eJournals motorik 39/4

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2016.art31d
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2016
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Kinderbuchfiguren als Vorbilder für starke Kinder

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2016
Gisela Schlesinger
Zusammenfassung / Abstract Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga, Charaktere aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern, können Kinder zu Spiel- und Bewegungshandlungen animieren, die sie auf besondere Weise fördern. Im Rollenspiel tritt eine verstärkte Motivation ein und intensiviert so selbstständige Spiel- und Bewegungsaktivitäten der Kinder deutlich. Sie können so ihre Ressourcen besser wahrnehmen und ihre Selbstkompetenzen stärken. Psychomotorische und Resilienz stärkende Elemente in solchen Angeboten greifen ineinander und ergänzen sich.
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Zusammenfassung / Abstract Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga, Charaktere aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern, können Kinder zu Spiel- und Bewegungshandlungen animieren, die sie auf besondere Weise fördern. Im Rollenspiel tritt eine verstärkte Motivation ein und intensiviert so selbstständige Spiel- und Bewegungsaktivitäten der Kinder deutlich. Sie können so ihre Ressourcen besser wahrnehmen und ihre Selbstkompetenzen stärken. Psychomotorische und Resilienz stärkende Elemente in solchen Angeboten greifen ineinander und ergänzen sich. Schlüsselbegriffe: Charaktere aus Kinderbüchern, Rollenspiel, selbstständige Spiel- und Bewegungshandlungen, Ressourcen, Psychomotorik, Resilienz Characters from children’s books - strengthening role models for children Pippi Longstocking and Emil of Lönneberga, characters from Astrid Lindgren’s children’s book collection, can stimulate children’s play and physical activities, with specific benefits for the child. Role-play increases children’s motivation, thus significantly intensifying their autonomous play and physical activities. As a result, children are able to better recognize and strengthen their self-competence. Positive effects on psychomotor skills and resilience are interlocking and complementing each other in these interventions. Key Words: characters from children’s books, role-play, autonomous play and physical activities, resources, psychomotor skills, resilience [ TITELRUBRIK ] [ FORUM PSyCHOMOTORIK ] Kinderbuchfiguren als Vorbilder für-starke Kinder Psychomotorische und Resilienz stärkende Bewegungsangebote für Vorschulkinder Gisela Schlesinger Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga Die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren konnte mit ihren überzeichneten Kinderbuchfiguren Generationen von Kindern begeistern. Die beiden Charaktere Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga werden, auf humorvolle Art, als sehr eigenständige, starke und selbstbewusste Kinder dargestellt. Mit Phantasie können sie ihre Spielideen verwirklichen und viele Probleme des Alltags allein oder in einer gleichaltrigen Gruppe lösen. Pippi Langstrumpf ist sehr bewegungsfreudig, stark und mutig. Sie kann sogar ihr Pferd hochstemmen. Ohne Erziehungsberechtigte bewohnt sie die Villa Kunterbunt zusammen mit ihren Tieren Herr Nilsson, dem Affen, und Kleiner Onkel, ihrem Pferd. In der Nachbarschaft wohnen ihre Freunde Tommy und Annika, die gerne