motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Die Bedeutung des Übens im Kontext von Psychomotorik und Motologie
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2015
Stephan Berg
Die Fülle an Übungssammlungen im genannten Kontext regen zu einer Auseinandersetzung mit dem grundlegenden Begriff des Übens an. In diesem Artikel sollen wichtige Aspekte des komplexen Übungsbegriffes ausdifferenziert und für eine Betrachtung diskursfähig gemacht werden. Ziel ist, das Bedeutungsausmaß des Übens im Wandel von der Vergangenheit zur Gegenwart nachzuzeichnen und dabei mögliche Chancen eines wiederentdeckten und erweiterten Übens aufzuzeigen.
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[ FACHBEITRAG ] Die Bedeutung des Übens im Kontext von Psychomotorik und Motologie Wiederentdeckung einer vernachlässigten, aber wichtigen psychomotorischen Praxis? Stephan Berg Zusammenfassung / Abstract Die Fülle an Übungssammlungen im genannten Kontext regen zu einer Auseinandersetzung mit dem grundlegenden Begriff des Übens an. In diesem Artikel sollen wichtige Aspekte des komplexen Übungsbegriffes ausdifferenziert und für eine Betrachtung diskursfähig gemacht werden. Ziel ist, das Bedeutungsausmaß des Übens im Wandel von der Vergangenheit zur Gegenwart nachzuzeichnen und dabei mögliche Chancen eines wiederentdeckten und erweiterten Übens aufzuzeigen. Schlüsselbegriffe: Üben, Normativität, Bedeutungsveränderung, implizites Können The significance of »practicing« in the context of Psychomotricity and Motology-- The rediscovery of a neglected but nevertheless important psychomotor practice? The accumulation of varying exercises within the practice of Psychomotricity and Motology inspired a discussion of the fundamental concept of »practicing«. In this article, differing aspects of the complex concept of practicing are defined and discussed in accordance with the context mentioned. The goal is to demonstrate how the significance of exercise has changed over time until present day. The potential for rediscovery and further development is illustrated Key words: practicing, normativity, meaning change, implicit knowledge Kiphards Psychomotorische Übungsbehandlung verweist bereits im Namen auf eine wichtige Bedeutung des Übens in der frühen Psychomotorik. Auch wenn sich seitdem konzeptionell viel verändert hat, vollziehen sich in psychomotorischen Praxissituationen noch immer Übungsprozesse (etwa beim Balancieren, Trampolin springen usw.). Wie werden diese Prozesse aber konkret gestaltet bzw. reflektiert? Im kindzentrierten Ansatz z. B. sollen motorische Fähigkeiten innerhalb intrinsisch motivierter Bewegungssituationen erworben werden (Zimmer 2004). Das Üben als ein wichtiger Weg hin zu diesen Fähigkeiten ergibt sich dabei als »Nebenbei-Produkt« des kindlichen Spiels, ohne näher beschrieben zu werden. Dieser Artikel versucht hingegen, das Üben im genannten Kontext direkt zu thematisieren und zu analysieren. Hierfür wird in einem ersten Schritt mit einer allgemeinen Annäherung an das Üben begonnen. Diese mündet in einer Ausdifferenzierung des komplexen Begriffes in elf unterschiedliche Dimensionen. Diese auf die Psychomotorik bezogenen Dimensionen sollen dargestellt und im Sinne einer Orientierungsgrafik illustriert werden. Anhand dieser Grafik soll anschließend Kiphards frühe Auffassung des Übens vorgestellt werden, um danach eine veränderte Bedeutung des Übens durch die Entwicklung einer breiten konzeptionellen Ansatzlandschaft in Psychomotorik und Motologie zu zeigen. Da sich hierbei eine Verengung auf wenige Dimensionen abzeichnet, wird im abschließenden Ausblick versucht, ein über aktuelle Ansätze hinausweisendes erweitertes Modell des Übens zu skizzieren. Zielsetzung des Fazits ist, motorik, 38. Jg., 67-74, DOI 10.2378 / motorik2015.art12d © Ernst Reinhardt Verlag 2 | 2015 [ 67 ] [ 68 ] 2 | 2015 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis