motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2015.art05d
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Auf den Punkt gebracht: Wissen kompakt: Selbstkonzept
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Stefan Valkanover
Beim Lösen von Bewegungsaufgaben lernen Kinder ihre motorischen Kompetenzen kennen und einschätzen: »Kann ich mit geschlossenen Augen über den Balken gehen, ohne die Balance zu verlieren und herunterzufallen? Benötige ich dazu Hilfe? Bin ich zufrieden mit meinen Balancierkünsten?« Diese im Alltag oft implizit ablaufenden Einschätzungs- und Bewertungsprozesse – hier am Beispiel von motorischen Funktionen – stellen Bausteine dar, mit denen Kinder ein Bild von sich selbst entwerfen und so ein subjektives Modell ihrer Persönlichkeit aufbauen. Dieses sogenannte »Selbstkonzept« ist für die Entwicklung des Menschen wichtig, weil es eine verhaltensregulative Funktion hat. Es beeinflusst u. a., an welche Aufgaben sich eine Person heranwagt oder wie sich Menschen in eine Beziehung einbringen (Roebers 2007).
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[ 31 ] motorik, 38. Jg., 31-33, DOI 10.2378 / motorik2015.art05d © Ernst Reinhardt Verlag 1 | 2015 [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Wissen kompakt: Selbstkonzept Stefan Valkanover Beim Lösen von Bewegungsaufgaben lernen Kinder ihre motorischen Kompetenzen kennen und einschätzen: »Kann ich mit geschlossenen Augen über den Balken gehen, ohne die Balance zu verlieren und herunterzufallen? Benötige ich dazu Hilfe? Bin ich zufrieden mit meinen Balancierkünsten? « Diese im Alltag oft implizit ablaufenden Einschätzungs- und Bewertungsprozesse- - hier am Beispiel von motorischen Funktionen- - stellen Bausteine dar, mit denen Kinder ein Bild von sich selbst entwerfen und so ein subjektives Modell ihrer Persönlichkeit aufbauen. Dieses sogenannte »Selbstkonzept« ist für die Entwicklung des Menschen wichtig, weil es eine verhaltensregulative Funktion hat. Es beeinflusst u. a., an welche Aufgaben sich eine Person heranwagt oder wie sich Menschen in eine Beziehung einbringen (Roebers 2007). Zum Begriff: Das Selbstkonzept als naive Sicht auf sich selbst Die selbstreflexive Betrachtung der eigenen Person und Persönlichkeit kennt in der wissenschaftlichen Psychologie eine lange Tradition. William James unterscheidet bereits Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Schriften zum »Selbst« zwischen einem subjektbezogenen Iself und einem objektbezogenen Me-self (James 1890). Als wahrnehmendes, denkendes oder handelndes Subjekt ist der Mensch einerseits aktiver Beobachter der Welt (I-self ). Richtet er seine Beobachtungen auf die eigene Person, so wird er andererseits zum Objekt der Beobachtung (Me-self ). Wenn nun in der Folge vom Selbstkonzept die Rede ist, umfasst dies alle Zuschreibungen, Erkenntnisse und Ansichten über die eigene Person. In der neueren psychologischen Literatur wird das Selbstkonzept in Anlehnung an Mummendey (2006, 7) als »die Gesamtheit der auf die eigene Person bezogenen Beurteilungen und Bewertungen eines Individuums« verstanden. Je nach Provenienz der Autorenschaft, wird dabei die kognitive oder affektive Komponente dieser Selbstbilder unterschiedlich gewichtet: Filipp und Mayer (2005, 260) definieren das Selbstkonzept aus einer kognitivistischen Tradition als »selbstbezogenes Wissenssystem« und betonen dabei die zentrale Bedeutung kognitiver Prozesse im selbstbezogenen Wahrnehmen und Erkennen. In der Humanistischen Psychologie wird dagegen die evaluative Komponente des Selbstkonzepts herausgestrichen (z. B. Sonstroem / Morgan 1989) und das Selbstkonzept mit dem Selbstwertgefühl (Self-esteem) faktisch gleichgestellt. Mit Blick auf das unterschiedliche Verständnis des Terminus Selbstkonzept und der zum Teil synonym verwendeten Bezeichnungen Selbstbild, Selbstwahrnehmung, Selbstrepräsentation oder Selbstwertgefühl kann nach wie