motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2015.art28d
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Wissen kompakt: Stress
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Ignaz Roob
Stress wird häufig als Auslöser unangenehmer Gefühle und Ursache vielfältiger psychophysischer Krankheiten gesehen. Entsprechend richtete sich in der älteren Stressforschung das Hauptinteresse darauf, die Faktoren (Stressoren) und Folgen krankmachender Stresssituationen (Wirkung von Stressoren) zu erforschen. Inzwischen geht die Stressforschung neue Wege: Nicht die Vermeidung von Stress, sondern die subjektiv erlebte erfolgreiche Bewältigung von Stresssituationen stärkt Menschen. In Belastungssituationen können Strategien aktiviert werden, die das ursprüngliche Gefühl der Angst vor neuen Situationen allmählich verändern in Gefühle der NEU-GIER (Lust auf Neues), Entdeckungsfreude und Selbstbehauptung. Begleitet werden solche Umstellungsprozesse von tiefgreifenden Veränderungen der neurophysiologischen Körperorganisation. Die Stressbewältigungsstrategien bilden sich personenspezifisch und können durch behutsame motopädische / psychomotorische Begleitung wesentlich unterstützt werden [...]
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[ Auf den Punkt GebrAcht ] [ 181 ] motorik, 38. Jg., 181-185, DOI 10.2378 / motorik2015.art28d © Ernst Reinhardt Verlag 4 | 2015 Wissen kompakt: Stress Stress will bewältigt sein, z. b. durch psychomotorische begleitung Ignaz roob Stress wird häufig als Auslöser unangenehmer Gefühle und Ursache vielfältiger psychophysischer Krankheiten gesehen. Entsprechend richtete sich in der älteren Stressforschung das Hauptinteresse darauf, die Faktoren (Stressoren) und Folgen krankmachender Stresssituationen (Wirkung von Stressoren) zu erforschen. Inzwischen geht die Stressforschung neue Wege: Nicht die Vermeidung von Stress, sondern die subjektiv erlebte erfolgreiche Bewältigung von Stresssituationen stärkt Menschen. In Belastungssituationen können Strategien aktiviert werden, die das ursprüngliche Gefühl der Angst vor neuen Situationen allmählich verändern in Gefühle der NEU-GIER (Lust auf Neues), Entdeckungsfreude und Selbstbehauptung. Begleitet werden solche Umstellungsprozesse von tiefgreifenden Veränderungen der neurophysiologischen Körperorganisation. Die Stressbewältigungsstrategien bilden sich personenspezifisch und können durch behutsame motopädische / psychomotorische Begleitung wesentlich unterstützt werden. Die Reaktionskette im Stressverarbeitungssystem In jeder bedrohlichen unklaren Situation kommt es neurobiologisch zu einer kaskadenförmig verlaufenden Stressreaktionskette: In einer ersten schnellen Reaktionskette erfolgt zunächst eine unmittelbare Stressantwort, die mit (Signal-) Angst verbunden ist. Der Körper wird in Sekundenschnelle in die Lage versetzt, stereotyp, aber biologisch angemessen auf die Bedrohung zu reagieren. Die Umstellungen unterstützen ein entwicklungsgeschichtlich uraltes und bewährtes Reaktionsmuster, nämlich das »Flight-Fight-Freezing-System« (»Hau ab oder drauf oder erstarre«, Gray 1990, zit. in Roth / Strüber 2014, 187). Diese Reaktionen erfolgen u. a. durch die Wirkung des Sympathikus, also des auf körperliche Arbeit vorbereitenden (ergotropen) Teil des vegetativen (unwillkürlichen) Nervensystems. Er setzt im Nebennierenmark die Neurotransmitter Adrenalin und Noradrenalin frei. Die (kurzfristigen) Wirkungen der Hormonfreisetzungen sind: ■ Steigerung der Herzfrequenz ■ Durchblutungssteigerung in der Arbeitsmuskulatur ■ Bronchialerweiterung ■ vermindertes