motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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»Ich kann sein, was ich will«?
71
2015
Helen Hegerath
Sabrina Keller
Ob Mutter, Vater, Kind, Feuerwehrmann oder Tiger - Kinder erleben und erfahren sich als fantasievolle Konstrukteure ihrer eigenen Wirklichkeit im sozialen Rollenspiel. Doch ist es überhaupt möglich, dass sich in einem sozialen Rollenspiel jedes Kind innerhalb des gemeinsamen Handlungskontextes so verwirklichen kann, wie es dies möchte? Oder sind neben der Metakommunikation Grenzen denkbar, die sich in und aus spezifischen Gruppenprozessen ergeben und das postulierte Merkmal der Rollenfreiheit einschränken? Diese und ähnliche Fragen sowie vermeintliche Auswirkungen auf das kindliche Erleben im Rollenspiel werden im folgenden Beitrag mit Bezug auf ein Projekt thematisiert.
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Zusammenfassung / Abstract Ob Mutter, Vater, Kind, Feuerwehrmann oder Tiger - Kinder erleben und erfahren sich als fantasievolle Konstrukteure ihrer eigenen Wirklichkeit im sozialen Rollenspiel. Doch ist es überhaupt möglich, dass sich in einem sozialen Rollenspiel jedes Kind innerhalb des gemeinsamen Handlungskontextes so verwirklichen kann, wie es dies möchte? Oder sind neben der Metakommunikation Grenzen denkbar, die sich in und aus spezifischen Gruppenprozessen ergeben und das postulierte Merkmal der Rollenfreiheit einschränken? Diese und ähnliche Fragen sowie vermeintliche Auswirkungen auf das kindliche Erleben im Rollenspiel werden im folgenden Beitrag mit Bezug auf ein Projekt thematisiert. Schlüsselbegriffe: soziales Rollenspiel, Gruppenprozesse, Rollenverhalten, Selbst- und Fremdbestimmung, Erleben »I can be what I want to be« - the importance of group dynamics for the development of social role playing for children aged 3 to 6 years Mother, father, child, firefighter or tiger - children gain experience and view themselves as imaginative designers of their own reality. But is it even possible that in a social role play situation every child is able to fulfill his or her active role as he or she would like? Or is it possible, in addition to Metacommunication, resulting from the specific developments of the group’s process, there are suggested boundaries which restrict the characteristic freedom within role play. These and similar questions, as well as alleged effects on the child-like experience in the role playing situation will also be addressed in the following post with reference to a research project. Key words: social role-playing, group processes, role behavior, self-determination - and heteronomy, experience Skizzierung des Projektes Innerhalb eines Zeitraumes von acht Monaten ist im Jahr 2014 in einer Kölner Kindertagesstätte ein qualitativ ausgerichtetes Projekt zur Bedeutung von Gruppenprozessen für den Verlauf sozialer Rollenspiele bei 3bis 6-jährigen Kindern durchgeführt worden. Die räumlichen Gegebenheiten der gewählten Kindertagesstätte stellten - insbesondere durch das Vorhandensein eines separaten Rollenspielraumes - optimale Voraussetzungen für die Untersuchung dar. Mittels Beobachtungen und Videografie wurde das Datenmaterial von zahlreichen Rollenspielsequenzen der 3bis 6-Jährigen erhoben (Brandes 2011, 130 f ). Die Auswertung erfolgte über ein rekonstruktives Analyseverfahren in Hinblick auf die Fragestellung, ob Kinder im Rollenspiel wirklich das sein können, was sie wollen. Ambivalenz der Fragestellung Die genannte Fragestellung kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. Zum einen kann der Blick auf die expliziten, in der Regel verbalisierten, thematischen Rollen gerichtet sein, welche Kinder im sozialen Rollenspiel einnehmen (zum Beispiel die Rolle der Mutter, des Vaters, eines Polizisten, etc.). Zum anderen scheinen aber [ TiTelRubRik ] 3 | 2015 motorik, 38. Jg., 104-110, DOI 10.2378 / motorik2015.art17d © Ernst Reinhardt Verlag [ FoRum PsychomoToRik ] »Ich kann sein, was ich will« - Die Bedeutung von Gruppenprozessen für den Verlauf sozialer Rollenspiele 3bis 6-jähriger Kinder helen hegerath, sabrina keller [ 104 ] [ 105 ] Hegerath, Keller • »Ich kann sein, was ich will« - Die Bedeutung von Gruppenprozessen 3 | 2015 Positionierung Kommunikation und Interaktion Körperhaltung und Bewegung Regelwerk und Rollenverteilung A Gleichstellung ■ Position auf Augenhöhe (räumlich) ■ keine Hierarchie der sozialen / thematischen Rollen ■ Wechselseitigkeit ■ ähnliche Sprechanteile ■ Vorschläge / Ideen gleichverteilt ■ Agieren & Reagieren im Wechsel ■ harmonische, komplementäre Bewegungsabläufe ■ Regeln & Rollen aufeinander abgestimmt ■ komplementäre Rollenverteilung (Verkäufer: Einkäufer) ■ Metakommunikation B Dominanz ■ Im Mittelpunkt ■ Positionskontrolle ■ Status und Vorbildfunktion ■ hoher Sprechanteil ■ Ansagen von Handlungssequenzen und Themen ■ Vorsprechen ■ Unterbrechung anderer Beiträge ■ greift in Handlungsbewegung anderer ein ■ bewusstes Zubzw. Abwenden ■ bestimmt Richtung & Handlungsabläufe ■ Vormachen ■ ausdrucksstarke Gestik ■ Rollen- und Regelbestimmung, ■ Übernahme der zentralen Rolle C Unterordnung ■ Abhängigkeit vom Anführer / von anderen ■ Mitläufer ■ »einer von vielen« ■ keine besondere Stellung ■ geringerer Sprechanteil ■ Zustimmung bzw. kompensatorische »Schlupflochsuche« ■ Einholen von Genehmigung / Einverständnis ■ Ausführung der Befehle ■ Folgen / Hinterherlaufen ■ Anpassen der eigenen Handlungsabläufe an die des Anführers ■ Missfallen signalisieren ■ Rollen- und Regelakzeptanz ■ Vorgaben werden beachtet D Nachahmung ■ Versuch Position eines anderen Gruppenmitgliedes nachzuahmen ■ abwartend ■ Nachsprechen ■ genaues Beobachten / Zuhören ■ ahmt Handlungsabläufe nach ■ dem Nachzuahmenden stets zugewandt ■ Nachahmung von Rollen, Benutzen von Gegenständen / Spielmaterialien, die andere auch haben E Ausschluss ■ (räumliche) Abgrenzung durch Gegenstände ■ Verlassen des Raumes ■ unwichtige / gar keine Position im Rollenspiel ■ Ignorieren des Gesagten ■ Ausschluss durch Wortwahl ■ geringer Sprechanteil ■ keine Identifikation mit Rollenspiel ■ Rückzug aus Geschehen ■ andere Tätigkeiten als die anderen ausüben ■ bewusstes Abwenden ■ kein/ e Interesse Möglichkeit an / zur Rollenübernahme ■ Regeln werden nicht beachtet Tab. 1: Charakteristische Merkmale für Rollenspiel-Typen [ 106 ] 3 | 2015 Forum Psychomotorik auch solche Rollen relevant zu sein, die eben nicht (sofort) ersichtlich sind. Darunter sind solche Rollen zu verstehen, die sich innerhalb der sozialen Interaktion bzw. der Gruppenprozesse hauptsächlich unbewusst abspielen (zum Beispiel die Rolle eines Anführers, eines Mitläufers o. ä.). Zwischen beiden Betrachtungsweisen von Rollen, also den thematischen und den sozialen, besteht ein zentraler Zusammenhang. Diese werden im Weiteren aufgezeigt und unter dem Aspekt des kindlichen Erlebens interpretiert. Ausgewählte Ergebnisse Rollenverhalten Anhand der Auswertung des videogestützten Materials zeigt sich, dass innerhalb von Gruppenprozessen während eines Rollenspiels bestimmte