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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das aktuelle Stichwort: Risikokompetenz
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Christiane Richard-Elsner
Viele Eltern und auch andere Erwachsene trauen Kindern heute wesentlich weniger zu, mit Risiken im Alltag oder im Spiel allein fertig zu werden, als das noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Die Befürchtung, dass Kinder aufgrund ihrer geringen Erfahrung ohne Erwachsene schutzlos und permanent gefährdet sind, bewirkt, dass Kinder sich kaum allein im öffentlichen Raum bewegen können (Furedi 2004). Deshalb sollen hier Antworten gegeben werden auf folgende Fragen: Benötigen Kinder Risikokompetenz, und wenn ja, wie erwerben sie sie? Was hat Risikokompetenz mit Bewegung zu tun?
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[ 130 ] 3 | 2014 motorik, 37. Jg., 130-133, DOI 10.2378 / motorik2014.art22d © Ernst Reinhardt Verlag [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Das aktuelle Stichwort: Risikokompetenz Christiane Richard-Elsner Viele Eltern und auch andere Erwachsene trauen Kindern heute wesentlich weniger zu, mit Risiken im Alltag oder im Spiel allein fertig zu werden, als das noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Die Befürchtung, dass Kinder aufgrund ihrer geringen Erfahrung ohne Erwachsene schutzlos und permanent gefährdet sind, bewirkt, dass Kinder sich kaum allein im öffentlichen Raum bewegen können (Furedi 2004). Deshalb sollen hier Antworten gegeben werden auf folgende Fragen: ■ Benötigen Kinder Risikokompetenz, und wenn ja, wie erwerben sie sie? ■ Was hat Risikokompetenz mit Bewegung zu tun? Risiko-- eine alltägliche Erfahrung Ein Risiko ist ein Vorgang mit einem unbestimmten Ausgang. Meist wird der Begriff im negativen Sinn eingesetzt: Man assoziiert einen ungünstigen Ausgang. Etwas von Wert wird aufs Spiel gesetzt. Sollte der Umgang von Kindern mit Risiken also tunlichst vermieden werden? Die Fähigkeit, mit Risiken umzugehen, ist eine entscheidende Kompetenz für das Gelingen des Alltags. Leben bedeutet Umgang mit Ungewissheiten. Jederzeit müssen Entscheidungen getroffen werden, deren Folgen vorher abgewogen werden müssen. Risikokompetenz ist deshalb eine Eigenschaft, die im Alltag von Erwachsenen und von Kindern benötigt wird. Die Fähigkeit, tendenziell gute Entscheidungen zu treffen, muss gelernt und geübt werden. Risikoabschätzungen, die objektive Kriterien einbeziehen, orientieren sich am potenziellen Schadensausmaß und der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses. Je höher Schadensausmaß und / oder Eintrittswahrscheinlichkeit sind, umso mehr Handlungsbedarf besteht, das Risiko zu vermeiden (z. B. DIN VDE 31000, 1987). Letztendlich bestimmt aber meist die subjektive Einschätzung, welche Risiken in Kauf genommen werden. Diese ist sowohl von individuellen Vorerfahrungen abhängig als auch kulturell geprägt. Sie wird von der Werthaltung des Umfelds und heute nicht zuletzt von den Medien beeinflusst (Christensen / Mikkelsen 2008, 112 ff, 126 f ). Spiel und Risiko Kinder erproben ihre Risikokompetenz besonders im Umgang mit physischen Herausforderungen und im Spiel. Spielen wird nur um seiner selbst willen durchgeführt. Es ist ohne Verantwortung und ohne Konsequenz. Kinder