motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2014.art08d
11
2014
371
Rezensionen: Joseph Richter-Mackenstein: Spielend gelöst. Systemisch-psychomotorische Familienberatung: Theorie und Praxis.
11
2014
Ulf Henrik Göhle
Das Buch beleuchtet zwei Denktraditionen und erschafft dabei einen Erkenntnisfortschritt, der mehr ist als die Summe der Teile. Das »kernhafte« Denken des »Verstehenden Ansatz«, bei dem es darum geht, eine Verbindung zum »Inneren« von Klienten aufzubauen, sowie das »netzhafte« Denken der systemischen Therapie, bei der die Verbindungen und Einflüsse zwischen den Individuen beleuchtet werden, bilden die zwei Pole, von denen aus der Autor eine höchst fruchtbare synthetische Beratungspraxis bildet.
7_037_2014_1_0009
[ 35 ] Medien & Materialien 1 | 2014 [ MEDIEN UND MATERIALIEN ] Rezensionen Joseph Richter-Mackenstein: Spielend gelöst. Systemischpsychomotorische Familienberatung: Theorie und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2012, 242 Seiten, 29,99 € (D) Das Buch beleuchtet zwei Denktraditionen und erschafft dabei einen Erkenntnisfortschritt, der mehr ist als die Summe der Teile. Das »kernhafte« Denken des »Verstehenden Ansatz«, bei dem es darum geht, eine Verbindung zum »Inneren« von Klienten aufzubauen, sowie das »netzhafte« Denken der systemischen Therapie, bei der die Verbindungen und Einflüsse zwischen den Individuen beleuchtet werden, bilden die zwei Pole, von denen aus der Autor eine höchst fruchtbare synthetische Beratungspraxis bildet. Durch den Fokus auf das bewegte Spiel im Kontext der Familie werden die beiden Ansätze auf eine Weise versöhnt, die zeigt, wie die neue Generation der Therapeuten und Wissenschaftler alte Grabenkämpfe weit hinter sich gelassen haben. Dies geschieht zugunsten einer modernen und kritischen Sensibilität gegenüber den zu helfenden Menschen und ihrem immer aktiven Beziehungsnetzwerk. Das Buch hilft den Blick zu erweitern, aber gleichzeitig innerhalb der Blickrichtungen scharf zu sehen: Wenn wir Menschen leiblich begegnen wollen, müssen wir uns »einlassen« und können ihn nicht behandeln wie einen Netzwerk-Knotenpunkt. Um über die Tiefe der aktuellen Situation und Stimmungslage hinaus zu blicken, benötigen wir einen systemischen Blick, der die Komplexität und das Eingebundensein zu erkennen verhilft. Dieses Buch schafft mühelos den Spagat zwischen fundierter wissenschaftlicher Reflexion und praxistauglichem Anwendungsleitfaden. Dadurch wird es zum höchst wertvollen Bestandteil eines Arbeitswissens für jeden, der Familien beraten will. Und da es zudem als Praxis-Manual aufbereitet ist, ist es mehr als ein konkreter Anwendungsleitfaden. Anhand eines persönlichen Beispiels möchte ich aufzeigen, wie die Kombination aus leiblichem »Sich-Einlassen« und systemischem Analysieren wirkliche Lösungen hervorbringt. Während ich dieses Buch las, hatten meine Frau und ich mit unserem vierjährigen Sohn ein Problem, das wir sicherlich mit vielen anderen Eltern teilen. Fast jeden Abend fing er an »richtig aufzudrehen«, gerade als es darum ging ins Bett zu gehen. Er veranstaltete ein so großes Theater, dass sogar unsere Nachbarin (eine Professorin für Erziehungswissenschaften) besorgte Briefe an uns richtete. Wir versuchten alles Mögliche, um unseren Sohn abends zu beruhigen, ihm Sicherheit zu geben und ihm dennoch gleichsam klare Struktur aufbauen zu helfen. Er sollte verstehen, dass er zu einer sinnvollen Zeit auch schlafen muss. Aber alles half nichts. Bei einem Eltern-Gespräch mit den Erzieherinnen im Kindergarten kam heraus, dass er tagsüber oft sehr müde ist, nicht tobt, oft mittags so lange schläft, dass die Erzieherinnen Schwierigkeiten haben, ihn aufzuwecken. Während dieses Gesprächs, bei dem ich das Buch »spielend gelöst« sogar erwähnte, erschien es mir plötzlich ganz klar! Ursache war das Problem-System: Meine Frau und ich sind selbstständig bzw. freiberuflich tätig und arbeiten immer sehr intensiv bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir unseren Sohn abgeholt haben. Oft sind wir dann selber so erschöpft, dass wir mit ihm viel Ruhiges unternommen haben. Also keine wilden Spiele oder dergleichen. Eher manchmal mit ihm einen Film anschauen, um dann doch