Handlungsmuster wiederholt zu beobachten sind. Diese fünf herausgestellten Handlungsmuster (Typen) können nahezu als strukturierend für ablaufende Gruppenprozesse im Rollenspiel angesehen werden. Demnach erleben Kinder das Rollenspiel durch ■ Gleichstellung (A) ■ Dominanz (B) ■ Unterordnung (C) ■ Nachahmung (D) ■ Ausschluss (E). Die Typen sind in Aufkommen, Dauer und personeller Zuordnung prinzipiell flexibel, sodass in derselben Rollenspielsequenz beispielhaft drei Typen koexistieren können. So können etwa ein dominantes Verhalten, ein untergeordnetes Verhalten und ein Ausschlussverhalten in ein und derselben Rollenspielsequenz parallel auftreten. Bezüglich der personellen Zuordnung könnte sich ein Kind zunächst als dominant erleben, im weiteren Verlauf des Rollenspiels wäre aber durchaus ein Wechsel denkbar, sodass es sich dann in Unterordnung erfährt. Dies ist innerhalb der Gruppenprozesse abhängig von verschiedenen Variablen, wie beispielsweise von der Gruppengröße, dem eigenen Selbstkonzept, der Beziehung zu anderen Gruppenmitgliedern, dem Themenbezug des Rollenspiels etc. Jeder der oben genannten fünf Typen wurde im Projekt anhand folgender Merkmale bestimmt: Positionierung, Kommunikation und Interaktion, Körperhaltung und Bewegung, Regelwerk und Rollenverteilung (Tab. 1). Ausgewählte Beispiele: Anna und Caroline Im Folgenden werden zwei anonymisierte Beispiele von Kindern angeführt, die sich in ihrem Rollenverhalten sehr markant unterscheiden. Das erste Beispiel bezieht sich auf ein Kind, welches sich während der gesamten Erhebungsphase durch nahezu ausnahmslose Kontinuität in seinem sozialen Rollenverhalten charakterisieren lässt. Das zweite Beispiel beschreibt den umgekehrten Fall, d. h. ein Kind, das sich durch eine hohe Flexibilität im sozialen Rollenverhalten auszeichnet. Durch diese Beobachtung konnte bei Rollenspielen mit dem Kind aus dem ersten Beispiel nicht nur das Aufkommen eines bestimmten Typus antizipiert werden, sondern gleichzeitig auch annähernd der grobe (Interaktions-)Verlauf eines Rollenspiels, ungeachtet der Thematik. Hingegen haben sich Rollenspiele mit dem Kind aus dem zweiten Beispiel ganz unterschiedlich entwickelt und es war vorab nicht zu bestimmen, welche Typen vorkommen könnten. Profil Anna Die 4-jährige Anna ist ein Mädchen ohne Geschwister, das häufig den (Spiel-)Kontakt zu Erwachsenen sucht. Gleichermaßen zeichnet sie sich allerdings auch durch eine hohe Affinität zum Rollenspiel aus, sodass sie während der Erhebung mehrmals täglich den Rollenspielraum aufsucht, um dort mit anderen Kindern zu spielen. Eine feste Spielpartnerpräferenz hat sich im Rahmen des Projekts für Anna nicht herauskristallisiert. Sie spielt mit jedem, der ihr zur Verfügung steht. Die hier verwendete Phrase jedem, der ihr zur Verfügung steht ist bewusst so gewählt, um das dominante Rollenverhalten von Anna hervorzuheben. Für jede videogestützte Rollenspielsequenz in der Anna vor- [ 107 ] Hegerath, Keller • »Ich kann sein, was ich will« - Die Bedeutung von Gruppenprozessen 3 | 2015 Regelwerk und Rollenverteilung Anna bestimmt die Rollenspielthematik, die thematischen Rollen und legt die Regeln fest. Sie artikuliert diese immer wieder, denn gelegentlich nimmt sie Regeländerung während des Spiels vor. Auf ein Aushandeln der Regeln lässt sich Anna immer dann ein, wenn das Rollenspiel zu scheitern droht oder ein Mitspieler sein Verlassen ankündigt. Ihr sind das Gelingen und die Fortdauer ihres Spiels wichtig, sodass sie auch auf die anderen Mitspieler eingeht und für