegnung und führt heraus aus straff strukturierten und oftmals immer gleichen Tagesabläufen hinein in einen Rahmen, der Platz bietet für gemeinsames Spiel, eigene Entscheidungen, Erfolgserlebnisse und Gemeinschaftsgefühl. Dieser Artikel beschreibt den Effekt des Riesenluftballons im Rahmen psychomotorischer Stunden in Altenpflegeheimen vor dem Hintergrund dieser Aspekte. Schlüsselbegriffe: Psychomotorik im Altenpflegeheim, Riesenluftballon, eigene Entscheidungen, Erfolgserlebnisse, Gemeinschaftsgefühl »Do you have the big ball with you again today? « The effect of the giant balloon in the psychomotricity in nursing homes Psychomotricity can enrich the everyday life of people living in nursing homes. It creates the opportunity as much for movement as for social encounters, straying from strictly structured and constant daily routines, offering a place for a common game, individual decisions, feelings of success and a sense of community. This article focuses particularly on the effect of the giant balloon within psychomotricity activities in nursing homes in regard to these aspects. Key words: psychomotriciy in nursing homes, giant balloon, individual decisions, feelings of success, sense of community [ 72 ] 2 | 2014 Fachforum Wünsche aufgreifen und umsetzen Eine der wichtigsten Aufgaben der Psychomotorik in Altenpflegeheimen ist, die dort lebenden Menschen, soweit es ihnen noch möglich ist, in Entscheidungen, die sie selbst betreffen, einzubeziehen. Denn im oft straff durchstrukturierten institutionalisierten Tagesablauf eines Altenpflegeheims kann es geschehen, dass Entscheidungen, die den Bewohner direkt betreffen, über dessen Kopf hinweg getroffen werden. Deshalb sollte besonders die Psychomotorik, bewegt sie sich im Kontext Altenpflegeheim, die Einbeziehung der Bewohner in Entscheidungen ganz besonders fokussieren. Aus diesem Grund sind besonders Wünsche der Bewohner zur Stundengestaltung sehr willkommen, um diese aufzugreifen und umzusetzen. Wie dies geschehen kann, illustriert dieser Beitrag. Im Rahmen einer Bewohnergruppe, die sich in ihrem Altenpflegeheim bereits seit zwei Jahren einmal pro Woche zum psychomotorischen Angebot trifft, wurde geäußert, dass in einer anderen »Gymnastikgruppe« im Heim stets ein großer Luftballon verwendet werde, den man sich für die eigene Gruppe gern ausleihen würde. Aus diesem Wunsch heraus wurde die zuständige Mitarbeiterin des Hauses aufgesucht und um den Verleih des großen Luftballons gebeten. Dieser wurde daraufhin eine Woche später in das psychomotorische Angebot dieser Gruppe integriert. Dieser große Luftballon besteht aus einem üblichen Luftballonmaterial, lässt sich jedoch auf eine Größe von etwa 70 cm Durchmesser ausdehnen. Er befindet sich in einer bunten Stoffhülle, die das Greifen des Luftballons erleichtert. Er lässt sich so ideal verwenden, um selbst bei sehr heterogenen Gruppen mit unterschiedlich stark ausgeprägten körperlichen Einschränkungen zugleich Sach-, Ich- und Sozialkompetenz anzuregen. Handeln wird in der Psychomotorik immer ganzheitlich betrachtet, denn wird der erfolgreiche Umgang mit Gegenständen auf der Ebene der Sachkompetenz erlebt, stärkt sich auf diese Weise das eigene Selbstwertgefühl auf der Ebene der Ich-Kompetenz. Dieses gestärkte Selbstwertgefühl lässt sich wiederum als Basis betrachten, um sich selbst in einer Gruppe integrieren zu können und sich somit auf der Ebene der Sozialkompetenz zu bewegen (Hammer 2004, 46 f ). Ein Stundenbeispiel Diese Überlegungen lassen sich an einem kurzen Stundenbeispiel mit dem großen Luftballon anschaulich erklären. Die Stunde beginnt mit einem kurzen musikalischen Sitztanzeinstieg, der sich über die Jahre hinweg als Einstiegsritual herauskristallisiert hat und den Bewohnern die Möglichkeit bieten soll anzukommen. Dabei können sich alle Bewohner in der Gruppe so zum Takt bewegen, wie sie es selbst möchten. Einige wippen nur leicht mit dem Bein, andere bewegen rhythmisch die Arme, wieder andere, besonders die Herren der Runde, fassen die Damen auf dem Nachbarstuhl an den Händen und schunkeln gemeinsam im Takt. Dieser Einstieg schafft somit nicht nur einen Rahmen des Ankommens, sondern bietet die Möglichkeit der Erinnerung an alte Liedtexte, die oft synchron von einigen Teilnehmern mitgesungen werden. Der Einstieg bietet also das Erfolgserlebnis, sich an diese