das Verständnis des Übens hin zu einer vielfältigen und bereichernden Praxis zu öffnen, die auf den und mit dem Klienten abzustimmen ist. Das Üben könnte so als individuell-variantenreiche Form ein wichtiges Handwerkszeug sein, motorische Lernsituationen lustvoller und produktiver gestalten zu können. Üben-- Annäherung an einen komplexen Begriff »Etwas-üben und Sich-üben lassen sich im Ausüben nicht von einander trennen« (Brinkmann 2012, 23). Der Übungsbegriff verweist damit auf eine komplexe Wechselwirkung zwischen äußerlich erworbenen Fertigkeiten und innerlicher Veränderung im Sich-üben. Wesentlich von Wiederholungen geprägt zielt das Üben dabei auf ein gesteigertes Können ab und entwickelte als kulturelle Praxis eine erstaunliche Vielfalt. Zwar besitzt es eine allgemeine Nähe zum Lernen (Bollnow 1978, 26), ist aber in seiner Komplexität nur schwer exakt definierbar, sodass stattdessen im Folgenden die »Artenvielfalt« des Übens beschrieben wird. Dimensionen des Übens Die sich in der Grafik (s. Abb. 1) gegenüberstehenden Begriffe in einem Kreis sind im Sinne eines Kontinuums zu verstehen, innerhalb dessen das Üben hin und her pendeln kann. Ganz grundsätzlich-- daher im inneren Kreis-- ist von enormer Bedeutung, ob beim Üben mittels eines bewussten, zielgerichteten und problemorientierten Vorgehens nicht gelingende Leistungen oder Fertigkeiten in einem Übungsprozess direkt angegangen werden. Dieses soll Üben im engeren Sinn genannt werden. Üben kann aber auch weiter gefasst werden. Hierbei »ergibt sich die Übung von selbst, während der Mensch mit seiner Aufmerksamkeit ganz seiner Tätigkeit, seiner Arbeit oder seinem Spiel zugewandt ist« (Bollnow 1978, 38). Nach Prange soll dieses Üben als »mitgängiges Lernen« (Prange 1978, 68) bezeichnet werden, bei dem der Lernerfolg gleichsam im Schatten der Aufmerksamkeit als nicht bewusst intendiert »mitgeht« und ebenfalls Fertigkeiten entstehen lässt. Für den mittleren Ring ergeben sich die Dimensionen Fertigkeitenerwerb und Selbststeigerung bereits aus der Etymologie (Entstehungsgeschichte) des Wortes. Üben geht in seiner Herkunftsgeschichte zurück »auf die idg. Wurzel. *op- ›verrichten, ausführen‹ (speziell Feldarbeit und gottesdienstliche Handlungen)« (Duden 2001, 874). Im Fertigkeitenerwerb wird die erste etymologische Bedeutung aufgegriffen. Im Sinne der ursprünglichen Feldarbeit müssen Abläufe z. T. mühsam und gezielt übend gesteigert werden, damit dem Menschen ein Können, eine Fertigkeit oder ein sichtbares Ergebnis zur Verfügung steht. Relevant hierfür sind lernpsychologische Gesetzmäßigkeiten, wie etwa Thorndikes »Gesetze des Lernens« (Thorndike 1922, 64), beschreiben sie doch aus behavioristischer Perspektive z. B. die Kontingenz zwischen Wiederholungzahl und Fertigkeitenerwerb. Die innere, mentale Seite des Übens ist dabei allerdings von zweitrangiger Bedeutung. Im Gegensatz dazu bleibt auf der anderen Seite die gottesdienstliche Handlung erkennbar in Form uralter meditativer und asketischer Übungen. Der Zweck des Übens liegt hierbei nicht primär im Erwerb von Fähigkeiten, sondern darin, die (innere) Struktur des Menschen zu ordnen und zu konzentrieren. »Es geht dabei um eine Verwandlung der inneren Haltung des Menschen durch das Üben; denn die geschilderte innere Verfassung, die Erhebung über das hastige Treiben des Alltags, (…) wird ihrerseits zu dem Ziel, das durch das Üben erreicht werden soll« Abb. 1: Dimensionen des Übens [ 69 ] Berg • Die Bedeutung des Übens 2 | 2015 (Bollnow 1978, 64). Üben gewinnt damit die Dimension der normativen Selbststeigerung hin auf einen höherwertigen (mentalen) Zustand. Besonders wichtig für die Psychomotorik ist das Dimensionen-Paar Selbststeuerung und Fremdsteuerung, bei der das Üben einerseits als ein selbstgesteuerter Prozess verstanden wird, in dem das Individuum sein Üben selbstbestimmt methodisch organisiert und den Gegenstand wählt. Das Üben vollzieht