die Aufrechterhaltung der Spielmotivation sorgt. Dieses typische Rollenspielverhalten von Anna darf keiner negativen Wertung unterzogen werden, denn es gelingt ihr, die Spiele häufig über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Außerdem gibt es zum Dominanz-Verhalten auch komplementäres Rollenspielverhalten anderer Kinder, die jenes von Anna nicht nur akzeptieren, sondern sogar befürworten und sich gerne unterordnen. Profil Caroline Die 4-jährige Caroline verhält sich gegenüber Erwachsenen meist unauffällig und beansprucht deren Aufmerksamkeit nur in solchen Fällen, in denen sie eine rechtschaffene Instanz für die Durchsetzung ihres Spielvorhabens benötigt. Bei ihr zeigt sich eine starke Spielpartnerpräferenz zu bestimmten Kindern, mit denen sie sehr häufig im Rollenspielraum zu beobachten ist. Ein typisches Spielverhalten von Caroline schlägt sich in der Provokation von Konfliktsituationen nieder. Ihr soziales Rollenverhalten ist so variabel, dass sie sich als Mitspielerin in verschiedenen Typen erlebt. Dies ist bei ihr hochgradig abhängig von der Gruppengröße und -konstellation. Positionierung In dyadischen und altershomogenen Spielkonstellationen begegnet Caroline ihrem jeweiligen Spielpartner auf Augenhöhe, kommt, lässt sich von Beginn an eindeutig der Typ Dominanz feststellen und die damit einhergehende Zuschreibung der Rolle der Anführerin. Unabhängig von Gruppengröße, Spielpartner, Spielthematik gelingt es Anna nahezu immer, diese soziale Rolle innerhalb einer Gruppe einzunehmen. Da der Typ Dominanz anhand der oben aufgeführten Merkmale bestimmt wurde, lässt sich für Annas Spielverhalten Folgendes prägnant zusammenfassen: Positionierung Anna legt ihre und die räumliche Positionierung der Mitspieler fest, sowohl zu Beginn, als auch während der Rollenspiele. Sie hebt ihre Position in der Regel hervor, indem sie sich in der Mitte oder auf einer Erhöhung positioniert. Sie kontrolliert die Positionseinhaltung der Mitspieler und maßregelt diese auch. Eine freie Positionsveränderung im Raum gilt meist nur für sie. Kommunikation und Interaktion Anna übernimmt in den Rollenspielen den größten Sprechanteil. Sie sagt Handlungsabläufe an, bestimmt und bewertet diese. Die Mitspieler haben diese zu befolgen, ansonsten werden sie verbal zurechtgewiesen. Für ihre Wortwahl sind Sätze beginnend mit »Ich will …«, »Du darfst …«, »Ihr müsst …«, »Nein, …« oder Ähnliches kennzeichnend. Körperhaltung und Bewegung In Spielsequenzen macht Anna häufig Handlungs- und Bewegungsabläufe vor, damit diese anschließend exakt von den Mitspielern nachgemacht werden können. Ihre Körperhaltung ist aufrecht und ihre Position im Raum für jeden gut sichtbar. Sie bestimmt ihre eigenen Bewegungen innerhalb des Raumes, aber auch die der anderen. Auf Verhalten von Mitspielern reagiert sie durch bewusstes Zu- und Abwenden. Eingriffe in und Korrekturen von Handlungsbewegungen der anderen Kinder sind üblich. [ 108 ] 3 | 2015 Forum Psychomotorik Erleben Das kindliche Erleben als eine emotionale Dimension im sozialen Rollenspiel ist für jeden Spielverlauf und für jede Konstitution von Gruppenprozessen von elementarer Bedeutung. Zudem ist das »Selbsterleben und Selbstwertgefühl […], von den Kindern aus gesehen, Dreh- und Angelpunkt ihrer Kompetenzentwicklung und Entwicklungsmotivation« (Thurmair / Naggl 2010, 23). Entwickelt sich das kindliche Erleben in eine Richtung des Unwohlseins, wird das betreffende Kind Kompensationsmöglichkeiten innerhalb des Spiels suchen, oder ggf. das Spiel verlassen. Da