zu Besuch kommen. Michel aus Lönneberga (siehe Spieletipp in diesem Heft) wird beschrieben als Junge, der allen, auch misslichen Situationen, etwas abgewinnen kann. Ihm ist nie langweilig. Er erfindet selbst Spiele und heckt gerne Streiche aus. Außerdem ist er neugierig und »stark wie ein Ochse«. Die Geschichten spielen im ländlichen Schweden, in dem der Bewegungsradius der Kinder sehr groß ist. Sie müssen weite Strecken zu Fuß zurücklegen. Kraft und Motorik sind sehr gut entwickelt. Beide Kinder besitzen viele praktische Fähigkeiten und Materialkompetenzen. Bewegungsfähigkeiten und -fertigkeiten bringen sie sich selbst bei oder lernen sie von anderen Kindern. 4 | 2016 motorik, 39. Jg., 168-174, DOI 10.2378 / motorik2016.art31d © Ernst Reinhardt Verlag [ 168 ] [ 168 ] [ 169 ] Schlesinger • Kinderbuchfiguren als Vorbilder für-starke Kinder 4 | 2016 Selbstständige Bewegungsentwicklung unserer Kinder Bis zum aufrechten Laufen vollzieht sich die Entwicklung der Kinder über verschiedene Stadien vom Liegen über Drehen, Rollen und Krabbeln bis hin zum Stand und koordiniertem Gehen und Rennen. Diese Phasen durchlaufen Kinder sehr eigenständig und in ihrem eigenen Tempo, hauptsächlich ausgelöst durch die Motivation, Dinge oder andere Lebewesen zu erreichen. Sie brauchen dabei wenig aktive Unterstützung durch Erwachsene. Die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler hat dies sehr eindrucksvoll beschrieben (Pikler 2001). Auch beim späteren Spiel und Sport der Kinder, wenn Bewegungslernen schwieriger wird, können wir auf das selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lernen vertrauen. Nicht umsonst haben sich Generationen von Kindern Ballspiele, Radfahren, Schwimmen, skaten und andere Bewegungsfertigkeiten in der Gemeinschaft von ländlichen und städtischen Peergroups selbst beigebracht. Selbsterworbene Fähigkeiten und Bewegungsfertigkeiten sind für die psychische und physische Entwicklung der Kinder von großer Bedeutung und wegweisend für das Angehen von schwierigen Aufgaben und Bewegungsplanungen. Solche selbstständigen Kinder werden auch in den Büchern von Astrid Lindgren beschrieben. Institutionalisierung von Spiel- und Bewegungsangeboten heute Spielen und Bewegen in einer gleichaltrigen Gruppe, ohne Aufsicht von Erwachsenen, ist heute vielen Kindern wenig möglich. Spiel- und Sportangebote sind institutionalisiert, das heißt, sie finden in Kindertagesstätten, in Bewegungskursen oder Sportvereinen statt. Zu diesen Inseln werden die Kinder meist von den Eltern gebracht und gefahren. Der eigenständige Bewegungsradius wird stark eingeschränkt und den meisten Kindern fällt es schwer, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Es fehlt ihnen oft an Kraft und Vitalität. Bewegungsaktivitäten und Bewegungskönnen werden viel zu schnell von TrainerInnen, LehrerInnen und anderen AnleiterInnen beurteilt. Psychomotorische und Resilienz stärkende Bewegungsangebote Auch psychomotorische Angebote werden natürlich zunächst von erwachsenen AnleiterInnen organisiert. Sie haben aber von Anfang an eine andere konzeptionelle Ausrichtung als herkömmliche Bewegungsstunden. Mit allen Sinnen und ihren bis dahin erworbenen Materialkompetenzen sollen die Kinder sich gemeinsam im Spiel mit anderen erleben können und sich weiter entwickeln. Resilienz im Bewegungsangebot zu stärken bedeutet, Kinder ihre Ressourcen spüren zu lassen, mit denen sie in den ersten Lebensjahren bereits gute