vor nicht von einem einheitlichen Begriffsverständnis in der Psychologie ausgegangen werden. Wie ist das Selbstkonzept aufgebaut? Gemäß den häufig rezipierten Modellvorstellungen von Shavelson et al. (1976) ist das Selbstkonzept multidimensional und hierarchisch strukturiert. Die Autoren teilen das allgemeine Selbstkonzept in ein akademisches und ein nicht-akademisches Selbstkonzept ein. Das in [ 32 ] 1 | 2015 Auf den Punkt gebracht diesem Beitrag interessierende nicht-akademische Selbstkonzept umfasst nach Shavelson et al. (1976, 413) die drei Dimensionen soziales, emotionales und physisches Selbstkonzept. Diese Dimensionen beinhalten je weitere Subdimensionen (z. B. »sportliche Kompetenz«). Die Subdimensionen werden wiederum unterteilt in nicht näher beschriebene Beispielfacetten. Durch evaluative Prozesse von spezifischen, erlebten Situationen verdichten sich diese Beispielfacetten zu subjektiven Wissensbeständen (s. Abb. 1). Shavelson et al. (1976) nennen neben der Multidimensionalität und der Hierarchisierung des Selbstkonzepts noch fünf weitere Eigenschaften von Selbstkonzepten: (1) Das Selbstkonzept weist eine bereichsspezifische Organisationsstruktur dahingehend auf, dass Individuen ihre Erfahrungen in entsprechende Dimensionen einbinden. (2) Das Selbstkonzept kann als relativ stabil betrachtet werden. Dabei sind Veränderungen auf tiefer Ebene (z. B. Beispielfacetten) einfacher möglich als auf höherer Ebene, wie beispielsweise beim veränderungsresistenten allgemeinen Selbstkonzept. (3) Das Selbstkonzept ist im Kindesalter noch eher global, undifferenziert und durch situative Einflüsse geprägt. Im Lauf der Entwicklung wird es aufgrund von zunehmend elaborierteren Informationsverarbeitungsprozessen mehrdimensional ausdifferenziert. (4) Da das Selbstkonzept aus Wissensbeständen über sich selbst besteht, beinhaltet es immer auch bewertende Anteile. (5) Das Selbstkonzept ist als Konstrukt unterscheidbar von ähnlichen theoretischen Konstrukten. Das von Shavelson et al. (1976) vorgelegte Selbstkonzept-Modell baut auf dem bis Mitte der 1970er-Jahre vorhandenen theoretischen und empirischen Wissen über selbstreflexive Prozesse auf und integriert diese zu einem empirisch überprüfbaren Modell. Die oben erwähnten Eigenschaften konnten allerdings bis anhin empirisch nur teilweise bestätigt werden. Relativ unbestritten ist jedoch die Bereichsspezifität (Unterscheidung zwischen einem akademischen und einem nicht-akademischen Selbstkonzept) und die hierarchische Struktur des Selbstkonzepts (Conzelmann et al. 2011, 42 f ). Obwohl Shavelson et al. (1976) Aussagen über die Bedeutung der Evaluation von situativen Erfahrungen für den Aufbau übergeordneter Selbstkonzeptdimensionen machen, wird die Genese des Selbstkonzepts nicht explizit beschrieben. Wie entwickelt sich die Sicht auf das »Selbst« im Kindesalter? Mit der Fähigkeit, sich als eigene Person auf Bildern oder in einem Spiegel zu erkennen, erwacht im Kleinkind ab ca. 12 Monaten die Fähigkeit zur Selbstrepräsentation. Ab ungefähr 3 Jahren sind Kleinkinder fähig, sich bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, die allerdings situativ gefärbt und unrealistisch überhöht sind. Klein- Generelles Selbstkonzept Peers Familie/ Bekannte Sportliche Kompetenz Körperliche Erscheinung Geschichte Biologie Mathematik Englisch Emotionale Zustände Akademisches Selbstkonzept Soziales Selbstkonzept Emotionales Selbstkonzept Physisches Selbstkonzept Nicht-akademisches Selbstkonzept Selbstwertgefühl Dimensionen Subdimensionen Beispielfacetten Abb. 1: Mehrdimensionales hierarchisches Selbstkonzeptmodell nach Shavelson et al. (1976, 413) [ 33 ] Valkanover • Wissen kompakt: Selbstkonzept 1 | 2015 kinder sind zudem noch nicht in der Lage, soziale Vergleiche und entsprechende Schlüsse auf sich selbst vorzunehmen. Im Vorschul- und insbesondere im Primarschulalter werden aufgrund der kognitiven Fortschritte und der Einbettung