eJournals motorik 38/4

motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2015.art26d
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2015
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Ein psychomotorischer Blick auf die Neurowissenschaften

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2015
Ignaz Roob
Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte in der Aufklärung komplexer psychophysiologischer Zusammenhänge zur Persönlichkeitsentwicklung gemacht. Die Erkenntnisse stellen viele pädagogisch-psychologische (Entwicklungs-)Theorien und Interventionen auf den Prüfstand. Am Beispiel ausgewählter traditioneller Theorien zur sozial-emotionalen Entwicklung werden daher einige Bezüge zu Erkenntnissen der Neurobiologie aufgezeigt und mit motopädischen / psychomotorischen Intentionen verglichen.
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Zusammenfassung / Abstract Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte in der Aufklärung komplexer psychophysiologischer Zusammenhänge zur Persönlichkeitsentwicklung gemacht. Die Erkenntnisse stellen viele pädagogisch-psychologische (Entwicklungs-)Theorien und Interventionen auf den Prüfstand. Am Beispiel ausgewählter traditioneller Theorien zur sozial-emotionalen Entwicklung werden daher einige Bezüge zu Erkenntnissen der Neurobiologie aufgezeigt und mit motopädischen / psychomotorischen Intentionen verglichen. Schlüsselbegriffe: sozial-emotionale Entwicklung, Persönlichkeitsentwicklung, Bindung, psychoneurale Grundsysteme, Neurowissenschaften A Psychomotor View on Neuroscience During the last few decades there has been notable progress in the clarification of complex psychophysiological correlations in terms of personality development. These findings put many educational-psychological (developmental) theories and interventions to the test. Using the example of selective traditional theories of social-emotional development several references to neurobiological findings are depicted and compared to psychomotor intentions. Key words: social-emotional development, personality development, psychoneural systems, neuroscience [ TiTelRubRik ] 4 | 2015 motorik, 38. Jg., 164-##, DOI 10.2378 / motorik2015.art## © Ernst Reinhardt Verlag [ 164 ] 4 | 2015 motorik, 38. Jg., 164-170, DOI 10.2378 / motorik2015.art26d © Ernst Reinhardt Verlag [ 164 ] [ FoRum PsychomoToRik ] Ein psychomotorischer Blick auf die Neurowissenschaften ignaz Roob Psychologische und (verhaltens-)biologische Theorien zur Persönlichkeitsentwicklung haben eine lange Tradition. Sie werden in diesem Beitrag beispielhaft skizziert und mit modernen neurobiologischen Forschungsergebnissen verglichen. Dies zielt darauf ab, das für Psychomotoriker bedeutsame »Leib-Seele-Problem« aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und Grundsätze psychomotorischer Arbeit in diesen Kontext einzubetten. Traditionelle Entwicklungsmodelle zum sozial-emotionalen Erleben Die sozial-emotionale Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter hat grundlegende Bedeutung für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung. Den im Folgenden kurz skizzierten Modellen ist gemeinsam, dass die Einstellung zur Welt maßgeblich davon abhängt, wieweit ab frühester Kindheit die soziale Umgebung als stabil und verlässlich - bezogen auf die kindlichen Primärbedürfnisse - erlebt wurde. Tabelle 1 zeigt aus psychoanalytischer Sicht Zusammenhänge zwischen Entwicklung und »Charakterbildung«. In der Vertikalen sind als Zeitlinie die kritischen Phasen kindlicher Entwicklung aufgeführt, die Horizontale verdeutlicht die Modifizierungen der Freudschen Annahmen (1. Spalte) durch E. H. Erikson (2. Spalte) und F. Riemann (3. Spalte). Die Beschreibung der Phasen orientiert sich vornehmlich an Erikson (1971) und Riemann (2013). Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud hat sehr gründlich beschrieben, wie tief frühkindliche Erfahrungen mit lustbesetzten Körperregionen sich verfestigen und zu bleibenden Charaktereigenschaften werden können (Charakter (gr.) = das »Eingeprägte«). In der psychosexuellen Entwicklung manifestieren sich, je nach Befriedigung primärer Bedürfnisse durch unmittelbare Bezugspersonen, allmählich die »Grundformen der Angst« (Riemann 2013) in den vier großen Persönlichkeitsstrukturen der Schizoidie (»Angst vor Nähe / Hingabe«), Depression [ 165 ] Roob • Ein psychomotorischer Blick auf die Neurowissenschaften 4 | 2015 (»Angst vor Selbstwerdung«), Zwanghaftigkeit (»Angst vor Veränderung«) und Hysterie (»Angst vor Notwendigkeit«). Erikson (1971) hat als Psychoanalytiker und Pädagoge das Phasenmodell Freuds wesentlich modifiziert, indem er die soziale Einbettung psychodynamischer Regelungen besonders hervorgehoben hat. Er beschreibt insgesamt acht Stadien der Persönlichkeitsentwicklung, in denen bedeutsame Krisensituationen zwischen den Polen »eher gelungen« vs. »eher misslungen« zu bewältigen sind. Als Ergänzung zu den psychoanalytischen Modellen wird das von Grossmann (1977) erstmals Sozial-emotionale / psychosexuelle Entwicklung Zeit Freuds Phasenmodell der sexuellen Entwicklung Eriksons Phasenmodell der Polaritäten Frühe Angstbewältigung und »Charakter« (nach Riemann) Geburt bis ca. 1 ½ Jahre Orale Phase: Mundzone: Saugen als Lustbefriedigung und Welterleben, Projektion, Mutter-Kind- Dyade / Symbiose, Einverleiben und Zubeißen Seligkeit des Saugens und Hölle des Alleinseins Urvertrauen gegen Urmisstrauen: Befriedung primärer Bedürfnisse, Zufriedenheit, Sicherheit in der Welt gegen Misstrauen, Schmerz, Schuld, Resignation Schizoidie (Angst vor Abhängigkeit): Distanz-Nähe-Konflikt (Symbiose-Separation) »Ich habe dich zum Fressen gern.« Depression (Angst vor Eigenständigkeit) Ab ca. 6 Mon. erste Ablösung und Zahnen »Ich bin nichts.« Ca. 1 ½ Jahre bis 3 Jahre Anale Phase: Willkürliche Beherrschung des Schließmuskels Sauberkeitserziehung; Trotz, Ordnung, Sparsamkeit, Eigensinn, ÜBER-ICH Autonomie gegen Scham und Zweifel: Sicherheit im Umgang mit Körperfunktionen, Stolz auf Beherrschung des Schließmuskels gegen Beschämung und Ekel (»das ging in die Hose«), Angst vor Kontrollverlust Zwang / Anankasmus (Angst vor Fliehkraft): Festhalten-Loslassen-Konflikt; »Ordnungsfanatismus«, Prinzipienreiter, Waschzwang, Zählzwang »Ich brauche Kontrolle.« Ca. 3-6 Jahre Phallische Phase: Ödipuskomplex und Kastrationsangst, Identifikation mit dem Aggressor Initiative gegen Schuldgefühl: Zielstrebigkeit und Planung, »Realitätssinn« gegen Ohnmachtsgefühle, Traumschlösser, Macht- und Rivalitätsprobleme, Lähmung oder Großtuerei Hysterie (Angst vor Schwerkraft): Flüchten-Standhalten-Konflikt Theatralik, Geltungssucht, Konversion »Alles ist ein Spiel.