sich hierbei innerhalb eines Lernens durch selbsttätig gesteuerte Erfahrungen, die sich in lernanregenden Situationen einstellen (Prohl 2006). Die andere Sichtweise betont hingegen die Fremdsteuerung in Form einer Art »Meister-Lehrling-Beziehung« (Brinkmann 2012, 222). Bei dieser wird die Aufmerksamkeit des Übenden durch systematische Einschränkung und Fokussierung, z. B. durch Anweisungen oder Vor- und Nachmachen, gezielt auf das zu Übende gelenkt (Brinkmann 2012). Auf dem äußeren, praxisorientierten Ring finden sich die Dimensionen Widerfahrnishaftigkeit, systematisches Üben- - Flow und explizites Wissen-- implizites Können. Die Position der Widerfahrnishaftigkeit sieht dabei als wesentlich an, dass der Lernfortschritt im Übungsprozess nicht direkt beobachtet und willentlich erzeugt werden kann, vielmehr »widerfährt dem Akteur einerseits, ob ihm seine Handlung (wie beabsichtigt) gelingt oder aber misslingt« (Janich 2010, 350). Dies zeigt sich im Üben darin, dass in jedem noch so gut geübten Können die Unsicherheit steckt, dass es im entscheidenden Moment nicht gelingt. Beim systematischen Üben wiederum wird gezielt und bewusst ein bestimmter, noch nicht gekonnter Teil eines Bewegungsablaufes herausgriffen und isoliert verbessert (Bollnow 1978). Anschließend wird das verfeinerte Glied wieder in den Gesamtablauf integriert, sodass dieser nunmehr ungestört ablaufen kann. Ohne Zergliederung hingegen erfolgt das Üben im Flow, bei dem selbstvergessenes Handeln zu einer »Ordnung im Bewusstsein« (Csikszentmihalyi 2007, 19) führt. In der richtigen Balance zwischen Unter- und Überforderung, fokussiert auf eine klar umrissene Aufgabe, verschmelzen das Bewusstsein und die Handlungen beim Üben zu einer fließenden Einheit frei von Systematik oder Bewertung. Eine große Nähe zu von Weizsäckers Gestaltkreis scheint hierbei gegeben, kann aber an dieser Stelle nicht erörtert werden. Die beiden letzten Dimensionen bilden das Kontinuum zwischen explizitem Wissen und implizitem Können. Üben lässt sich innerhalb des ersten Verständnisses griffig so beschreiben: »deklaratives Wissen, d. h. Wissen über das »Wie« der Ausführung einer Handlung, wird durch Übung und Wiederholung zu prozeduralem Wissen« (Seel 2003, 222). Zu Beginn übernimmt folglich eine kognitive Instanz mittels gezielter Instruktionen in Form expliziten Ausführungswissens (»Know-that«) die Kontrolle und den Ablauf des Übens. In einem fließenden Gegensatz dazu wird beim impliziten Können das Bewegungslernen ohne intellektualistisches Verstehen betont. »Erlernt ist eine Bewegung, wenn der Leib sie verstanden hat, d. h. wenn er sie seiner ›Welt‹ einverleibt hat, und seinen Leib bewegen heißt immer, durch ihn hindurch auf die Dinge abzielen, ihn einer Aufforderung entsprechen lassen, die an ihn ohne den Umweg über irgendeine Vorstellung ergeht« (Merleau-Ponty 1966, 168). Die dimensionale Vielfalt des Übens ist nun als Orientierungsgrafik dargestellt worden. Mit ihr soll im Folgenden das kiphardsche Üben analysiert und Veränderungen zu diesem durch neuere Konzepte verdeutlicht werden. In einem letzten Schritt wird dann die »Artenvielfalt« des Übens im Ausblick wieder aufgegriffen, um daraus das angekündigte individuell-variantenreiche Üben entwickeln zu können. Die Bedeutung des Übens bei Kiphard Der Diplom-Sportlehrer Ernst J. Kiphard gilt als der Begründer der deutschen Psychomotorik. Zentral für die Bedeutung des Übens im genannten Kontext und daher Ausgangspunkt der Betrachtung ist seine in den 1960er Jahren entwickelte Psychomotorische Übungsbehandlung. Kiphard wollte »seine« Kinder zu Freude bereitendem Erfolg führen, sodass es ihm darum zu gehen schien, damalige lernpsychologische Erkenntnisse (u. a. von Thorndike) direkt für die [ 70 ] 2 | 2015 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Behandlung nutzbar zu machen. Seine Ermutigungspädagogik funktionierte dann erfolgreich, wenn sich der