noch »nebenher« ein wenig mehr arbeiten zu können. Unser Sohn hatte einfach in der Zeit nach dem Abholen nicht genügend mit uns gespielt und getobt, sodass er abends, wenn es ans Schlafen ging, nicht müde genug war. Weil er [ 36 ] 1 | 2014 Medien & Materialien aber dann mit all dem »Schlafengehen- Theater« erst spät einschlief, war er am nächsten Tag sehr müde, was sich dann auf sein Verhalten im Kindergarten entsprechend auswirkte. So vereinbarten wir mit den Erzieherinnen, dass sie ihn mittags nicht mehr so lange schlafen lassen sollten. Dies führte aber auch nicht zum durchschlagenden Erfolg, denn in dem Problemsystem waren wir ja auch essentieller Teil. Wir waren zu erschöpft, um mit ihm, in der Zeit nach dem Abholen, mal Fangen zu spielen, viele Spiele im Freien zu unternehmen oder dergleichen. Daher lag ein essentieller Teil der Lösung darin, dass auch wir unsere Energie anders aufteilten mussten: mittags mal einen Kurzschlaf, Fitness-Training, um mehr Ausdauer und Kraft zu haben, die Arbeit etwas anders organisieren usw. Dies sorgte dafür, dass wir, wenn wir unseren Sohn abholten, richtig fit waren, um mit ihm noch was zu unternehmen und nicht auf »Sparflamme« den Abend zu verbringen. Somit lag die Lösung des Problems vor allem in dem Energie-Management von uns Eltern. Wir konnten unser Verhalten ändern, was dazu geführt hat, dass unser Sohn in einen sinnvollen Rhythmus kam. Dies zu erkennen hat maßgeblich Joseph Richters Buch mitgeholfen. Denn sein elegantes Denken, das auf zwei so essenziellen Pfeilern fußt, dem leiblichen Verstehen, um sich in das Innere der Klienten einzuspüren, und dem systemischen Denken, um die Interdependenzen zu erkennen, eröffnet ein Horizont, wertvolle Erkenntnisse zu mehr verschmelzen zu lassen als zur Summe ihrer Teile. Ohne ein Sich-Einlassen fehlt das »Gefühl« für die so einzigartige leibliche Situation der Klienten und ohne systemischen Blick verkennen wir die immer schon bestehenden Verbindungen, in welche unsere Leiblichkeit eingebunden ist und somit einen großen Einfluss auf die Musterbildung unseres Lebensalltages hat. Dieses Buch trägt substanziell zum erweiterten fachlichen Verständnis in der Psychomotorik und Motologie bei und wird sicher eine große Hilfe in der Arbeit mit Familien sein. Ulf Henrik Göhle DOI 10.2378 / motorik2014.art08d Tittlbach, Susanne; Binder, Martin; Bös, Klaus: Bewegt im hohen Alter. Ein Programm zur psychomotorischen Aktivierung in Altenpflegeeinrichtungen. Meyer & Meyer, Aachen, 2012, 172 Seiten, € 19, 95 (D) Die Zahl der pflegebedürftigen älteren Menschen wächst stetig. Eine psychomotorische Aktivierung hochaltriger, pflegebedürftiger Personen wird als sinnvoll erachtet. Tittlbach, Binder und Bös haben nun ein Programm entwickelt, das sie speziell in Einrichtungen der stationären und teilstationären Altenhilfe ansiedeln. Das Programm kann von Fachkräften, die sich für die psychomotorische Aktivierung von pflegebedürftigen Hochaltrigen qualifiziert haben, durchgeführt werden. Das Kursmanual ist im DIN A 4-Format, mit großer Schrift und vielen sehr anschaulichen Bildern gestaltet. Es beginnt mit einer kurzen Einführung ins Thema; hier werden Hochaltrigkeit und Bewegung, die Zielgruppen des Programms und die Rahmenbedingungen zur Kursgestaltung thematisiert. Es folgt eine auch bewusst kurz gehaltene Begründung des Programms. Die Autoren verweisen auf das Modell der Motogeragogik nach Eisenburger und beschreiben Psychomotorik im Alter als individuumzentrierten, handlungstheoretischen Ansatz, der versucht, Rückentwicklungen von motorischen, kognitiven, sozialen und emotionalen Funktionen und Fähigkeiten entgegenzuwirken und diejenigen Ressourcen zu stärken, die der Einzelne benötigt, um Handlungskompetenz zu erwerben und dadurch sein Wohlbefinden zu erhöhen. Der Widerspruch zwischen individuumzentriertem Arbeiten und der Durchführung eines klar vorgegebenen Programms wird nicht diskutiert. Auch die in der Motogeragogik wichtige Biografiearbeit wird nicht thematisiert. Es folgt die Einordnung in das Modell der Qualitäten von Gesundheitssport nach Brehm & Bös (2006). Der Hauptteil widmet sich ausführlich den Angaben zur praktischen Umsetzung. In Anlehnung an das Konzept