Erkundungsverhalten mit erhöhter Wachsamkeit ■ erschwertes Denken zugunsten stereotyper Reaktionen Die zweite langsamere Reaktionskette setzt über die HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) u. a. Glukocorticoide (sog. Stresshormone) frei, deren Endprodukt beim Menschen Cortisol ist. Glukocortikoide steuern Stoffwechselvorgänge, die im Körper gespeicherte Energieträger (Glukose und Fettsäuren) für eine (körperliche) Überlebensantwort bereitstellen. Im Wesentlichen steigt die Blutzuckerkonzentration, Fettsäuren werden freigesetzt und in Muskulatur, Haut- und Fettgewebe wird Eiweiß abgebaut (Menche 2007, 186). Alle beschriebenen Stoffwechselvorgänge stellen den Körper auf maximale Arbeit ein und mobilisieren körpereigene Energiereserven. Die [ 182 ] 4 | 2015 Auf den Punkt gebracht Abb. 1: Zentrales Adaptationssyndrom (Hüther 2011) - - Bewältigungsstrategien-und-Kohärenzgefühl- - - ------LUST- - - - - - - -------SELBST‐- ---VERTRAUEN- - - - - - - - - - - Erlernte-Hilflosigkeit- - - - - - ----ANGST- - - - - - - - SELBST‐- - - - - - - - - ZWEIFEL- HERAUSFORDERUNG- FLOW Neugier- POSITIVE-ERWARTUNGEN- Erfolgreiche-Bewältigung- NEGATIVE-ERWARTUNG- DISORDER Vermeidung- Belastung- Selbstvertrauen- Wirkung von Stressoren Bewältigungsstrategien und Kohärenzgefühl Wirkung-von-Stressoren- - - - Festigung- - - - - - - Auflösung- - - Stabilisierung-- - - - - - - Umformung- - Fähigkeiten- - Neue-Anforderungen- Erwartungen- Falsche-Erwartungen- - Gefühle- Verletzte-Gefühle- - Psychische-Belastung- - Angst-- - Stressreaktion- - Kontrollierbar- Unkontrollierbar- - Bisher-entstandene- Verschachtelungen- im-Gehirn [ 183 ] Roob • Wissen kompakt: Stress 4 | 2015 (langfristigen) Folgen nicht bewältigter Stresssituationen sind: ■ Störungen des Schlafverhaltens ■ Schwächung des Immunsystems (Infektanfälligkeit) ■ Lern- und Konzentrationsprobleme ■ Spannungskopfschmerzen Das »Zentrale Adaptationssyndrom« (Hüther 2011) Das Konzept ist ein Brückenschlag zwischen physiologischen und psychologischen Stresstheorien. Es »nimmt eine Neubewertung der Ursachen und Konsequenzen von Angst und Streß vor« (Hüther 2011, 31). Hier erfolgt aus meiner Sicht eine Umkehrung der gängigen Stresstheorien. Nicht die Vermeidung von (Dys-)Stress, sondern der wachsende erfolgreiche Umgang mit verschiedensten Angst- und Stresssituationen hält mich gesund, verändert meinen Umgang mit der Welt und bahnt neue »Selbstorganisations- und Anpassungsprozesse« (Hüther 2011, 31). Die Erfahrung der Überwindbarkeit kritischer Situationen reduziert nicht nur (ursprüngliche) Angsthaltungen, sondern kann »dann als Überraschung, Neugier, Freude oder gar Lust empfunden werden« (Hüther 2011, 30 f ). Im Folgenden wird dieses Konzept näher beschrieben und erläutert (siehe Abb. 1). Unbekannte Situationen stellen für jedes Lebewesen eine Herausforderung (Challenge) dar, die zunächst Angst und Stress auslösen und bewältigt sein wollen. Die individuellen Lösungsstrategien können als sich selbst verstärkende Kreisprozesse beschrieben werden. Sie bilden im Laufe der individuellen Entwicklung ein relativ stabiles Stressverarbeitungssystem, das je nach Erfahrungshintergrund und Erwartungshorizont »Teufelskreise« der Resignation (Disorder) oder »Engelskreise« der Begeisterung (Flow) begünstigt. Aus den bisher entstandenen Verschaltungen des Gehirns kann das Individuum auf einen Pool von Fähigkeiten, Erwartungen und Gefühlen zurückgreifen. Die in einer neuen bedrohlichen Situation zunächst auftretende Angst löst nun eine mehr oder weniger angemessene Stressreaktion aus, die im Ergebnis