Übungsfortschritt schnell vollzog und aus Gesetzmäßigkeiten relativ sicher ableiten lies. »Um einen Lernprozeß zu stabilisieren, müssen gerade anfangs täglich Wiederholungen folgen« (Kiphard / Huppertz 1973, 23). Die Kontingenz zwischen Wiederholungsanzahl und Übungserfolg führte konsequenterweise zur methodischen Empfehlung, der Lehrer müsse sich »immer für diejenige Übungsform (Ordnungsform) entscheiden, welche die größte Übungshäufigkeit in einer Zeiteinheit garantiert. Wartezeiten und unnützes Herumstehen müssen weitgehend vermieden werden« (Kiphard / Huppertz 1973, 21). Das konnte für die gewählte Übungsform bedeuteten: »Wir zerlegen zu schwierige Bewegungsaufgaben in übersehbare Teile, die zunächst gesondert geübt werden. Und erst allmählich fügen wir in kleinsten Stufen und Schritten Teil um Teil zusammen« (Kiphard 1970, 121). Eine unmittelbare Nähe zum Üben als Fertigkeitenerwerb, zum fremdgesteuerten und zum systematischen Üben ist offensichtlich (s. Abb. 1). Dass es ihm aber nicht um eine Form der Konditionierung hin zu motorischer Leistungsfähigkeit ging, ist ersichtlich aus der starken Betonung der kindlichen Selbsttätigkeit. »Ich muß mir überlegen, wie ich dabei ihren Willen zur Selbsttätigkeit, zum schöpferischen Üben ihrer körperlichen Kräfte und Bewegungsmöglichkeiten aktivieren kann« (Kiphard / Huppertz 1973, 21). Daher die wichtige Bedeutung der Bewegungsaufgabe, ermöglicht sie doch das Erfinden selbstständiger »Bewegungsantworten« auf gestellte Bewegungsprobleme. Es wird damit die Selbststeuerung des Übens unterstrichen. Entscheidend ist, dass das Üben spielerisch, freudvoll und in Geschichten eingebettet, also im Modus des »mitgängigen Lernens« vollzogen werden soll. Als sehr wesentliches Merkmal wird zusätzlich die Parallele zum Üben als Selbststeigerung gesehen. Denn die sichtbaren motorischen Lerngewinne führen laut Kiphard die Kinder zu Stolz und einem ungeahnten Selbstwertgefühl. Verbunden ist dies mit der »für das Leben so wesentlichen Erkenntnis, daß man durch persönlichen Einsatz und durch konsequentes und ausdauerndes Üben etwas erreichen kann, was man vorher nicht für möglich hielt« (Hünnekens / Kiphard 1985, 33). Kiphards Übungsbehandlung vereint somit eine Vielzahl unterschiedlicher Sichtweisen des Übens-- von systematischen Übungen bis hin zu Selbstvertrauen generierenden motorischen Bewegungsaufgaben. Dass diese Pluralität auch für aktuelle Konzepte wichtig sein könnte, soll im Fazit noch einmal aufgegriffen werden. Von der Vergangenheit zur Gegenwart-- Veränderung des Übens durch neuere Ansätze Anhand von fünf Argumenten im Rahmen der Entwicklung neuerer Konzeptionen soll nun eine veränderte Bedeutung des Übens in der Psychomotorik und Motologie seit den Anfängen dargestellt werden. Im kindzentrierten Ansatz wird mit der Betonung von Autonomie, Selbstbestimmung und vorbehaltloser Annahme des Kindes seitens des Therapeuten ein Menschenbild vertreten, wie es die Humanistische Psychologie betont (Kriz 2007). Damit kann dem Kind als einem »aktiven Wesen, das nach Autonomie und Unabhängigkeit strebt« (Zimmer 2004, 57) nicht vorgeschrieben werden, was es üben soll. Selbstverwirklichung betont das Streben nach einem für das Kind sinnvollen Dasein innerhalb eines selbstgesteuerten Entwicklungsprozesses und nicht ein- - womöglich sogar von gesellschaftlichen Normen abgeleitetes-- Üben isolierter Fähigkeiten. Über dieses Humanistische-Psychologie-Argument hinaus eröffnet der kindzentrierte Ansatz eine Sichtweise, welche in Form des Geübt-wird-»nebenbei«-Argumentes relevant für aktuellere psychomotorische Konzepte zu sein scheint. Bei »intrinsisch motivierten Spiel- und Bewegungshandlungen werden die motorischen Fähigkeiten der Kinder gefördert und ihr allgemeines Leistungsniveau- - gleichsam nebenbei- - verbessert« (Zimmer 2004, 64). Zur Förderung der Motorik braucht es kein Übungsprogramm, das das zu Übende explizit in den