« Ca. 6 Jahre bis Pubertät Latenzperiode: Abklingen der körperbezogenen sexuellen Energien Leistung gegen Minderwertigkeitsgefühl: Zuwendung zur Außenwelt Tab. 1: Entwicklungsrichtungen und Persönlichkeitsstruktur nach Freud, Erikson und Riemann (eigene Darstellung) [ 166 ] 4 | 2015 Forum Psychomotorik vorgestellte verhaltensbiologische Phasenmodell herangezogen. Dieses fokussiert Bindung und Lernhaltung als Grundlagen sozialer Kompetenzentwicklung (Abb. 2). Ausgangsmotive der sozialen Kompetenzentwicklung sind Angst und Sicherheit, wobei Sicherheit als »Abwesenheit von Angst« (Grossmann 1977, 159) definiert ist. Vom ersten Lebenstag an sendet das Neugeborene Kontaktsignale (z. B. Weinen, Schreien, Anklammern), die von den primären Bezugspersonen angenommen oder abgelehnt werden können. Die größte Sicherheit und Befriedigung des Kontaktbedürfnisses erfährt das Kind durch Reizung des vestibulären Systems (Schaukeln), dann das Anlegen an die Schulter (Hautkontakt), ruhiges Zureden, Schmusen und leichtes Wippen. Aus den Ausgangsmotiven entwickelt sich ein Bindungsverhalten als feines Zusammenspiel zwischen Kind und Bezugsperson(en). Vermeidungsstrategien (Mother-Avoiding) und Ablehnung der Kontaktsignale erzeugen im Kind Unsicherheit, die Soziale-Kompetenzentwicklung: -Bindung-und-Lernerhaltung- -I- Ausgangs‐- motive- - - II- Bindung- - - - III- Handlungs‐- tendenz- - - IV- Rückmel‐- dung- - - - V- Lern‐- haltung- - - Weitere-Erfahrungen-mit-konkreten,-sozialen-und-abstrakten-Ereignissen- - Angst-(z.B.-durch-Hunger,-Durst,-Alleinsein) Sicherheit-(z.B.-durch-Schaukeln,-Anlegen,- Schmusen,-Zureden)- UNSICHER-(Mother‐Avoiding-=-Bezugsperson-entzieht -sich-den-Kontaktsignalen)- - - - - - - SICHER- (Mother‐Approaching-=-Bezugsperson- geht-konstant-Kontakt-ein)- Aktiviertes-Bindungsbedürfnis-(angstmotiviert)-= Kind-klammert- Aktivierte-Neugier- (sicherheitsmotiviert)-=-Kind-löst-sich-‘von-allein‘,-erobert- Annahme-durch-die Bezugsperson- Abweisung-durch-- die-Bezugsperson- Entmutigung-durch-die- Bezugsperson- Ermutigung/ Unter‐- stützung-durch-die-Bezugsperson- NEOPHILIE: -Freude-an-Neuem,-aktives-Lernverhalten,-Tendenz-zu Ausprobieren,-Erfahren,-Erkunden,-wachem-Beobachten,- NEOPHOBIE: -Angst-vor-- - - - zukunftsgerichtetem-Planen,-schnellem-- Neuem,-passives-Lernverhalten,-Tendenz-- - - Gewöhnen/ Umstellen- zur-Konstanterhaltung-der-Umwelt,-Vermeidungsplanen,- langsames-Gewöhnen/ Umstellen- Abb. 1: Verhaltensbiologisches Modell, Bindung und Lernhaltung (Grossmann 1977) [ 167 ] Roob • Ein psychomotorischer Blick auf die Neurowissenschaften 4 | 2015 es instinktiv durch mehr Aktivität zu mindern sucht. Nähe der Mutter (Mother-Approaching) mit angstreduzierenden Aktivitäten vermindert die bedrängenden Kontaktsignale. Die Handlungstendenz des Kindes resultiert zum großen Teil aus dem Bindungsverhalten. Eine unsichere Bindung aktiviert das Bindungsbedürfnis und blockiert Selbständigkeit und Neugier. Eine sichere Bindung aktiviert Entdeckungslust und Erkundungsverhalten. Kinder entdecken also nur, wenn sie sich ihrer Bezugsperson(en) sicher sind. Handlungstendenz und spätere Lernhaltung werden noch einmal gefiltert durch das Rückmeldeverhalten der Bezugspersonen. Wird das kindliche Streben nach Sicherheit und Bindung (aktiviertes Bindungsbedürfnis) abgewiesen, kommen Kind und Bezugsperson in eine ausweglose Situation: Je mehr die Bezugsperson das Kind »selbstständig« machen will (»du bist doch schon groß«), umso stärker fühlt es sich weggestoßen und reagiert mit noch mehr Klammern. Auch die aktivierte Neugier des