können verschiedene Rollen einnehmen und sich eine »Scheinwelt« neben der echten konstruieren. Spiel bietet also einen geschützten Raum, um zweckfrei zu üben, zum Beispiel Risikokompetenz (Scheuerl 1990, 65 ff ). [ 131 ] Richard-Elsner • Das aktuelle Stichwort: Risikokompetenz 3 | 2014 Ein wesentlicher Bestandteil jeglichen Spiels ist, dass es mit einem ungewissen Ausgang verbunden ist (Mogel 2008, 28 f ). Damit enthält Spiel immer Risiken. Auch Regelspiele, wie Gesellschaftsspiele oder Mannschaftsspiele, beinhalten das Risiko des Verlierens, von Ärger oder gar einer Sportverletzung. Spiel ist nicht mit einem kontinuierlichen Zustand der Freude gleichzusetzen. Und Kinderspiel ist, wenn es nicht von außen eingeengt wird, z. B. durch fehlende Freiräume, meist mit körperlicher Bewegung verbunden. Dies gilt insbesondere für das freie Kinderspiel im Freien, wie es vor Jahrzehnten für die meisten Kinder zum Alltag gehörte. Umgang von Kindern mit Risiken im Spiel Hinweise auf den Umgang von Kindern mit Risiken geben sozialwissenschaftliche, vor allem ethnografische Studien. Viele dieser Untersuchungen wurden in Skandinavien und in angelsächsischen Ländern durchgeführt. Motiviert waren sie unter anderem durch den Wunsch nach sicherem Kinderspiel oder aber durch die Sorge um eine zu starke Einengung des Freiraums von Kindern. Folgende Ergebnisse wurden festgehalten: Reflexionsprozess Der Umgang von Kindern mit Risiken ist ein kognitiver Vorgang. Kinder treffen bewusst die Entscheidung, wie stark sie sich auf Risiken einlassen. Sie wägen immer wieder neu ab zwischen Wagemut und Sicherheitsbedürfnis. Kinder nehmen Risiken auf sich, wenn sie meinen, damit umgehen zu können. Inwieweit Kinder Risiken eingehen, ist von ihrem Charakter abhängig. Es gibt die Vorsichtigen, Ängstlichen und auf der anderen Seite die Draufgänger. Vorerfahrungen spielen eine Rolle. Jungen lassen sich im physischen Bereich tendenziell auf mehr gefahrenhaltige Situationen ein als Mädchen (Christensen / Mikkelsen 2008, 118, 127; Cook et al. 1999; Jarvis 2006, 269; Sandseter 2010, 28). Intensives Erleben Wenn Kinder spielen, versuchen sie, Neues zu entdecken und ihre Grenzen auszuloten. Es werden nicht nur Situationen gesucht, die garantiert Freude bereiten. Die meisten Gefühle im Spiel werden geäußert, wenn die gesamte Konzentration auf die Bewältigung eines Risikos gerichtet ist, besonders wenn es um die Bewältigung von körperlichen Herausforderungen geht. Das Gefühl, etwas Gefährliches geschafft zu haben, die Situation bewältigt zu haben, versetzt Kinder in ausgelassene Freude. Dieses intensive Erleben wird im riskanten Spiel gesucht. Kinder lernen aus diesen Erfahrungen (Cook et al. 1999, 5; Sandseter 2010, 94 ff ). Gesprächsthema Die Tatsache, dass das Umgehen mit Gefahren ein kognitiver Vorgang ist, zeigt sich unter anderem daran, dass dies ein häufiges Thema von Gesprächen während des Spiels ist. Kinder messen diesem Thema demnach eine große Bedeutung bei. Verhandelt wird, welches Risiko annehmbar und fair ist, wann es akzeptabel ist, negative Gefühle zu zeigen, oder wie man mit bestimmten Risiken umgeht. Kinder lernen so, Risiken auszutarieren (Christensen / Mikkelsen 2008, 127; Sandseter 2010, 41). Zeichen von Reife Der Umgang mit Gefahren ist nicht nur eine persönliche Herausforderung. Risikokompetenz