Erfahrungen im Hinblick auf ihre körperliche Entwicklung gemacht haben. Mit ihrer bis dahin entwickelten Körperintelligenz wissen sie schon recht gut, was ihnen nützt oder schadet und wann sie für weitere Entwicklungsschritte bereit sind. Auf dieser Basis sollen sie psychische und physische Belastungen, die auf sie zukommen werden, weiter gut bearbeiten können. Vor allem die körperliche Belastbarkeit soll ausgebaut werden (Wustmann 2004). Nicht nur Kinder, die mit großen Herausforderungen aufgrund schwieriger Verhältnisse in ihrem Umfeld zu kämpfen haben, sondern auch Kinder aus überbehütenden Familien und Einzelkinder können von solchen Angeboten profitieren. Besonders sie müssen lernen, eigene Wege zu gehen, um ihre Stärken zu spüren, selbstständig nach Lösungen zu suchen und soziale Bindungen außerhalb der Familie in Spielgruppen aufzubauen. Freundschaftsbeziehungen zu anderen Kindern sind wichtig, um personale und soziale Ressourcen zu entwickeln (Fischer 2009). Nicht höher, weiter, schneller und besser, sondern stärker, beherzter, pfiffiger, mutiger und kooperativer sollten Attribute und Beurteilungskriterien in einer ganzheitlichen Förderung sein. Kinder ihre Körperintelligenz spüren lassen, damit sie fähig werden, eigene Wege zu gehen [ 170 ] 4 | 2016 Forum Psychomotorik Konzept für ein Angebot »Stark und mutig wie Pippi« Motivation und Einstimmung der Kinder Das kindliche Spiel im Vorschulalter ist weitestgehend geprägt vom Rollenspiel. Die Kinder schlüpfen gerne in Rollen, die sie aus ihrem Alltag nicht kennen (Zimmer 2014). Die pfiffigen und bewegungsfreudigen Charaktere Pippi und Michel begeistern die Kinder schnell, auch spielen sie gerne das Pferd (Kleiner Onkel) oder den Affen (Herr Nilsson). Mit den Geschichten und Liedern aus den Büchern, Bilderbüchern und aus dem Liederbuch stimmen wir die Kinder ein und befragen sie, welche der Figuren ihnen am meisten imponiert und wen sie am liebsten im Spiel darstellen möchten. Ziele Die Kinder sollen sich von Anfang an mit ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Ideen einbringen dürfen. Im Umgang mit den verschiedensten Materialien, auch solchen, die zunächst kein Spielzeug darstellen, und deren Eigenschaften sollen die Kinder erfahren, was sie damit in verschiedenen Spielsituationen machen können und was sie damit bewirken. Sie sollen lernen, eigenverantwortlich damit umzugehen. Ihr Bewegungskönnen sollen sie auf spielerische Art und Weise im selbstbestimmten Tempo verbessern und an Mut, Ausdauer, Kraft und Stärke gewinnen. Das gemeinsame Handeln in der Spielgruppe soll die Kinder differenzierte Selbst- und Sozialerfahrungen machen lassen. Sie sollen erkennen, dass es Spielerlebnisse vor allem in der Gruppe geben kann und dass sie durch gegenseitiges Unterstützen voneinander lernen können. Entstehende Konflikte sollen gemeinsam gelöst werden. Vorgehensweise Die Spiele können in einem Turnraum oder auch im Freien stattfinden. Die einzelnen Bewegungseinheiten können immer wieder neue Geschichten aus den Büchern aufgreifen, je nach Vorlieben der Kinder. Benötigtes Material sind Geschichtenbücher, Liederbücher, Lieder-CD, Filme und/ oder Bilder von Pippi Langstrumpf, Matten, große Schaumstoffbausteine, Langbänke, Geräte, Leitern, Turnhocker oder Turnkästen, Decken und Betttücher, große schwarze Gummistiefel, evtl. rote Perücken mit Zöpfen für die Pippi. Zunächst können Spiel und Bewegungsvorschläge von den Anleitern gemacht