Texte noch zu erinnern und schafft einen Raum, um für sich selbst die Intensität der eigenen Teilnahme an dieser Einheit zu entscheiden. Es entstehen Begegnung und Beziehung zwischen den Bewohnern, indem sie sich gemeinsam dem Takt der Musik hingeben. Eisenburger schreibt dazu: »Musik hat eine ganz eigene Wirkung, nicht umsonst spricht man oft auch von dem »Königsweg«, wenn es um den Zugang zu in sich zurück gezogene Menschen geht. Musik berührt die Abb. 1: Luftballon im Kreis [ 73 ] Schneider • »Haben Sie heute wieder den großen Ball dabei? « 2 | 2014 Seele, sie motiviert, aktiviert und bringt jeden dazu, sich zu bewegen« (Eisenburger 2012, 101). Im Anschluss an diese Einstiegsphase kommt direkt der große Luftballon zum Einsatz. Die Bewohner erhalten zuvor noch den Hinweis, dass dieser Ballon zwar sehr groß, jedoch auch sehr weich ist und somit ein gegen Null tendierendes Verletzungsrisiko birgt. Weiterhin werden die Bewohner aufgefordert, den Ballon so zu befördern, wie sie es selbst möchten, z. B. mit den Händen, den Füßen, dem Kopf, es ist alles erlaubt, Hauptsache es macht Spaß und die Bewohner haben die größtmögliche Entscheidungsfreiheit, wie intensiv sie sich an der Einheit mit dem großen Luftballon beteiligen möchten. Sofort wird der große Luftballon munter durch die Runde befördert. Die Teilnehmer sitzen im Kreis, einige auf Stühlen, andere in ihren Rollstühlen. Bis auf zwei Bewohner, die noch selbstständig ohne Hilfsmittel gehen können, benötigen alle anderen Bewohner, die auf den Stühlen sitzen, einen Rollator. Dies zeigt die Heterogenität der Gruppe hinsichtlich deren körperlichen Einschränkungen. Der große Vorteil dieses Luftballons besteht darin, dass er alle Teilnehmer gleichermaßen anspricht. Während die physisch noch agileren Bewohner daran ihre Energie entladen, während sie den Luftballon zum Fußball umfunktionieren und außer gekonnten Tritten auch einige Kopfbälle spielen, erleben die Bewohner, die kaum noch Kraft in den Beinen haben, kleine Erfolgserlebnisse, indem der Luftballon selbst durch leichtes Berühren mit den Füßen wesentlich weiter rollt, als z. B. ein üblicher Fußball. Ebenfalls erstaunlich ist die Resonanz, die dieser Luftballon selbst bei stark apathischen, in sich zurückgezogenen Teilnehmern auslöst. So geschieht es bereits in der ersten Stunde, in der der große Luftballon zum Einsatz kommt, dass er von einem etwas agileren Teilnehmer mit großer Wucht in die Runde geworfen wird. Dabei wird eine Teilnehmerin, die bis dato kaum Reaktionen zeigte, von dem Luftballon am Kopf getroffen. In dem Moment, als der große Luftballon ihren Kopf trifft, ist die gesamte Gruppe für einen kurzen Moment erschrocken. Die getroffene Teilnehmerin fängt jedoch genau in diesem Moment, als der Luftballon ihren Kopf trifft, laut an zu lachen, packt den großen Luftballon, Abb. 2: Sitztanz Abb. 3: Luftballon, der mit den Füßen befördert wird Abb. 4: Luftballon trifft den Kopf einer Teilnehmerin [ 74 ] 2 | 2014 Fachforum hält ihn eine Weile in den Händen und wirft ihn schließlich noch etwas schwach, aber mit voller Aufmerksamkeit wieder in die Runde. Diese Situation ist besonders in Bezug auf die Leiblichkeit sehr interessant. Seewald schreibt dazu: »Im Erleben können wir die Grenzen unseres Körpers übersteigen. Gerade in diesem sogenannten Einleiben (Schmitz 1985) von Menschen, Dingen und Landschaften liegt eine Quelle der Fantasie. Es sind Momente und Situationen, in denen frühe Einheitserfahrungen der Verbundenheit mit allem reaktiviert werden« (Seewald 2007, 20). Weiter schreibt er: »In und durch Bewegung leiben wir uns die Welt ein. (…) Nur die durch Bewegung erfahrene und widerfahrene Welt wird greifbar und begreifbar« (Seewald 2007, 21). Durch die Wucht des großen Luftballons an ihrem Kopf und die anschließende Betrachtung, Berührung und Bewegung dieses Materials wurden offenbar die Grenzen des Körpers der Teilnehmerin überschritten. Es geschah ihrerseits eine Einleibung des Materials und ihrer Umgebung, die, so lässt die Situation vermuten, ihr eigenes »Ich« und die Welt (in dem Fall der Kontext der Gruppe mit weiteren Teilnehmern im Stuhlkreis) für sie greifbarer und begreifbarer erscheinen ließ. Gruppendynamische Prozesse Durch den Einsatz des großen Luftballons können faszinierende Gruppendynamiken entstehen. Nicht nur, dass sich aus dem spontan