ist ein Faktor, der die Stellung in einer Kindergruppe mitbestimmt. Wer Risiken mit Augenmaß eingeht, sie überwiegend bewältigt und Begründungen auch für das Scheitern liefern kann, zeigt unter Kindern Reife, Entscheidungskompetenz und Verantwortungsbewusstsein und steigert damit sein Ansehen (Christensen / Mikkelsen 2008, 127). Unterschiedlich »gefährliche« Flächen Risiken, die Kinder im Spiel auf sich nehmen, sind Spiel mit großen Höhen, mit hoher eigener Geschwindigkeit, mit gefährlichen Dingen, Spiel in der Nähe von gefährlichen Elementen, das To- [ 132 ] 3 | 2014 Auf den Punkt gebracht bespiel sowie das Risiko, sich zu verlaufen. Untersuchungen zeigen, dass Kinder in der Natur genauso risikobewusst spielen wie auf einem naturnahen Spielplatz. In der Natur gibt es mehr Risikoangebote, mehr Herausforderungen. Die Kinder gehen aber nicht mehr Risiken ein (Sandseter 2010, 89 f ). Angstlösende Funktion Angst ist ein nützlicher Stimulus für Kinder, um Situationen zu meiden, die sie aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften Fähigkeiten nicht beherrschen. Im Spiel mit Risiken lernen Kinder, mit fortschreitender körperlicher, geistiger und seelischer Entwicklung die vorher aus gutem Grund angstbesetzten Situationen zu bewältigen. Dieses Erfolgserlebnis ist mit großer Freude verbunden. Aber auch kleinere Unfälle sind Teil des Lernens. Sie setzen kreative Prozesse frei. Neue Möglichkeiten der Wahrnehmung werden eröffnet. Entdeckungen über bereits festgelegte Verhaltensmuster hinaus werden ermöglicht. Kinder nähern sich der Welt im Spiel. Durch das Spiel mit Risiken bekommen sie eine realistische Einstellung zur jeweiligen Situation und sich selbst. Sandseter geht davon aus, dass in Gesellschaften, in denen diesem Bestandteil der kindlichen Entwicklung nicht genügend Raum gegeben wird, vermehrt psychopathologische Symptome auftauchen (Sandseter/ Kennair 2011, 257; Christensen / Mikkelsen 2008, 113). Überschätzung und Gruppendruck Draufgänger, Kinder, die ihrem Charakter nach zu waghalsigen Aktionen neigen, nehmen höhere Risiken in Kauf als andere. Selbst motorisch gut entwickelte Draufgänger verunfallen häufiger als andere Kinder. Auch negativer Gruppendruck äußert sich durch vermehrte Unfälle. Kinder im Sportunterricht, in dem ein negatives soziales Klima herrscht, sind ängstlicher, fühlen sich jedoch herausgefordert, mehr zu wagen, als sie sich in der Situation zutrauen. Insgesamt verunfallen jedoch wenige Kinder mit ernsthaften Folgen (Bundesverband der Unfallkassen 2005, 63; Cook et al. 1999). Risikokompetenz durch Spiel und durch Teilhabe am Alltag Zum Erwerb von Risikokompetenz benötigen Kinder sichere Freiräume und keine lückenlose Kontrolle. Spiel sowie das Bewältigen von Alltagssituationen helfen Kindern, Risiken einzuschätzen und zu bewältigen. Dies wird auch von Unfallkassen gefordert (Bundesverband der Unfallkassen 2005, 98 ff ). Alltagsbewegung und Spiel vor allem draußen fördern zudem viele andere Kompetenzen von Kindern. Durch Ermutigung von Eltern und Pädagogen der Ganztagseinrichtungen sollte erreicht werden, dass Kinder diese Freiräume erhalten. Die Anlage von verkehrsberuhigten Bereichen, naturnahen Spielflächen, die Schaffung von NaturerfahrungsräumenoderdieDurchführungeinerSpielleitplanung in einer Kommune sind Möglichkeiten, um sichere