werden, die Abb. 1: Kompetenzentwicklung im Bewegungs- und Rollenspiel Bewegungs-und Rollenspiel Klein Ida Tom Annika Herr Nilson Grosser Onkel Pippi Langstrumpf Michel aus Lönneberga Resilienzstärkende Elemente Psychomotorische Elemente Selbstkompetenz körperliche Stärke spüren Materialkompetenz Spielzeug selber bauen Spielen in der Kleingruppe lernen Konflikte aushalten und lösen lernen Selbstwirksamkeit spüren Selbstbewusstsein in der Rolle finden [ 171 ] Schlesinger • Kinderbuchfiguren als Vorbilder für-starke Kinder 4 | 2016 dann zusammen mit den Kindern realisiert werden. Materialien, die Phantasie und Kreativität der Kinder ansprechen, sollen zugänglich gemacht werden oder auf Ideen und Vorschläge der Kinder hin beigebracht werden. Sobald die Kinder eigene Spiel- und Bewegungsaktivitäten entwickeln, ziehen wir uns zurück und bieten aber weiter unsere Hilfen oder uns selbst als SpielpartnerInnen an. Entstehendes Rollenspiel lassen wir zu, auch wenn es sich von der ursprünglichen Geschichte thematisch wegbewegt. Das Kind als aktiver Mitgestalter hat in der Psychomotorik oberste Priorität (Bayer. Erziehungs- und Bildungsplan 2009). Wenn Situationen entstehen, in denen gewisse Regeln und Anweisungen nötig wären, setzen wir uns mit den Kindern zusammen und suchen gemeinsam nach Lösungen. Wir akzeptieren Kinder, die sich anfangs wenig ins Spiel einer Kleingruppe einlassen können und versuchen, sie zu motivieren. Die Spielhandlungen der Kinder sollen nicht bewertet, sondern wertschätzend von den Erwachsenen begleitet werden. Das Angebot kann über mehrere Wochen einmal wöchentlich stattfinden, auch Inhalt eines Jahresthemas oder Projekts sein. Gerade in einem Projekt lassen sich verschiedene Bildungsziele verknüpfen und eine ganzheitliche Förderung der Kinder bewirken. Spielvorschläge zu »Stark und mutig wie Pippi« ■ Bau der Villa Kunterbunt Die Kinder können überlegen, mit welchen Gegenständen aus den Bewegungsräumen und dem Kinderhaus eine Villa Kunterbunt gebaut werden kann. Pippi hat ohne Erziehungsberechtigte in ihrem Haus gewohnt. Aus Hockern, Bänken, Schaumstoffbausteinen, Matten, Decken und Tüchern entstehen phantasievolle Gebäude. Als Gartenzäune dienen Balancierbalken, Stangen und Bretter. Entweder kann ein größeres Haus zusammen mit der Gruppe gebaut werden Abb. 2: Ich bin Pippi Langstrumpf Abb. 3: Wer möchte ich gerne sein? Abb. 4: Bau der Villa Kunterbunt [ 172 ] 4 | 2016 Forum Psychomotorik oder die Materialien werden aufgeteilt und zwei oder drei Kinder zusammen bauen sich kleine Häuschen. Die Kinder brauchen etwas Zeit, um Ideen zu bündeln und ihre Rollen zu verteilen, damit sie den Bau der Villa oder von kleinen Spielhäuschen realisieren können. Wenn Pippis Freunde Tommy und Annika zu Besuch kommen, kann es lustige Spiele geben. Die Kinder können im Garten ums Haus herumtanzen und hüpfen, auf dem Gartenzaun balancieren und durchs Kellerfenster raus und reinklettern. ■ Bewegungskünste, die Pippi Langstrumpf kann Wechselhüpfen, auf einem Bein vorwärts und rückwärts hüpfen, wie Pippi und ihre Freunde das können, macht den Kindern Spaß. Sie können auch das Galoppieren ihres Pferdes und das lustige Herumtollen ihres Affen und andere lustige Gangarten versuchen. Zur Motivation und Bewegungsbegleitung können Lieder von der Astrid Lindgren Lieder-CD gespielt werden. Meist sind es bewegungserfahrene Kinder, die die anderen zum Mitmachen animieren. So erleben sie alle, jedes