Kindes bei einer sicheren Bindung kann noch modifiziert werden. Z. B. durch Ignorieren der kindlichen Aktivitäten, was entmutigend wirkt, jedoch bereits entwickelte Entdeckungslust nicht gänzlich hemmen kann. Als Lernhaltung aus den jahrelangen Sozialerfahrungen resultiert laut Grossmann eine eher neophobe Einstellung zur Welt (Angst vor neuen Personen, Situationen und Gegenständen) oder neophile im Sinne von aktivem Erkunden der Umwelt, schnellem Umstellen in neuen Situationen und Freude an Neuem. Neurobiologische Grundsysteme der Persönlichkeitsentwicklung Sigmund Freuds Traum war es, dass seine Beobachtungen und Theorien irgendwann physiologisch-wissenschaftliche Bestätigung erfahren würden. Schließlich war er Arzt. Die heutigen Verfahren von Neurobiologen erlauben unmittelbare Einsichten in die Gehirntätigkeit und sollen daher kurz beschrieben werden. Roth / Strüber (2014, Klappentext) stellen dar, wie aus moderner neurobiologischer Sicht »das Psychische im Gehirn entsteht, wie sich dabei unsere Gefühlswelt, unsere Persönlichkeit und unser Ich formen«. Die Hirnaktivität kann über verschiedene bildgebende Verfahren, z. B. die funktionelle Magnet-Resonanz-Tomografie (fMRT), präzise abgebildet werden. Für die Entwicklung der Persönlichkeit spielt das limbische System (als »Sitz der Seele«) eine besondere Rolle. Es generiert auf einer unteren Ebene angeborene biologisch sinnvolle Verhaltensweisen wie Flucht, Erstarrung, Verteidigung / Aggression (Stressregulation) sowie elementare Gefühle wie Freude, Wut und Trauer. Auf mittlerer Ebene werden vornehmlich frühkindliche Bindungserfahrungen abgespeichert. Die obere Ebene entwickelt aus weiteren Sozialisationserfahrungen die Fähigkeit zur Impulshemmung, zum Belohnungsaufschub, zur Frustrationstoleranz und zur Empathie, »insbesondere auch die Fähigkeit, die möglichen Konsequenzen des eigenen Handelns abzuwägen und Risiken realistisch einzuschätzen« (Roth / Strüber 2014, 93). Die »Sprache der Seele«, die »neurochemische Kommunikation«, geschieht durch vielfältige erregende oder hemmende Interaktionen verschiedener Neurotransmitter (Botenstoffe). Besonders bekannt sind das Stresshormon Cortisol, das Bindungshormon Oxytocin sowie Serotonin, Dopamin und verschiedene endogene Opioide. Diese neurobiologischen Forschungsschwerpunkte gewähren inzwischen naturwissenschaftliche Einblicke in psychische Befindlichkeiten, d. h. in unsere Art des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns. In der Interpretation der »bunten Bilder« und der verschiedenen Wechselwirkungen der Neurotransmittersysteme bleibt großer Diskussionsbedarf, der zum Teil transdisziplinär (fachübergreifend) in der Medizin, der Psychologie und Philosophie Fachvertreter auf den Plan ruft (Tretter 2014; Roth / Strüber 2014; Hüther 2015). Auf einer Metaebene entwickeln Roth / Strüber aus den derzeitigen neurobiologischen Erkenntnissen »sechs psychoneuronale Grundsysteme, welche die Persönlichkeit und psychische Verfasstheit eines Menschen bedingen« (Roth / Strüber 2014, 144). Diese Grundsysteme zeigen vielfältige Überschneidungen sowohl zu den oben [ 168 ] 4 | 2015 Forum Psychomotorik skizzierten Entwicklungsmodellen als auch zu Vorstellungen psychomotorischer Begleitung. Daher werden sie zum »Abgleich« ausführlicher vorgestellt. 