entstandenen Fußballspiel mit dem großen Luftballon der eine oder andere »Tor«- oder »Kopfball«-Ruf der agileren TeilnehmerInnen entwickelt. Sondern besonders erstaunlich ist auch die Art, wie sich die TeilnehmerInnen gegenseitig im Spiel einbeziehen. Wie beim ursprünglichen Fußball, der als eine Kennzeichnung des Mannschaftssports beinhaltet, dass die »stärkeren Spieler« die »schwächeren Spieler« mitziehen und unterstützen, so lässt sich diese gruppendynamische Verhaltensweise auch in diesem psychomotorischen Stundenbeispiel beobachten. So legt z. B. eine Teilnehmerin, die noch laufen kann, den großen Luftballon direkt vor die Füße einer Rollstuhlfahrerin, damit diese mit ihren Füßen den Ball erreichen kann. Ein anderer Teilnehmer, der seine Beine nicht mehr bewegen kann, lässt sich hingegen zu einem Kopfball hinreißen. Eine weitere Teilnehmerin achtet stets darauf, ihrem Sitznachbarn, der ebenfalls seine Beine nicht mehr bewegen kann und sehr in sich zurückgezogen wirkt, den Luftballon direkt in den Schoß zu legen. Sie hält den Ballon so lange fest, bis dieser den Luftballon langsam mit seinen Händen aufnimmt und ihn vorsichtig zu seinem Sitznachbarn auf der anderen Seite wirft. Diese exemplarischen gruppendynamischen Prozesse zeigen, wie in der Psychomotorik gegenseitiges Verständnis und Unterstützung untereinander entstehen können. Dieses Maß an Verständnis und Unterstützung ist in Gruppen mit alten und hochbetagten Menschen nicht zwingend voraus- Abb. 5: Luftballon, der von Teilnehmerin in den Händen gehalten wird Abb. 6: Gemeinschaftlichkeit [ 75 ] Schneider • »Haben Sie heute wieder den großen Ball dabei? « 2 | 2014 zusetzen. So neigen agilere TeilnehmerInnen manchmal gegenüber den weniger agilen TeilnehmerInnen zu ungeduldigen und Druck machenden Aussagen wie »Na mach schon« oder »Jetzt wirf endlich weiter«. Mit diesem Material geschehen solche Situationen auch in der hier vorgestellten Gruppe erfahrungsgemäß seltener als mit anderen Materialien, wie beispielsweise kleinen schwereren Bällen. Durch die Leichtigkeit des großen Luftballons entsteht selbst in den kleinsten Bewegungen der weniger agilen TeilnehmerInnen trotzdem viel Bewegung im großen Luftballon. Somit sind für die weniger agilen TeilnehmerInnen die Erfolgserlebnisse größer und die Ungeduld der wesentlich agileren TeilnehmerInnen geringer. Die in diesem Beitrag genannten Aspekte sind nur einige der Gründe, warum sich der Riesenluftballon aus meiner Erfahrung besonders für die Psychomotorik in Altenpflegeheimen eignet. Bei einem Einsatz in sehr heterogenen Gruppen ermöglicht er es, jede(n) in der Gruppe anzusprechen und zu aktivieren. Natürlich eignet sich der große Luftballon auch für eher homogene Gruppen unabhängig vom Mobilitätsgrad. Er eignet sich auch für Gruppen, die ausschließlich aus demenzerkrankten TeilnehmerInnen bestehen, da er aufgrund seiner Größe in der Stundengestaltung kaum zeitgleich mit anderen Materialen verwendet werden kann (Reizreduktion). Außerdem kann er ohne große Vorgaben in die Runde geworfen werden, was dazu führt, dass er nach Belieben der dementen TeilnehmerInnen durchaus auch zweckentfremdet bewegt und betrachtet werden kann. Somit lässt sich der Riesenluftballon als Material betrachten, das vor allem auch alte und hochbetagte Menschen anspricht, aktiviert, miteinander in Bewegung und Begegnung bringt und auf kreative und zugleich einfach Art und Weise diesen Menschen gemeinsames Spiel, eigene Entscheidungen, Erfolgserlebnisse und ein Gemeinschaftsgefühl ermöglicht. Literatur Eisenburger, M. (2012): Zuerst muss die Seele bewegt werden. 2. Aufl. modernes Lernen, Dortmund Hammer, R. (2004): Der kompetenztheoretische Ansatz in der Psychomotorik. In: Hammer, R., Köckenberger, H. (Hrsg.): Psychomotorik- - Ansätze und Arbeitsfelder. Ein Lehrbuch. modernes Lernen, Dortmund Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München / Basel Die Autorin Helen Schneider Sozialarbeiterin M. A., Zusatzqualifikation Psychomotorik und Sport in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern (Hochschule Darmstadt), aktuell Doktorandin an der Philipps- Universität Marburg, seit 2005 in der psychomotorischen Arbeit in Altenpflegeheimen tätig, seit 2007 als Referentin in diesem Themenbereich tätig Anschrift Helen Schneider Limburger-Str. 21 D-35638 Leun schneider-helen@freenet.de