Fokus rückt. Das Verständnis des Übens lässt sich [ 71 ] Berg • Die Bedeutung des Übens 2 | 2015 daher als ein »mitgängiges Lernen« beschreiben. Hierbei vollzieht es sich wie von selbst, eingebunden in eine Bewegungshandlung, der die ganze Aufmerksamkeit gilt. Ein weiteres, als Bewegung-als-Bedeutungsphänomen bezeichnetes Argument ergibt sich innerhalb des Anfang der 1990er Jahre entstandenen Verstehenden Ansatzes (Hammer 2004). Dieser Ansatz sieht in den Bewegungsäußerungen der Kinder sinnhafte Äußerungen. Wenn also die Bewegung als präsentatives Symbol für etwas steht, so ergibt sich aus der Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen dem Symbol und dem, für das es steht, ein Bedeutungszusammenhang. Dieser Zusammenhang in Form einer Bedeutungsbewegung konstituiert sich in der Beziehung zwischen dem Ausdruck und dem Auszudrückenden. Diese Beziehung kann und muss nicht geübt werden, indem der Ausdruck motorisch verfeinert wird, sondern selbst die ungeübteste Bewegung steht für etwas und ist somit eine sinnhafte Äußerung. Aus dieser Perspektive geht es »um das Verstehen des Kindes, nicht um ›schnelle‹ Erklärungen, die für die Entwicklung psychomotorischer Trainingsprogramme den Ausschlag geben« (Hammer 2004, 166). Die Praxis gewinnt dadurch eine andere Ausrichtung, bezeichnet als methodisches-Vorgehen-Argument. »Zunächst ergibt sich aus der Betonung des Phantasieaspektes in Geschichten und Bildern, daß sinnleeres Üben und programmhaftes Training an Bedeutung einbüßen. […] Die sog. ›kreativen Medien‹ werden zu einem zentralen ›Handwerkszeug‹ des Psychomotorikers« (Seewald 1992, 219). Die Anwendung dieses Handwerkszeuges impliziert eine bestimmte Rolle des Therapeuten. Er darf sich »in der Begegnung mit dem Kind nicht darüber stellen, sondern bietet sich als Spielpartner an, der nicht die Spielrichtung vorgibt, sondern auf gleicher Stufe mit ihm steht« (Hammer 2004, 179). Diese Bedeutsamkeit des Spiels, das durch die fehlende Anleitung und situative Offenheit ein Medium des Dialogs bietet, führt gleichzeitig zu einer schwindenden Bedeutung eines therapeutenzentrierten und übungsintensiven Vorgehens. Eine weitere veränderte Sichtweise des Übens findet sich im Mitte der 1990er Jahre von Balgo, Voss und Hilbers entwickelten systemisch-konstruktivistischen Ansatz als Autopoiesis-und-System-Argument. Ein sich selbst organisierendes System (Autopoiese) kann nur aus der Innenperspektive entscheiden, welche Fähigkeiten für das Funktionieren seiner Elemente wichtig sind. Von außen kann also keine wirklich systemrelevante Übungsaufgabe gestellt werden. Das System Wahrnehmung und Bewegung (Balgo 1998) kann daher nicht durch eine Übungsfolge gezielt instruiert werden, da die gegenwärtige interne Struktur nicht vorhersehbar mit dem Reiz umgeht. Eine angeleitete, für alle geltende Übungsfolge scheint daher wenig aussichtsreich, da erstens jeder etwas anderes wahrnimmt und zweitens dieses gemäß seiner inneren Struktur unterschiedlich verarbeitet. Eine Grundannahme des Übens, dass sich etwas durch Wiederholung real verbessern lässt, wird sowohl als Beobachtung eines Beobachters als auch in seiner erstrebenswerten Zielfunktion relativiert. Zwischenfazit Das Üben kiphardscher Prägung scheint in der aktuelleren Psychomotorik generell deutlich an Bedeutung verloren zu haben, dargestellt anhand der genannten Argumente. Das Üben tritt zugunsten von Spielen, offenen Bewegungssituationen und dialogischen Interaktionsaufgaben formal in den Hintergrund. Zwar galt auch für die Anfänge, »Übungen aneinander zu reihen, war niemals das Ziel der Psychomotorik. Es ging und geht immer um die gemeinsame Gestaltung von Situationen« (Schäfer 2011, 67). Trotz dieses Einwandes wird eine Bedeutungsveränderung im Vergleich zur Übungsbehandlung deutlich. Das Verständnis verändert sich in seiner Ausrichtung von einem deutlich normativen, fremdgesteuerten aber auch vielfältigen (selbstgesteuerten) Üben bei Kiphard hin zu einem selbstgesteuerten und vor allem mitgängig verstandenen Üben. Eine eingeschränkte Auffassung im »Nebenbei- Modus« lässt allerdings einige Potenziale des Übens ungenutzt. Diese sollen nun dargestellt werden, unterstützt durch Beispiele psychomotorischer Praxissituationen. [ 72 ] 2 | 2015 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Ausblick Üben scheint aus mehreren Gründen weiterhin ein wichtiges Thema für die Motologie zu sein. So kann es erstens etwa beim Schuleintritt für den Erwerb der Schriftsprache an Relevanz gewinnen, wenn z. B. begleitend die Grafomotorik psychomotorisch gefördert werden soll. Zweitens wird lebenslanges Lernen in vielen Bereichen als möglich angesehen (Oerter / Montada 2008). In einer Entwicklungsbegleitung über die ganze Lebensspanne kann daher zum Thema werden, wie sich bestimmte motorische Fähigkeiten auch im höheren Alter üben lassen, wenn sie z. B. durch veränderte Arbeitsbedingungen gefordert werden. Ein erweiterter aber auch selbstreflexiver Blick auf ein bewusstes Üben scheint somit aus gesellschaftlicher bzw. entwicklungstheoretischer Perspektive lohnend. Die Normativität des Übens-- Anregung zur Selbstreflexion Das Können und der Gedanke der Selbststeigerung ziehen sich- - und das auch bei Kiphard- - wie ein roter Faden durch das Üben. »Dieses Streben nach Selbsterhöhung, nach Ansehen, Anerkennung, nach Beifall kann der Pädagoge geschickt zur Leistungsmotivation nutzen« (Kiphard / Huppertz 1973, 43). Wie bisher deutlich wurde, wird in den neueren Ansätzen diese normative Dimension des Übens kaum noch berücksichtigt. Aber trotz neuer Zielsetzungen für die psychomotorische Förderung soll eine verbesserte motorische Leistungsfähigkeit im »Nebenbei-Modus« weiterhin erreicht werden (Zimmer 2004, 64). Besteht das motorische Können also weiterhin als Ziel? Wird es nur in seiner Normativität nicht thematisiert? Damit verbunden ist eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der Steigerungsdimension des Übens. Als Konsequenz für die psychomotorische Praxis folgt daraus aber nicht, Üben und Können zu Therapiezielen zu machen, sondern ihr Bedeutungsausmaß zu klären. Dabei kann Abb. 1 als eine Art Analysewerkzeug dienen, die (möglicherweise unbewusste) individuelle Synthese bzw. Gewichtungen der verschiedenen Dimensionen des Übens in der Praxis zu systematisieren. Leibliche Grundlagen-- implizites Vorkönnen im Üben Jedes Üben einer Bewegung greift immer auch auf ein bereits vorhandenes implizites Vorkönnen zurück. Dieses gleicht einem Wissen, »das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnungen übertragen zu lassen« (Merleau-Ponty 1966, 174). Verdeutlicht an einem Beispiel: Beim Üben eines Seilknotens (z. B. im Rahmen einer Bewegungsbaustelle) müssen die Hände z. T. mühsam neue Bewegungen lernen. Dabei wird etwa der in der Vergangenheit ebenfalls durch einen Übungsprozess entwickelte Dreipunktgriff wie selbstverständlich als ein implizites Vorkönnen genutzt (s. Abb. 2). Nur reicht das in diesem Augenblick vorhandene Bewegungsrepertoire nicht aus für die Ausführung des Knotens. An diesem Punkt wird der Übende sehr persönlich konfrontiert mit dem in der eigenen Bewegungsgeschichte bereits Gelernten und dem »Noch-nicht-Gelernten«. Ein Bewusstsein von bereits vollzogenen Übungsprozessen bietet dabei für das Üben das Potenzial, gezielt individuelles Vorkönnen zu nutzen. So wie die Hände beim Knoten feinmotorisch Abb. 2: Implizites Vorwissen: Dreipunktgriff [ 73 ] Berg • Die Bedeutung des Übens 2 | 2015 gebraucht werden, so war es z. B. auch beim Steckbrettspiel oder Klavierspiel. Und wie bei jenem zieht sich auch beim Seilknoten im Prozessverlauf Nicht-Können-- Üben-- Können das Bewusstsein schrittweise zurück, bis die Bewegung zu einem Wissen »in den Händen« geworden ist. Dieses individuelle und durch vielfältige Lebenserfahrungen erworbene implizite