eJournals motorik 39/4

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Wissen kompakt: Traumapädagogik

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2016
Marianne Herzog
Unter »Traumapädagogik« versteht man eine Pädagogik, die sich an den Ressourcen orientiert, die Übertragungsphänomene beachtet (Holderegger 2003) und das Schaffen eines »sicheren Ortes« für alle Beteiligten ins Zentrum stellt. Zudem berücksichtigt die Traumapädagogik die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung (Hantke / Görges 2012).
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[ TITELRUBRIK ] [ 200 ] 4 | 2016 motorik, 39. Jg., 200-202, DOI 10.2378 / motorik2016.art35d © Ernst Reinhardt Verlag [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Wissen kompakt: Traumapädagogik Marianne Herzog Unter »Traumapädagogik« versteht man eine Pädagogik, die sich an den Ressourcen orientiert, die Übertragungsphänomene beachtet (Holderegger 2003) und das Schaffen eines »sicheren Ortes« für alle Beteiligten ins Zentrum stellt. Zudem berücksichtigt die Traumapädagogik die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung (Hantke / Görges 2012). Was ist ein Trauma? Ein Psychotrauma entsteht in einer Situation, die den seelischen Bewältigungsapparat überfordert, dabei fühlt sich die traumatisierte Person hilflos, wirkungslos und ihr Welt- und Selbstbild wird negativ verändert. Ein Trauma kann daher auch als Zufuhr von zu viel Energie betrachtet werden. Daraus eröffnen sich speziell für die Psychomotorik interessante Möglichkeiten, nämlich wie diese überschüssige Energie abgeleitet und in Bewegung umgesetzt werden kann. Vorgänge im Hirn unter Belastung, bildlich dargestellt Schauen wir uns aber zuerst die neurobiologischen Vorgänge im Hirn unter Belastungen näher an! Wenn diese komplexen Vorgänge bildlich dargestellt werden, können wir uns auch unter Belastungen daran erinnern und entsprechend handeln, denn Bilder können besser gespeichert und wieder abgerufen werden als Worte. Darum wähle ich als Traumapädagogin für das Vermitteln dieser Vorgänge Bilder und Objekte. Im folgenden Modell (in Anlehnung an Hantke / Görges 2012) steht der Thron als Symbol für die Macht. Im Normalfall hält die Vernunft die Führung über unser Verhalten inne. Die Vernunft ist hier dargestellt als hellblaues hirnähnliches Gebilde. Sie ist mit einer Antenne in der Art eines Ausguckers ausgerüstet, der die drohenden Gefahren erkennt. Die Antenne ist das Sinnbild für die Amygdala, die sich im limbischem System, tief im Inneren des Hirnes befindet. In der Amyg- Abb. 1: Die »Vernunft« sitzt auf dem Thron und regiert; sie kann in Gefahrensituationen von der Echse vom Thron gestürzt werden. Quelle: M. Herzog [ 201 ] Herzog • Wissen kompakt: Traumapädagogik 4 | 2016 dala ist aufgrund der Erfahrungen des betreffenden Menschen das Wissen gespeichert, was gefährlich ist. Stößt die Antenne auf eine Gefahr, so werden blitzschnell neurobiologische Vorgänge ausgelöst, die das Reptilienhirn aktivieren. Dadurch übernimmt das Reptilienhirn, hier zuerst als schlafendes Echslein, dann als große Echse dargestellt, neu die Führung. Wenn die Echse regiert, so ist die hohe Geschwindigkeit, mit der sie Entscheidungen trifft, ein unschätzbarer Vorteil. Der Nachteil ist, dass der Echse nur ein begrenztes Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung steht: Freeze, Flight oder Fight, also Einfrieren, Flucht oder Kampf (Hantke / Görges 2012). Ist die Gefahr vorbei, so verlässt die Echse wieder den Thron und überlässt ihn der Vernunft. Seit Zehntausenden von Jahren hat sich dieser Vorgang bei höheren Lebewesen als äußerst erfolgreiche Überlebensstrategie herausgestellt, um Todesgefahren oft erfolgreich zu bewältigen. Ist die Vernunft auf dem Thron, so kann sich der Mensch im Allgemeinen gut an das Vorgefallene erinnern. Das ist ganz anders bei Erlebnissen, während denen die Echse auf dem Thron saß. Bei Zwangsmigration (Zimmermann 2015) beispielsweise, sind die Erinnerungen an Krieg, Hunger, Flucht und Ankunft in einer fremden Welt oft nur zusammenhangslos und bruchstückhaft vorhanden, sie wirbeln sozusagen als lose Fragmente (Hantke / Görges 2012) herum. Ganz ähnlich ist es bei Kindern, die frühkindliche Vernachlässigung und Verwahrlosung erlitten haben (Plassmann 2012). Die Antenne stößt immer wieder an solche Erinnerungsfetzen und schlägt in Situationen Alarm, in denen objektiv beurteilt gar keine Lebensgefahr droht. Weil die Erinnerungen nicht eingeordnet oder aber oft zusammenhanglos und unverständlich sind, kann nicht