1. Das Stressverarbeitungssystem Auf unerwartete Dinge und Belastungen reagiert der Organismus sekundenschnell mit zahlreichen biochemischen Umstellungen. Aus anfänglich biologisch verankerten sinnvollen Stereotypien der Stressreaktion (Flight or Fight - Hau ab oder drauf ) werden allmählich sozial sinnvolle Formen der Stressverarbeitung (Challenge - Herausforderung). Sie erlauben uns zunehmend, unklare Situationen differenziert einzuschätzen und zu bewältigen. 2. Das interne Beruhigungssystem Es »bildet sich in engem Zusammenspiel mit der Stressachse aus und ist damit umso funktionstüchtiger, je besser das Stressverarbeitungssystem entwickelt ist« (Roth / Strüber 2014, 146). Eine Hauptrolle spielt hier das Hormon Serotonin. Dieses wirkt dämpfend und beruhigend und ist an der Unterdrückung von Handlungsimpulsen beteiligt ist. 3. Das interne Bewertungs- und Belohnungssystem Hier werden angenehme Erfahrungen abgespeichert, die mit Befriedigung und Lust verbunden sind. Als »Lustzentrum« gilt der Nucleus accumbens als Ort positiver Gefühle und Gegenspieler der Amygdala, die bei eher negativen Gefühlen, wie Wut und Ärger aktiv ist. Über die unmittelbare Erfahrung der »Lust« hinaus entwickelt sich allmählich ein von Dopamin abhängiges Belohnungserwartungssystem, das sowohl Gewinn als auch Risiko einer Belohnung abschätzt. Aber: »Was wir letztlich als Belohnung ansehen und wie sehr wir sie erwarten, kann so verschieden sein wie das Leben jedes Einzelnen selbst« (Roth / Strüber 2014, 148). 4. Das Impulshemmungssystem In Erweiterung des internen Beruhigungssystems geht es hier um Triebaufschub und Frustrationstoleranz. »Daher müssen Impulshemmung und Toleranz gegenüber Belohnungsaufschub oder nicht gleich abzustellenden Widrigkeiten vom ersten Lebensjahr an bis ins Erwachsenenalter hinein entwickelt werden - ein meist mühsamer Prozess« (Roth / Strüber 2014, 148). Neurobiologisch beteiligt sind sowohl Reifungsprozesse des limbischen Systems (Stirnhirn und Amygdala) als auch die zunehmend differenziertere Freisetzung der Hormone Dopamin und Serotonin. 5. Das Bindungssystem Dies ist wohl das am gründlichsten erforschte System. Neurobiologisch geht es hierbei um »ein kompliziertes Zusammenspiel von Oxytocin, endogenen Opioiden, Vasopressin, Dopamin und weiteren neurochemischen Stoffen« (Roth / Strüber 2014, 374). Dieser Neurochemiecocktail wird immer dann ausgeschüttet, wenn in entwicklungsbedingten Notsituationen die »helfende Hand« primärer Bezugspersonen angstreduzierend eingreift und eine sichere Bindung begünstigt. Dieses Phänomen wurde bereits von Grossmann (s. o.) beschrieben. Auch der aus meiner Sicht entscheidende Wechsel von Bindungszu Explorationsverhalten wird diesem System zugeordnet: »Bindungsverhalten und Exploration stehen in einem dynamischen Gleichgewicht. […] In Anwesenheit der Mutter des gebundenen Kindes wird das Gleichgewicht in Richtung Exploration verschoben: Das Kind kann ungestört seine Umgebung erforschen. Die Mutter stellt in solchen Situationen eine sichere Basis dar, von der aus das Kind seine Umgebung erforscht und zu der es bei Bedarf zurückkehren kann« (Roth / Strüber 2014, 168). 