Vorkönnen stellt- - insbesondere als biografische Basis des lebenslangen Lernens- - eine wichtige Grundlage dar, aus der heraus anschlussfähig neue Bewegungen geübt werden können. Selbstgespräche des Übens-- Selbstumgang und Selbstsorge Wie in der Annäherung an das Üben angedeutet, widerfährt dem Akteur, ob ihm sein Geübtes gelingt oder nicht. Dabei kann leicht ein Selbstgespräch entstehen, verdeutlicht am »Ich-übemich« im Balancieren auf einem Seil. Das »Ich«, welches das Üben plant, bewertet oder zeitnah äußert: »jetzt kann Ich es«. Doch ob dem »Mich« auch beim nächsten Mal das Balancieren gelingt, untersteht nicht allein dem direkten Willen des »Ichs«. Wie der Übende dabei mit der Unwägbarkeit umgeht, dass das gut geübte Balancieren im entscheidenden Moment auch misslingen kann, zeigt grundlegende Formen des Selbstumganges. Geht der Übende verärgert oder aufmunternd mit sich um, wenn er die Balance verliert? Holt er sich Hilfe oder zieht er sich zurück? Übt er immer gleich oder spielerisch-variabel? Das Üben besitzt daher das Potenzial, eine Balance zwischen eigenen und fremden Ansprüchen, zwischen Selbststeigerung und Akzeptanz usw. dialogisch zu thematisieren. Um dabei nicht in einer Überforderung zu enden, kann-- wie auch für die Gesundheitsförderung- - die leibliche Resonanz »im Sinne des Spürens und Gewärtigens« (Seewald 2012, 58) ein wichtiges Medium sein. Zu erspüren gilt die momentan individuell stimmige Balance zwischen Systematik und Flow, zwischen mitgängigem Lernen oder direktem Üben etc. Mit dieser Idee kann eine für das lebenslang relevante Lernen eigene, ausbalancierte und gesundheitsfördernde Art des Übens entwickelt werden. Als abschließende Skizzierung scheint hierfür eine Verbindung zu Schulz von Thuns Modell des »inneren Teams« (Schulz von Thun 2011, 70) sinnvoll. Hiermit lassen sich persönliche Erfahrungen, übernommene Normen, elterliche Ansprüche usw. als »innere Beteiligte« am Üben sichtbar machen und zu einem die Persönlichkeit integrierenden Dialog führen. Fazit Die genannten Potenziale sprechen für eine Wiederentdeckung des Übens, allerdings nicht mehr wie bei Kiphard als vielfältiges, aber doch auch stark fremdgesteuertes und normatives Üben. Stattdessen sollte die durchgängig betonte Selbstbestimmtheit des Übens aktueller psychomotorischer Konzepte beibehalten werden, um dann aber nicht allein bei der Selbststeuerung und dem mitgängigen Lernen stehenzubleiben. Vielmehr könnte die dimensionale Vielfalt aufgegriffen werden, um gemeinsam mit dem Klienten ein für ihn stimmiges Modell des Übens zu finden. Dafür muss der Übungsprozess bewusst reflektiert werden, denn die Potenziale können dann ihre volle Wirksamkeit entfalten, wenn das Üben nicht nur »nebenbei« erfolgt. Denkbar ist hierfür eine prozessorientierte Begleitung, die sich an Abb. 1 orientiert, um die bereits vorhandenen unterschiedlichen Aspekte im Üben des Klienten zu klären. Betont er eher das implizite Können, die Selbststeuerung oder das systematische Üben? Daraus können sich dann Vorschläge ableiten, die dem Klienten möglicherweise bisher unbekannte Dimensionen in den Vordergrund rücken. So ließe sich die übungsintensive Praxis kiphardscher Prägung mit einer reflektierten, vielfältigen, leibliche Ressourcen nutzenden und selbstsorgenden persönlichen Form des Übens verbinden. Verdeutlicht an einem abschließenden Beispiel: Ein erwachsener Klient entdeckt im Setting der Gesundheitsförderung seine Bewegungslust wieder und möchte nun »endlich« Pedalo fahren lernen. Im erstmaligen Versuch scheitert er, sodass er am ganzen Leib erfahrbar mit sich selbst und dem »Noch-nicht-Gelernten« in seiner Bewegungsgeschichte konfrontiert wird. Möglicherweise entwickelt sich ein Dialog zwischen innerem Ärger und innerer Aufmunterung. Die [ 74 ] 2 | 2015 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Art, wie dieser geführt wird, beeinflusst auch die weiteren Versuche. Vielleicht