erkannt werden, dass es sich um Vergangenes handelt. Diese Menschen können dadurch immer wieder in Situationen geraten, in denen sie sich verhalten, als wäre ihr Leben akut bedroht. Vermitteln wir ihnen Sicherheit, schaffen wir mit ihnen ihren »sicheren Ort«, so führt dies dazu, dass ihre Amygdala weniger sensibel reagiert und die Fehlalarme seltener werden (Hantke / Görges 2012). Der sichere Ort Um Kindern den Mut zu Veränderungen zu geben und ihnen damit neue Erfahrungen zu ermöglichen, ist das Schaffen eines »sicheren Ortes« zentral. Zum »sicheren Ort« gehört, dass die Erwachsenen im Helfersystem Übertragungsphänomene erkennen, denn traumatisierte Kinder und Jugendliche inszenieren ihre Geschichten unbewusst immer wieder auch im Schul- und Therapie-Alltag und übertragen traumatische Bindungserfahrungen. Durch dieses Phänomen drohen Personen des Helfersystems immer wieder unbemerkt in die Rolle des Retters, des Opfers oder des Verfolgers zu geraten. Dabei können sich diese Rollen auch blitzschnell abwechseln. Nur wer sich immer wieder im »Selbst« befindet und diesen Inszenierungen nicht erliegt, kann dem seelisch belasteten Gegenüber die nötige Sicherheit geben und somit eine tragfähige Beziehung aufbauen (Herzog 2015). Auch Psychoedukation trägt zum »sicheren Ort« bei. Damit verstehen Betroffene, welche Vorgänge im Hirn bei Belastungen ablaufen. Dafür eignet sich das neu erschienene Bilderbuch »Lily, Ben und Omid« (Herzog / Hartmann Wittke 2015). Psychomotorik kann einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung von Traumata leisten Bei akuten seelischen Belastungen kann im Schulalltag und ganz speziell in der Psychomotorik-Therapie zum Beispiel durch Bewegungsspiele, die Hüpfen und/ oder Schütteln beinhalten, diese überschüssige Energie gezielt abgebaut werden. Der Psychologe Peter Levine beschreibt in seinen Werken geeignete Bewegungs- und Ballspiele (Levine / Kline 2010). Weiter können durch entsprechende körperliche Übungen die Kinder gut im »Hier und Jetzt« verankert werden. Bei solchen Bewegungsspielen sollten sich hochenergetische Phasen mit etwa gleich langen Ruhephasen abwechseln. In diesen ruhigen [ 202 ] 4 | 2016 Auf den Punkt gebracht Momenten können die Kinder nach ihrem Befinden gefragt werden, um die Achtsamkeit immer wieder auf das »Hier und Jetzt« zu fokussieren. Bewegungsspiele eignen sich somit sehr gut, um akute Traumata zu verarbeiten und eine länger dauernde psychische Belastungen möglichst zu vermeiden oder zu reduzieren. Auch einfach erlernbare Körperübungen können zu einer sofort spürbaren emotionalen Regulierung und Stabilisierung führen. Dafür bietet sich zum Beispiel die body2brain-Methode von Claudia Croos-Müller (2014), Psychiaterin und Traumatherapeutin, an, sie ist Autorin mehrerer Büchlein mit einfachen und praxisnahen Tipps, die sich für den Schulalltag, aber auch für die Psychomotorik-Therapie gut eignen. All diese Übungen können mit allen Kindern einer Klasse gemacht werden, um ihr Wohlbefinden und ihre Resilienz zu fördern. Eine vorgängige (Trauma-)Diagnose braucht es nicht, da diese Übungen keine negativen Nebenwirkungen aufweisen und für alle wohltuend sind. Literatur Croos-Müller, C. (2014): Kopf hoch. Das kleine Überlebensbuch. 7. Aufl. Kösel, München Hantke, L., Görges, H. (2012): Handbuch Traumakompetenz. Junfermann, Paderborn Herzog, M. (2015): Trauma und Schule. Top Support, Oberhof Herzog, M., Hartmann Wittke, J. (2015): Lily, Ben und Omid. Top Support, Oberhof Holderegger, H. (2003): Der Umgang mit dem Trauma. 3. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Levine, P. A., Kline, M. (2010): Kinder vor seelischen Verletzungen schützen. Dt. Ausgabe. Kösel, München Plassmann, R. (2012): Transgenerationale Traumatisierung im stationären Rahmen: Einige Beobachtungen und grundsätzliche Überlegungen. In: Huber, M., Plassmann, R. (Hrsg.) (2012): Transgenerationale Traumatisierung. Junfermann, Paderborn, 12-22 Zimmermann, D. (2015): Trauma und Migration. 2.-Aufl. Psychosozial, Gießen Die Autorin Marianne Herzog Fachberaterin und Fachpädagogin Psychotraumatologie SIPT, arbeitet in einem Teilpensum neben ihrer selbstständigen Arbeit als Dozentin, Supervisorin und Coach bso als Fachbeauftragte an der Fachstelle Förderung und Integration in Basel-Stadt, wo sie das Umfeld von Kindern mit Migrationshintergrund und zusätzlichen Belastungen berät und unterstützt. Kontakt www.marianneherzog.com (auf dieser Webseite sind verschiedene zusätzliche Informationen und Unterrichtsmaterialien verfügbar) marianne.herzog@bluewin.ch