6. Das System des Realitätssinns und der Risikobewertung Das sechste System beschreibt den Sozialisationsprozess bis ins frühe Erwachsenenalter mit der Erwartung, »dass junge Leute (hoffentlich) langsam ›zu Vernunft und Verstand‹ gekommen sind und zunehmend die Entscheidender Wechsel von Bindungszu Explorationsverhalten [ 169 ] Roob • Ein psychomotorischer Blick auf die Neurowissenschaften 4 | 2015 Konsequenzen ihres Handeln bedenken« (Roth / Strüber 2014, 151). Die »therapeutische Allianz« und der »Placeboeffekt« Neurobiologische Erkenntnisse zielen nicht nur auf Theorien der Persönlichkeitsentwicklung ab, sondern beschäftigen sich auch mit den brisanten Themen psychischer Störungen und psychotherapeutischer Wirksamkeitsstudien. Aus neurobiologischer Sicht verändern sich im Therapieprozess einige Neuromodulatoren, insbesondere das Oxytocin. Diese führen zur Senkung des Cortisolspiegels (erhöhte Stresstoleranz) und größerer innerer Ruhe (erhöhter Serotoninspiegel),«was durch die vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Therapeut, seine Ermutigungen und Ratschläge hervorgerufen wird« (Roth / Strüber 2014, 364). Diese »therapeutische Allianz« besagt, »dass freundliche, lobende oder aufmunternde Worte, aber auch nichtverbale Kommunikation wie Blicke, Gestik, Mimik und sanfte Berührungen die Ausschüttung positiver neuroaktiver Substanzen wie etwa endogener Opioide, Serotonin und Oxytocin auslösen können« (Roth / Strüber 2014, 356). Offensichtlich und vielfach nachgewiesen ist, dass diese neurobiologischen Effekte, z. B. die vermehrte Ausschüttung von Oxytocin, in jeder Beziehungssituation wirken (können). Eine aus meiner Sicht revolutionäre Erkenntnis: (psychische) Interaktions- und Beziehungsmuster wirken mehr oder weniger unmittelbar auf den Gesamtorganismus und bewirken neurobiologische Veränderungen. Das jahrtausendealte »Leib-Seele-Problem« erfährt nun auch naturwissenschaftliche Beachtung und transdisziplinär durchaus kompatible und kommunizierbare »Lösungen«. Auch der in der Vergangenheit von Naturwissenschaftlern eher beiläufig bis abfällig diskutierte »Placeboeffekt« erfährt eine neurobiologische Aufwertung: Hierzu liegen inzwischen ausgefeilte Untersuchungen vor (Goette 2014). So liegen z. B. Ergebnisse zu »Placebo-« und »Nocebo«-Effekten vor, also reinen »Gedankenerwartungsspielen«, die nicht nur subjektiv eine veränderte Schmerzwahrnehmung bewirken, sondern auch tiefe neurobiologische Spuren (im fMRT nachgewiesen) hinterlassen. Gleiches gilt für verschiedene Meditationstechniken und Effekte »positiven Denkens«. »Dieses häufig als Placeboeffekt bezeichnete Phänomen (der therapeutischen Allianz, Anm. d. Verf.) ist oft hochwirksam und besteht aus neurobiologischer Sicht in einer deutlich erhöhten Ausschüttung von Oxytocin und endogenen Opioiden, was stärkend auf das Selbstberuhigungssystem und das Belohnungssystem wirkt und die Stressreaktion abschwächt« (Roth / Strüber 2014, 376). Konsequenzen für psychomotorisches Arbeiten »Vielleicht werden bald Neurobiologen die ›alten‹ Ideen der Psychomotorik bzw. Motopädie mit ihren wissenschaftlichen Möglichkeiten und Konzepten vehement vertreten, weiterentwickeln und untermauern« (Roob 2013, 153). Besonders bemerkenswert (und ermutigend) ist aus meiner Sicht die Nähe der beschriebenen neurobiologischen Erkenntnisse zu einigen psychomotorischen / motopädischen Vorstellungen und Grundsätzen kindgemäßer Entwicklung und Entwicklungsbegleitung. Ist doch die »Grundlage für motopädisches Handeln das Erfahren und Begreifen der Einheit von Wahrnehmen, Bewegen und Erleben in konkreten raum-zeitlichen Bezügen (psychomotorische Einheit). Im Laufe der persönlichen Entwicklung gestaltet sich das Zusammenspiel dieser Funktionen in der Auseinandersetzung mit der dinglichen und sozialen