auf seine Weise, das bereichernde Spiel in einer Gruppe. ■ »Nicht den Fußboden berühren«: Die Freunde bauen sich einen Bewegungsparcours im Garten und schaffen dazu Möbel aus dem Haus nach draußen. Pippi hat dieses Spiel immer gern mit ihren Freunden gespielt. Dabei werden die »Möbel« so aneinandergestellt, dass man darüber laufen kann, ohne den Boden zu berühren. Dazu können die Kinder auch einen oder zwei große schwarze Gummistiefel anziehen, damit über den Parcours laufen und sich ganz wie Pippi fühlen. Die Wahrnehmung wird dadurch stark verändert und das Bewegungskönnen und der Gleichgewichtssinn der Kinder werden gefordert. Von den Bäumen hängen Taue und Strickleitern, wozu man vorhandene Deckenhaken nutzen kann. Wo steht der »Limonadenbaum«? ■ Der Hausmauer entlang auf den Händen laufen Den Kindern imponiert, dass Pippi auf den Händen laufen kann. Mit dem Gesicht zu einer Wand werden die Hände auf den Boden gestützt und die Füße krabbeln die Wand hoch. Dann wird versucht, an der Wand entlang zu laufen. Wer kann wie Pippi im Handstand spazieren gehen? ■ Seilhüpfen mit der Wäscheleine, auch als Gruppenspiel Das Seilschwingen können zunächst Erwachsene übernehmen. Danach probieren es die Kinder allein. Mit einer Leine können sie Seilhüpfen ausprobieren oder sie organisieren zusammen das Gruppenhüpfen. ■ Äpfel in die Becher werfen Auf der Gartenmauer können die Kinder Becher aufstellen, in die sie kleine Bälle werfen. Wer kann weitere kleine Kunststücke, z. B. einen Ball hochwerfen und selbst mit dem Becher wieder auffangen? ■ Auf der Gartenmauer rückwärts laufen und dabei den Kindern zuwinken Die Kinder balancieren auf den Bänken, Balken und Stegen, die sie um die Villa Kunterbunt gestellt haben, und winken einander zu. ■ Flugzeug auf der Gartenmauer Mit dem Bauch legen sich die Kinder auf eine Langbank und halten Arme und Beine in die Luft. Bei Wind bewegen sich die Tragflächen mehr und bei starkem Wind werden Loopings gedreht, das Abb. 5: Nicht den Fußboden berühren [ 173 ] Schlesinger • Kinderbuchfiguren als Vorbilder für-starke Kinder 4 | 2016 heißt vom Bauch auf den Rücken und wieder zurückrollen. ■ Mit den Stiefeln die Leiter hochsteigen oder an einem Tau schwingen von Baum zu Baum Die Kinder können mit ein oder zwei Stiefeln an den Füßen differenzierte Wahrnehmungen machen. Auch Herumspringen und Wettrennen bieten sich an. ■ Sachensucherspiel Am Schluss einer Bewegungseinheit können die Kleider aller Kinder auf einen Haufen geworfen werden. Wer findet seine Sachen wieder und ist am schnellsten angezogen? Wer schafft es sogar auf einer Leiter? Nachdem zunächst die Angebote mehr durch die Anleiterinnen angeregt wurden, sollen die Kinder Zeit haben sich eigene Spiele auszudenken. Vielleicht geben die Geschichten neue Impulse. ■ Bau der »Hoppetosse« und Fahrt auf hoher See Aus Langbänken und anderen Geräten und Tüchern können die Kinder den Schiffsbug der »Hoppetosse« nachbauen. Sie können es sich wie Pippi und ihre Freunde auf dem Schiff bequem machen. Auf der Reling balancieren, angeln und mit dem Fernrohr Land suchen oder Segel setzen aus Betttüchern können weitere Ideen sein. Rückblick auf ein 25-stündiges Spiel- und Bewegungsangebot für Vorschulkinder in einem Kinderhaus »Stark und mutig wie Pippi und ideenreich und listig wie Michel« Teilnehmen konnten 12 Jungen und Mädchen, alles Vorschulkinder mit motorischen Entwicklungsproblemen und ängstlichem oder unsicherem