gelingt ihm, mithilfe des Motologen überkritische Stimmen mit von Thuns Modell des inneren Teams zu identifizieren und in einen selbstklärenden Dialog zu bringen mit den anfänglich neugierigen und bewegungsfreudigen Persönlichkeitsanteilen. So erfolgen nun weitere Versuche mit einer deutlich selbstakzeptierenderen Haltung. Gemeinsam kann erprobt werden, ob systematische Kleinschritte (wie etwa Balanceübungen auf zwei ungleich hohen Kästen als analoge Vorübung) oder eher flow-artiges Eintauchen in die Bewegung (z. B. unterstützt durch Musik) die Bewegung vertraut werden lassen. Auch kann ein Klient in dieser Übungsform seine eigene Mischung suchen von expliziten äußeren Anregungen, Selbststeuerung des Übungsprozesses etc. Um einen Übungsprozess zu begleiten, ist daher eine Vertrautheit mit verschiedenen Dimensionen wichtig, sowohl um beobachtetes Üben einzuordnen als auch die Entwicklung eines klientengemäßen Modells des Übens fördern zu können. Literatur Balgo, R. (1998): Systemisch-konstruktivistische Positionen in der Psychomotorik. motorik 21 (1), 2-12 Bollnow, O. (1978): Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrung. Herder, Freiburg im Breisgau Brinkmann, M. (2012): Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform. Ferdinand Schöningh, Paderborn Csikszentmihalyi, M. (2007): Flow. Das Geheimnis des Glücks. Klett-Cotta, Stuttgart Duden (2001): Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Band 7. Dudenverlag, Mannheim Hammer, R. (2004): Der Verstehende Ansatz in der Psychomotorik. In: Köckenberger, H., Hammer, R. (Hrsg.): Psychomotorik. Ansätze und Arbeitsfelder. Ein Lehrbuch. Verlag modernes lernen, Dortmund, 164-186 Hünnekens, H., Kiphard, E. J. (1985): Bewegung heilt. Psychomotorische Übungsbehandlung bei entwicklungsrückständigen Kindern. Verlag Ludwig Flöttmann, Gütersloh Janich, P. (2010): Ahnung und Übung. In: Bromand, J., Kreis, G. (Hrsg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Akademie Verlag, Berlin, 341-354 Kiphard, E. J. (1970): Leibesübung als Therapie. Bewegungspädagogische und heilpädagogische Grundlagen. Verlag Ludwig Flöttmann, Gütersloh Kiphard, E. J., Huppertz, H. (1973): Erziehung durch Bewegung. Leibesübungen mit behinderten Kindern. Dürrsche Buchhandlung, Bonn-Bad Godesberg Kriz, J. (2007): Grundkonzepte der Psychotherapie. Beltz, Weinheim Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Walter de Gruyter & Co, Berlin Oerter, R.,Montada, L. (Hrsg.) (2008): Entwicklungspsychologie. Beltz, Weinheim Prange, K. (1978): Pädagogik als Erfahrungsprozeß. I: Der pädagogische Aufbau der Erfahrung. Klett- Cotta, Stuttgart Prohl, R. (2006): Grundriss der Sportpädagogik. Limpert, Wiebelsheim Schäfer, I. (2011): Von den Wurzeln zur Entwicklung, Weiterentwicklung und zu aktuellen Perspektiven der Psychomotorik-- Kiphard und sein Werk. motorik 34 (2), 58-68 Seel, N. (2003): Psychologie des Lernens. Lehrbuch für Pädagogen und Psychologen. Ernst Reinhardt, München / Basel Schulz von Thun, F. (2011): Miteinander Reden 3. Das »innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Seewald, J. (1992): Vorläufiges zu einer »Verstehenden Motologie«. motorik 15 (4), 204-221 Seewald, J. (2012): Motologisch orientierte Gesundheitsförderung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Konsequenzen. motorik 35 (2), 54-60 Thorndike, E. L. (1922): Psychologie der Erziehung. Gustav Fischer, Jena Zimmer, R. (2004): Kindzentrierte psychomotorische Entwicklungsförderung. In: Köckenberger, H., Hammer, R. (Hrsg.): Psychomotorik. Ansätze und Arbeitsfelder. Ein Lehrbuch. Verlag modernes lernen, Dortmund, 55-66 Der Autor Stephan Berg Dipl. Instrumentalpädagoge, konzertierender Musiker, Motologe (M. A.), seit 2014 wiss. Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Sportwissenschaft und Motologie, Philipps-Universität Marburg Anschrift Stephan Berg Mulanskystr. 12 D-60487 Frankfurt stephan-berg@gmx.de