situatives Erleben der Kinder nicht zuletzt über die Körperhaltung, Bewegung, verbale und nonverbale Kommunikation und Interaktion zum Ausdruck kommt, ist der Einbezug dessen ein wesentlicher Anteil des Projekts. Verdeutlicht wird dies an der spezifischen Formulierung der Typen: Kinder erleben Rollenspiel durch Typ A bis Typ E. Dabei sei sich von dem Gedanken distanziert, dass Kinder sich dieses Erlebens immer bewusst sind oder dies explizieren. Vielmehr ist der Anspruch des Projekts, dieses »implizite Wissen zur Explikation zu bringen« (Bohnsack 2011, 19) und auf Erleben zu beziehen. Diese Zusammenführung von Erleben und Typ werden im Folgenden kurz dargestellt. In einem Rollenspiel des Typs Gleichstellung erleben sich Kinder als ebenbürtige Spielpartner. Auf der Grundlage eines harmonischen Aktion-Reaktion-Wechselspiels werden Vorschläge akzeptiert und angenommen, wodurch grundsätzlich positive Emotionen erzeugt werden. Somit empfinden die Kinder andere Ideen nicht als Positionsveränderungen führt sie ebenso aus wie der Partner (Typ Gleichstellung). Sie kann sich aber auch unterordnen, wenn sie großes Interesse am Spielthema hat und der Anführer seine Sache gut macht, lässt sie sich ihre Position auch vorgeben und ändert diese auf Wunsch des Anführers. Verliert sie das Interesse an einem Thema, wendet sie sich ab, verlässt den Raum oder fängt mit einer anderen Gruppe ein neues Spiel an. Kommunikation / Interaktion Caroline variiert ihre Sprechanteile je nach Typ. Erlebt sie sich in einem Rollenspiel des Typs Gleichstellung, gibt sie Ratschläge und Ideen weiter, nimmt diese aber auch gerne entgegen. Möchte sie ein Rollenspiel vorantreiben, zeigt sich bei ihr dominantes Rollenspielverhalten in Form von Unterbrechungen des Gesagten der anderen Spielteilnehmer und konkreten Ansagen zum Spielverlauf. Findet Caroline sich in einer Situation der Unterordnung wieder, macht sie den Spielführer auf Missachtung von Regeln durch andere Kinder aufmerksam. Körperhaltung / Bewegung In einem Gleichstellungssetting des Typs A signalisiert Caroline durch eine offene Körperhaltung und das Hinwenden zu ihrem Gegenüber, dass sie auf ihren Spielpartner reagiert. Erlebt sie sich in einer untergeordneten Position, verfolgt sie einerseits die Bewegungen des dominanten Mitspielers und passt ihre daran an. Andererseits bricht sie aus diesem Muster aus, wenn sie Langeweile empfindet oder ihr Abläufe nicht gefallen. Sie versucht dann alternative Handlungsstränge in die Spielsituation zu integrieren, indem sie bspw. andere Gegenstände aufnimmt. Regelwerk / Rollenverteilung Caroline hat ein sehr starkes Bewusstsein für Regeln und die Einhaltung dieser. Besonders als Anführerin einer Gruppe beharrt sie vehement auf den von ihr festgelegten Regeln und weist die anderen Teilnehmer wiederholt auf diese hin. Ein solches Verhalten übernimmt sie auch, wenn sie in einer untergeordneten Position agiert. Solange Carolines Interesse dem Spiel gilt, akzeptiert sie die Regeln und fügt sich in ihre thematische und soziale Rolle ein. Richtet sich ihre Aufmerksamkeit jedoch auf etwas anderes, verliert sie das Interesse an ihrer Rolle und beginnt, sich aus dem Spielgeschehen zurückzuziehen. [ 109 ] Hegerath, Keller • »Ich kann sein, was ich will« - Die Bedeutung von Gruppenprozessen 3 | 2015 störend oder als Angriff, sondern erfreuen sich an ihnen und daran, dass eine gemeinsame Umsetzung das Spiel vorantreibt. Für das Rollenspiel des Typs Dominanz ist kennzeichnend, dass sich die dominanten Kinder nicht