Räume für Bewegung und Spiel zu erhalten (Bundesverband der Unfallkassen 2000; Schemel/ Wilke 2008; Abt 2010). Literatur Abt, J. (2010): Spielleitplanung für Berlin-- Modellprojekt Pankow-Weißensee. Endbericht. www.spielleitplanung-berlin.de/ wp-content/ downloads/ Spielleitplanung_Endbericht_web.pdf, 5.2.2013 Bundesverband der Unfallkassen (2005): GUV-SI 8074-- Bewegung und Kinderunfälle. Bonn Bundesverband der Unfallkassen (2000): GUV-SI 8014-- Naturnahe Spielräume. Bonn Christensen, P., Mikkelsen, M. R. (2008): Jumping off and being careful: children’s strategies of risk management in everyday life. Sociology of Health and Illness, 30 (1), 112-130, http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ j.1467-9566.2007.01046.x Cook, S., Peterson, L., Dilillo, D. (1999): Fear and Exhilaration in Response to Risk: An Extension of a Model of Injury Risk in a Real-World Context. Beha- Festzuhalten ist, dass Kinder physische Risiken im Spiel und im Alltag suchen und dass Risikoerfahrung zum entwicklungsgerechten Aufwachsen gehört. Leben bedeutet, mit Unwägbarkeiten und Risiken umzugehen. Darauf wollen sich Kinder vorbereiten. Die Freiräume dazu sollten wir ihnen zur Verfügung stellen. [ 133 ] Richard-Elsner • Das aktuelle Stichwort: Risikokompetenz 3 | 2014 vior Therapy, 30, 5-15, http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ S0005-7894(99)80042-2 DIN VDE 31000, Teil 2 (1987): Allgemeine Leitsätze für das sicherheitsgerechte Gestalten technischer Erzeugnisse- - Begriffe der Sicherheitstechnik. Grundbegriffe. Beuth, Berlin Furedi, F. (2004): Warum Kinder mutige Eltern brauchen. DTV, München Jarvis, P. (2006): »Rough and Tumble« Play: Lessons in Life. Evolutionary Psychology, (4), 330-346 Mogel, H. (2008): Psychologie des Kinderspiels. Von den frühesten Spielen bis zum Computerspiel; die Bedeutung des Spiels als Lebensform des Kindes, seine Funktion und Wirksamkeit für die kindliche Entwicklung. 3. Auflage. Springer, Heidelberg Sandseter, E. B. H. (2010): Scaryfunny. A Qualitative Study of Risky Play Among Preschool Children. Dissertation. Norwegian University of Science and Technology. Trondheim Sandseter, E. B. H., Kennair, L. E. O. (2011): Children’s Risky Play from an Evolutionary Perspective: The Anti-Phobic Effects of Thrilling Experiences. Evolutionary Psychology, 9(2), 257-284 Schemel, H.-J., Wilke, T. (Hrsg.) (2008): Kinder und Natur in der Stadt. Spielraum Natur: Ein Handbuch für Kommunalpolitik und Planung sowie Eltern und Agenda-21-Initiativen. BfN, Bonn Scheuerl, H. (1990): Das Spiel. Bd. 1, 11. Auflage. Beltz, Weinheim / Basel Die Autorin Christiane Richard-Elsner Dr.-Ing., M.A., Diplom-Ingenieurin und Historikerin, Kindheitsforschung, Projektleitung »Draußenkinder-- Freies Kinderspiel im Freien« beim ABA Fachverband, Dortmund Anschrift Christiane Richard-Elsner ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen e. V. Clarenberg 24 D-44263 Dortmund christiane.richard-elsner@aba-fachverband.org a w Besuchen Sie den ERV auf dem Internationalen Kongress „erleben und lernen“ Wir freuen uns auf Sie an unserem Verlagsstand in der Universität Augsburg. Weitere Informationen erhalten Sie unter: www.reinhardt-verlag.de und www.erleben-lernen.de/ kongress Vom 26. - 27. September 2014 findet der Kongress „erleben und lernen“ in Augsburg statt.