als kontrollierbar oder unkontrollierbar erlebt und abgespeichert wird. Eine unkontrollierbare Situation mit gescheiterter Bewältigung verstärkt eine negative Erwartungshaltung mit Vermeidungstendenzen, kann zu Panikattacken oder Totstellreaktionen führen (s. o.). Sie verstärkt das Gefühl, der Welt ohnmächtig ausgeliefert zu sein (»erlernte Hilflosigkeit«), nährt Selbstzweifel und verstärkt Abwehrverhalten. Neue Situationen werden als Belastung empfunden und eher gemieden. Es entsteht ein Teufelskreis der Resignation (Disorder). Wird die Situation hingegen kontrolliert/ gemeistert, wächst das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, werden realistische Erwartungen aufgebaut und es entstehen Gefühle des Stolzes. Im Zirkel der Begeisterung (Flow) steigt das Selbstvertrauen, eine positive Erwartungshaltung weckt Neugier, beflügelt die Lust auf neue Herausforderungen und begegnet unbekannten Situationen zunehmend gelassener und realitätsangemessener. Dies gilt für alle Lebensphasen und Bewältigungssituationen. Überspitzt formuliert und dargestellt können wir bei jeder unklaren Situation immer wieder neu entscheiden, ob wir unser Programm der Resignation, Abwehr und Vermeidung starten oder das »Ohschön-Programm« der Begeisterung, Annäherung und Neugierde aktivieren. Damit bahnen wir dann schon den Weg für die nächste kritische, aber potenziell bewältigbare Situation. Es kann Jahre und Jahrzehnte bis zu einem stabilen Wechsel (Shift) von Disorder zu Flow dauern, es können aber auch wenige Augenblicke sein. Das Ergebnis ist gleich: Aus Kampf, Krampf und Vermeidung wird ein Fließen, Verstehen und Offensein, ein »Einverstandensein« mit sich und der Welt. In der Beschreibung der neurobiologischen Grundlagen der Persönlichkeit integrieren Roth / Strüber (2014) das Stressbewältigungssystem in weitere fünf »psychoneuronale Grundsysteme«: ■ das Selbstberuhigungssystem ■ das Belohnungs- und Belohnungserwartungssystem [ 184 ] 4 | 2015 Auf den Punkt gebracht ■ das Bindungssystem ■ das Impulskontrollsystem ■ das Realitätswahrnehmungssystem Es ist offenkundig, dass im Konzept des Zentralen Adaptationssyndroms auch das Selbstberuhigungssystem, das Belohnungs- und Belohnungserwartungssystem und insbesondere das Bindungssystem angesprochen sind. Gerade Letzteres spielt in der Stressreduktion eine überragende Rolle, wie u. a. an Säugetieren (Affen) nachgewiesen wurde. Der Stresshormonspiegel eines (alleingelassenen) Affen stieg gewaltig an, wenn ein bellender Hund den Käfig umkreiste. Kam ein zweiter (bekannter) Affe hinzu, blieb die Stressreaktion jedoch aus. Hüther (2011, 52 f ) erklärt dieses Phänomen wie folgt: »Auch das Gefühl, daß man nicht allein ist, daß jemand da ist, den man um Rat fragen kann, der einem zur Seite steht, tröstet und mitfühlt, führt dazu, daß die Angst verschwindet und die Streßreaktion angehalten wird.« Dies ist m. E. ein gewichtiges Argument für Teamarbeit und gegen Einzelkämpfertum. Nur keinen Stress? Der Paradigmenwechsel in der Stressforschung kann unmittelbar mit psychomotorischen Intentionen in Beziehung gesetzt werden. In neueren Veröffentlichungen zu motopädischer / psychomotorischer Arbeit werden u. a. Eigentätigkeit, Selbstwirksamkeit und Selbstkonzept thematisiert und besonders die Rolle behutsamer Begleitung und des (tonischen) Dialoges betont (so u. a. Eggert et al. 2010; Keßel 2013; Martzy 2013). Durchaus machbar (ohne Macher zu werden) erscheint mir darüber hinaus, in den vielfältigen Möglichkeiten psychomotorischer Begleitung nicht nur die eher passive Seite der Reflexion zu leben, sondern