selbst als dominant bezeichnen würden; vielmehr üben sie einen gewissen Einfluss auf den Spielablauf und die Gruppenmitglieder aus, dem sie sich wiederum bewusst sind. Dadurch erleben sie sich als Kinder, deren Vorstellungen umgesetzt werden in der Form, dass Mitspieler bspw. Anweisungen befolgen oder Verbote hinnehmen. Daraus resultiert eine Zufriedenheit, aber auch eine Verantwortung des Anführers aktiv das Spiel aufrechtzuerhalten. Eine andere Perspektive in Hinblick auf das Erleben in einer dominanten Rolle ist der Wunsch nach einem konstruktiven Spiel. Dies meint, dass Kinder nur so lange dominantes Verhalten zeigen, wie es das Spiel vorantreibt. Werden neue und bessere Ideen von anderen Spielteilnehmern vorgeschlagen, wird die dominante Rolle zugunsten des Spiels gerne abgegeben (Brandes 2011, 139). Hier kommt weder Missfallen noch Unzufriedenheit bei den Kindern auf, wie es womöglich bei dem erstgenannten dominanten Erleben sein könnte. Bei dem Rollenspieltyp der passiven Unterordnung sind negative Erlebensmomente für die Kinder charakteristisch. Ihren Wünschen und Vorstellungen wird i. d. R. keine Aufmerksamkeit geschenkt, was eine potenzielle Unzufriedenheit bei den Kindern auslöst. Die Kinder erleben sich in dieser Position demzufolge als ungerecht behandelt, weil sie den Drang haben, das Spielgeschehen, bspw. durch Auflehnungsversuche, zu beeinflussen. Das Scheitern dieser Versuche verstärkt die negativen Momente und wird von den Kindern häufig als beschämend erlebt. Dennoch ziehen sie die Unterordnung einem Ausschluss aus dem Spiel vor. In einer Spielsequenz, in der Kinder sich aktiv unterordnen, tun sie dies mit einem wohlwollenden Gefühl. Sie sind froh und glücklich darüber, dass es einen Spielteilnehmer gibt, der die Handlung und das Spiel bestimmt und begnügen sich damit, durch gelegentliche Hilfestellungen den Spielfortgang zu unterstützen. Resultierend aus dieser Zufriedenheit streben die Kinder daher keine soziale oder thematische Rollenveränderung an. Nachahmung, als ein Typ des Rollenspiels, kann verschiedene Emotionen bei den Kindern verursachen. Auf der einen Seite erfolgt Nachahmung anderer Kinder durch erlebte Unsicherheit, besonders wenn es sich um altersheterogene Gruppen und neue Situationen handelt. Unsicherheit ist in diesem Kontext nicht negativ konnotiert, denn der Nachgeahmte symbolisiert häufig ein Idol. Die nachahmenden Kinder haben Freude daran, das Gleiche zu tun wie der andere, insbesondere wenn es ihnen gelingt. Auf der anderen Seite kann Nachahmung durch einen anführenden Gruppenteilnehmer im Spielgeschehen erzwungen werden. Hier erleben sich die Kinder u. a. als eingeschüchtert und benötigen eine Rückmeldung oder Aufforderung zum Handeln. Ein nicht selbstgewählter Ausschluss geht grundsätzlich mit negativen Emotionen der Kinder einher. Sie oder ihre Anwesenheit wird offensichtlich nicht gewollt bzw. akzeptiert, sodass ein Ausschluss kommuniziert wird (»Du darfst nicht mehr mitspielen.«). Die Reaktion des Ausgeschlossenen nimmt verschiedene Formen an, von trauriger, stiller Akzeptanz und Verlassen des Raumes, bis hin zur Provokation und Störung des weiterlaufenden Rollenspiels. Mit einem freiwilligen, selbstgewählten Ausschluss können hingegen andere Empfindungen verbunden sein. Ein Ausschluss dieser Art könnte auf einen Interessensverlust des Kindes am Spiel zurückzuführen sein. Andererseits könnten durch Gruppenprozesse verursachte Gefühle wie Scham, Ärger, Wut oder Trotz der Auslöser für einen aktiven Ausschluss sein, um