Umwelt. So verläuft die Entwicklung der psychomotorischen Fähigkeiten in enger Verbindung mit der Persönlichkeitsentwicklung. Eine Förderung verzögerter oder beeinträchtigter psychomotorischer Funktionen sollte darum als einfühlsamer, nachempfindender Beziehungsprozess Nähe neurobiologischer Erkenntnisse zu psychomotorischen / motopädischen Vorstellungen und Grundsätzen [ 170 ] 4 | 2015 Forum Psychomotorik gestaltet werden« (Fachschule für Bewegungstherapie 1997, 4). Angstvoll gehemmte oder aggressive Kinder werden z. B. in neuen Situationen zunächst ihr nicht befriedigtes Bindungsbedürfnis aktivieren, um sich der äußeren und inneren Nähe der neuen Person zu vergewissern. Der Erfolg einer psychomotorischen Förderung / Therapie hängt daher m. E. entscheidend davon ab, wieweit es besonders in der Anfangsphase gelingt, die kindlichen Aktivitäten als Suche nach Sicherheit und Vertrauen anzuerkennen und durch eine akzeptierende und wenig lenkende Haltung zu unterstützen. Gerade in den ersten Stunden wird das Kind die bislang erfolgreichen Strategien der Angstbewältigung ausagieren und sehr gründlich testen, wie viel Sicherheit, Nähe und Wärme die neue Bezugsperson zu geben bereit ist. So schwer es sein mag: Ein Kind, das sich erst einer zuverlässigen Umgebung und Beziehung (z. B. zur Motopädin oder zum Motopäden) vergewissern muss, lässt sich auch durch das schönste Spielzeug und Übungsangebot nicht »wegmotivieren«. Es wird erst dann offen für neue Erfahrungen sein, wenn dem Bedürfnis nach Sicherheit, Verlässlichkeit und Nähe stattgegeben wurde. Vielleicht liegt darin das Geheimnis mancher guter TherapeutInnen, deren Kinder anscheinend »plötzlich« und »ganz von selbst« neugierig werden und - im Gegensatz zu davor - kaum mehr zu bremsen sind vor konstruktiver Aktivität und Zuwendung zu den Dingen. Wer eine kleine sichere (Beziehungs-)Basis hinter sich weiß, wird von selbst weggehen, um die Welt zu entdecken (z. B. am Ende einer geglückten Förderung / Therapie). Dabei wird »die entscheidende Rolle der vertrauenswürdigen und einfühlsamen Persönlichkeit des Therapeuten […] niemand ersetzen können« (Roth / Strüber 2014, 384.). Literatur Erikson, E. H. (1971): Kindheit und Gesellschaft. 4. Aufl. Klett, Stuttgart Hüther, G. (2015): Etwas mehr Hirn, bitte. Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Goette, S. (2014): Die Heilkraft des inneren Arztes. Dokumentarfilm. Auditorium Netzwerk, Müllheim- Baden Grossmann, K. E. (1977): Entwicklung der Lernfähigkeit. Kindler, München Fachschule für Bewegungstherapie (1997): Schulprospekt. Eigenverlag. Dortmund Riemann, F. (2013): Grundformen der Angst. 41. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Roob, I. (2013): 30 Jahre psychomotorische Lehr- und Lernerfahrungen an der Motopädieschule in Dortmund. In: Krus, A., Jessel, H. (Hrsg.): Psychomotorik im Bildungskontext. AKL, Lemgo, 123-133 Roth, G., Strüber, N. (2014): Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta, Stuttgart Tretter, F. (2014): Brücke zum Bewusstsein. Warum es sich lohnt, das Gehirn einzuschalten, bevor man selbiges erforschen will. Der Spiegel 69, 9, 122- 124 Der Autor Dr. Ignaz Roob Sport-/ Lateinlehrer, Dipl.-Psychologe, Humanbiologe, langjähriger (stellvertretender und) Schulleiter des Ernst-Kiphard- Berufskollegs für Motopädie in Dortmund; seit 2008 im Ruhestand Anschrift Dr. Ignaz Roob Kettlerskamp 10 D-44269 Dortmund maleclig@aol.com