auch in aktiver (spiel-)begleitender Teilnahme Angstabbau erlebbar zu machen und Abenteuerlust und Entdeckerfreude, z. B. durch auffordernde (und anfangs überfordernde) Bewegungslandschaften zu wecken. Hinzugefügt seien einige bewährte Grundsätze, wie z. B. ■ Herausforderungen handlungsorientiert ganzheitlich mit »Kopf, Herz und Hand« (Pestalozzi) anzugehen und zu bewältigen, ■ »von den Stärken auszugehen« (Eggert 2007), ■ als MotopädIn / PsychomotorikerIn verunsicherten bindungssuchenden Kindern Sicherheit und Halt zu signalisieren: »In dieser Stunde bin ich für dich da.« Als ermutigendes Beispiel eines stressreduzierten Überzeugungswandels nach einem halben Jahr (begleiteter) Arbeit an seinem (Gorilla-) Baumhaus sei abschließend Till erwähnt (Martzy 2013): Anfangs meinte er auf die Frage der Motologin, ob sie ihn, den gefährlichen Gorilla, später in den Baumwipfeln des Kletterwaldes besuchen dürfe: »Gorillas leben doch auf dem Boden, die sind so groß, die können doch gar nicht klettern! « Nach einem halben Jahr, als er längst selber in den Wipfeln »zu Hause ist« und um Besuch bittet, klärt er die skeptische und erstaunte Motologin (»Seit wann klettern Gorillas denn auf Bäume? «) auf: »Wenn sie Hunger haben und spielen wollen, klettern Gorillas auf Bäume! « Literatur Eggert, D., Reichenbach, C., Bode, S. (2010): Das Selbstkonzept Inventar (SKI) für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter. 2. Aufl. Borgmann, Dortmund Eggert, D. (2007): Von den Stärken ausgehen … Individuelle Entwicklungspläne (IEP) in der Lernförderdiagnostik. 5. Aufl. Borgmann, Dortmund Hüther, G. (2011): Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. 10. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Keßel, P. (2013): Selbstwirksamkeit von Anfang an - ein Effekt dialogischer Begleitung in der Psychomotorik. In: Krus, A., Jessel, H. (Hrsg.): Psychomotorik im Bildungskontext. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 79-93 Martzy, F. (2013): Kinder bilden sich selbst - Bewegung im Selbstkonzept. In: Krus, A., Jessel, H. (Hrsg.): Psychomotorik im Bildungskontext. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 109-120 Menche, N. (2007): Biologie Anatomie Physiologie. 6. Aufl. Urban & Fischer, München Roth, G., Strüber, N. (2014): Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta, Stuttgart [ 185 ] Roob • Wissen kompakt: Stress 4 | 2015 Der Autor Dr. Ignaz Roob Sport-/ Lateinlehrer, Dipl.-Psychologe, Humanbiologe, langjähriger (stellvertretender und) Schulleiter des Ernst-Kiphard- Berufskollegs für Motopädie in Dortmund; seit 2008 im Ruhestand Anschrift Dr. Ignaz Roob Kettlerskamp 10 D-44269 Dortmund maleclig@aol.com Studienort: SIM-Institut, 57462 Olpe (Deutschland) Abschluss: Akademische/ r ExpertIn in SI-Mototherapie ® und SI-Motodiagnostik ® bzw. Aufbaustufe Master of Science (MSc) Dauer: 4 Semester, Aufbaustufe MSc 2 Semester Start: Juli 2016 Bewerbung und Details: Ingrid Friedl Tel: +43 (0)2732 893-2671, E-Mail: ingrid.friedl@donau-uni.ac.at www.donau-uni.ac.at/ psymed/ mototherapie Ziel des Universitätslehrgangs: AbsolventInnen können die im Lehrgang erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten - auf der Grundlage ihres erlernten Berufes - zur Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nach dem Konzept SI-Motodiagnostik ® / SI-Mototherapie ® sowohl eigenständig als auch im multidisziplinären Team anwenden. Universitätslehrgang SI-Mototherapie Donau-Universität Krems Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit Ins. Motorik PSY DUK 07.15_: 27.07.15 16: 14 Seite 1 Anzeige