diesen Gefühlszuständen zu entkommen. Etwaige Absichten, wieder ins Spiel zurückzukehren, hängen oftmals davon ab, wie die anderen Gruppenmitglieder mit dem Ausschluss umgehen. Schaffen sie es, das negative Erleben in ein annehmbares umzuwandeln oder lassen sie sich auf Regeländerungen und / oder thematische Änderungen ein, wird häufig ein Zurückkommen angestrebt. Nachahmung kann verschiedene Emotionen bei den Kindern verursachen. [ 110 ] 3 | 2015 Forum Psychomotorik Bedeutung für die pädagogische Praxis Auch ohne das Vorhandensein eines speziell angelegten Raumes für soziales Rollenspiel kommen pädagogische Fachkräfte täglich mit dieser Spielform in Kontakt. Umso wichtiger ist es, sich mit kindlichem Rollenspiel auseinanderzusetzen und räumliche bzw. materielle Gegebenheiten zu schaffen, die für diese Spielform unterstützend und förderlich sein können. Im Hinblick auf die verschiedenen Typen, die sich während eines Rollenspiels herauskristallisiert haben, ist es für pädagogische Fachkräfte sinnvoll, die Gruppenprozesse innerhalb der Rollenspiele genauer zu betrachten. Welche Rollen nehmen die Kinder ein? Ist ein Kind in jedem Rollenspiel der Spielführer, der sich diese Rolle nicht streitig machen lässt? Hat ein Kind Schwierigkeiten sich durchzusetzen? Ist es zufrieden mit der sozialen Rolle des Nachahmers oder ist es zwar Mitläufer, zeigt jedoch die Tendenz, aus diesem Muster ausbrechen zu wollen? Das Rollenspiel als Ganzes, das Rollen-, Interaktions- und Spielverhalten, das Bewegungsverhalten der Kinder und nicht zuletzt der Umgang mit Materialien bzw. Räumlichkeiten können so für pädagogische Fachkräfte in vielerlei Hinsicht aufschlussreich sein. Durch genaues Beobachten lässt sich dann über das Kind einiges in Erfahrung bringen, z. B. über die Persönlichkeit, über das Selbstkonzept, über den Umgang mit Emotionen, über soziale Beziehungen und soziale Kompetenzen, über thematische Affinitäten / Probleme u. v. m. Dies kann die Fachkräfte dabei unterstützen, Kinder besser einschätzen zu können, verstehen zu lernen oder sogar eventuelle Förderbedarfe zu entdecken. Das Animieren und Initiieren von Rollenspielen sollte daher in den Alltag von Kindertagesstätten integriert werden, wobei die Selbstbestimmung bzw. Eigenaktivität der Kinder immer im Vordergrund stehen sollte. Weiterführend wäre interessant, ob sich die im Projekt entwickelten Typen auch auf andere Spielformen, wie etwa Konstruktionsspiel oder Regelspiel, übertragen lassen und ob die Kinder ihr Rollen- und Interaktionsverhalten dort beibehalten. Literatur Bohnsack, R. (2011): Qualitative Bild- und Videointerpretation. 2. Aufl. UTB, Stuttgart Brandes, H. (2011): Die Kindergruppe im Fokus. Beobachtung aus gruppenorientierter Perspektive. In: Cloos, P., Schulz, M. (Hrsg.): Kindliches Tun beobachten und dokumentieren. Beltz Juventa, Weinheim / Basel, 130-143 Thurmair, M., Naggl, M. (2010): Praxis der Frühförderung. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Die Autorinnen Helen Hegerath M. A. Erziehungswissenschaft, seit 2014 Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für Bewegungserziehung und Bewegungstherapie der Humanwissenschaftlichen Fakultät (Universität zu Köln) Sabrina Keller M. A. Erziehungswissenschaft, seit 2014 Leiterin des Studierenden Service-Center Heilpädagogik der Humanwissenschaftlichen Fakultät (Universität zu Köln) Anschrift Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl Bewegungserziehung Gronewaldstr. 2a D-50931 Köln h.hegerath@uni-koeln.de skeller5@uni-koeln.de