in soziale Strukturen mit Gleichaltrigen (Klassenverband) Selbstbeschreibungen komplexer und realitätsangemessener. Damit einher geht eine Zunahme an sozialen Vergleichen. Die eher globalen Beschreibungen der eigenen Person im Vorschulalter werden durch differenzierte Vorstellungen von individuellen Stärken und Schwächen abgelöst: »Ich bin gut im Sport, aber langsam beim Lesen« (Harter 2006; Roebers 2007). Welche Bedeutung hat das Selbstkonzept für die Psychomotorik? Psychomotorische Beeinträchtigungen manifestieren sich oft durch eine kritische (Selbst-) Bewertung und ein niedriges Selbstwertgefühl der betroffenen Kinder. Ängstliche oder unkoordinierte Handlungen im Bewegungsspiel mit Gleichaltrigen entwickeln sich zu existenziellen Sorgen von Kindern und Eltern. Wahrnehmungen verschieben sich weg vom motorischen Defizit zu persönlichkeitsbezogenen Einschätzungen. Das »Weshalb krieg ich den Basketball nie in den Korb rein? « wird bald zu »Ich bin ein Versager«. Dadurch kann Leidensdruck entstehen. Psychomotorische Förderung soll an dieser Stelle Abhilfe schaffen. Dabei wird der Aufbau von positiven Bewegungserfahrungen als zentrales Ziel angestrebt. Kinder lösen in der »Psychomotorik« unter pädagogisch-therapeutischer Begleitung Bewegungsaufgaben, die für ihr Entwicklungsthema relevant sind, die sie selbst und damit ihr »Selbst« betreffen. Aufgrund der multidimensionalen, hierarchischen Struktur des Selbstkonzepts kann davon ausgegangen werden, dass die Erweiterung von Bewegungserfahrungen und das damit einhergehende Kompetenzerleben zu einer positiven Beeinflussung des physischen Selbstkonzepts (sog. Körperkonzept) führen. Dieses Wissen über den eigenen Körper in Bewegung kann Ausgangspunkt für die Ausprägung des allgemeinen Selbstkonzepts (Selbstwert) sein (Sonstroem / Morgan 1989). Entsprechend bezeichnet Zimmer (2003) das Selbstkonzept als einen Schlüsselbegriff der psychomotorischen Förderung. Literatur Conzelmann, A., Schmidt, M., Valkanover, S. (2011): Persönlichkeitsentwicklung durch Schulsport. Theorie, Empirie und Praxisbausteine der Berner Interventionsstudie Schulsport (BISS). Huber, Bern Filipp, S.-H., Mayer, A.-K. (2005): Selbst und Selbstkonzept. In: Weber, H., Rammsayer, T. (Hrsg.): Handbuch der Persönlichkeitspsychologie und Differentiellen Psychologie. Hogrefe, Göttingen, 266- 276 Harter, S. (2006): The Self. In: Damon, W., Lerner, R. M. (Eds.): Handbook of child psychology: Vol 3. Social, emotional and personality development. 6th ed. John Wiley & Sons, New York, 505-570 James, W. (1890): The principles of psychology. Holt, New York, http: / / dx.doi.org/ 10.1037/ 11059-000 Mummendey, H. D. (2006): Psychologie des »Selbst«. Theorien, Methoden und Ergebnisse der Selbstkonzeptforschung. Hogrefe, Göttingen Roebers, C. M. (2007): Entwicklung des Selbstkonzeptes. In: Hasselhorn, M., Schneider, W. (Hrsg.): Handbuch der Entwicklungspsychologie. Hogrefe, Göttingen, 381-391 Shavelson, R. J., Hubner, J. J., Stanton, G. C. (1976): Self-concept: Validation of construct interpretations. Review of Educational Research 46, 407-441, http: / / dx.doi.org/ 10.3102/ 00346543046003407 Sonstroem, R. J., Morgan, W. P. (1989): Exercise and self-esteem: Rationale and model. Medicine and Science in Sports and Exercise 21, 329-337, http: / / dx.doi.org/ 10.1249/ 00005768-198906000-00018 Zimmer, R. (2003): Handbuch der Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Herder, Freiburg i. Br. Der Autor Dr. Stefan Valkanover Dozent für Sportpädagogik am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern sowie Ko-Leiter des Fachdidaktikzentrums Sport der Pädagogischen Hochschule Bern, Arbeitsschwerpunkt empirische Schulsportforschung unter spezieller Berücksichtigung von Erlebnispädagogik und Gewaltprävention Anschrift Dr. Stefan Valkanover Universität Bern Institut für Sportwissenschaft Fabrikstrasse 8 CH-3012 Bern stefan.valkanover@ispw.unibe.ch