Verhalten. Die meisten Kinder wiesen einen Migrationshintergrund auf. Begleitet wurden die Stunden von der Sportlehrerin und je einer Erzieherin. Beobachtungen über Veränderungen bei den Kindern nach Beendigung der Spielreihe sollen an einigen Beispielen dargestellt werden. Selbstwirksamkeit und Selbstkompetenz Ein Junge traute sich nicht, auf höhere Geräte zu steigen und zu balancieren. Als es aber galt, sich auf der »Hoppetosse« Nahrung zu beschaffen, zog er Schuhe und Strümpfe aus, krallte sich mit den Zehen an dem schmalen Balken fest und angelte vom Rand des Schiffes aus nach Fischen. Durch die Motivation verstärkten sich sein Mut und sein Selbstvertrauen. Ein anderer Junge, der auch Probleme beim Balancieren zeigte, hat sich diebisch über das Würstchenklauen (siehe hierzu Spieletipp in diesem Heft) gefreut. Er ist nämlich einfach wie Michel auf allen Vieren über den Steg gekrochen. Im Hopserlauf pfiffig im Garten zu hüpfen wie Pippi wollte ein Mädchen gerne können. Nachdem es gespürt hatte, dass diese Leistung (Wechselhüpfen) von ihm gar nicht, wie sonst oft in Bewegstunden oft üblich, erwartet wurde, gelang es ihr mit der Zeit von ganz allein. Es ist im Pippi Langstrumpf-Land nämlich egal wie man hüpft. Wichtiger ist, man ist fröhlich dabei. Materialkompetenz Die Kinder baten uns für die Herstellung der Seilverbindungen an den Fahrzeugen, die aus den alten Materialien aus dem Schuppen gebaut wurden (siehe Spieletipp in diesem Heft), zunächst um Mithilfe. Nach dem Hinweis, dass Michel das Problem selbst gelöst hätte, begannen sie, Abb. 6: Mit der Hoppetosse auf hoher See [ 174 ] 4 | 2016 Forum Psychomotorik eigene Ideen zu entwickeln. Weil ihnen Knotenverbindungen anfangs nicht gelangen, wickelten sie einfach mehrere Seile übereinander. Sich Spielzeuge und Gefährte selbst zu bauen, ist für Kinder einer Wohlstandsgesellschaft nicht notwendig. Die Freude über den selbstgebauten »Bus« war aber riesengroß. Die Kinder fuhren sich die ganze Stunde damit spazieren. Die Kraftanstrengungen waren ihnen nicht zu groß. Der Vorschlag die »Hoppetosse« zu bauen, ging allein von den Kindern aus und die Realisierung gelang ihnen mit wenig Hilfe von den Erwachsenen. Sie fanden außerdem heraus, dass man sich an der Fahnenstange ganz allein und leicht hochziehen kann und sie beschäftigten sich immer wieder damit (siehe Spieletipp in diesem Heft). Sozialkompetenz Bei vielen Ideen, die die Kinder aus den Geschichten heraus entwickelten und nachspielen wollten, mussten sie sich gegenseitig helfen. Anfangs fiel es ihnen schwer, sich in die Gruppe einzubringen oder auch mal zurückzunehmen. Durch die Einnahme der verschiedenen Rollen, der in den Geschichten dargestellten Charaktere, veränderte sich das Bewusstsein in den kleinen Spielgruppen. Öfter und schneller als sonst konnte man konstruktive Zusammenarbeit erleben. Ein besonderes Problem stellte jedoch das gegenseitige Zerstören der Spielhäuschen oder das gegenseitige Wegnehmen der Materialien dar. Die AnleiterInnen gaben immer wieder den Hinweis, einmal wie Pippi Langstrumpf oder Michel aus Lönneberga zu versuchen, Streitereien zu beenden - auch ohne das Mitwirken von Erwachsenen. Je weniger sie sich auf die Unterstützung der Erwachsenen verlassen konnten, desto besser gelang es ihnen, manchmal kleinere Konflikte selbst zu lösen. Auch wenn nur wenige Kinder an dem Psychomotorik Projekt teilnehmen konnten, sind die Spielideen im ganzen Kinderhaus bekannt geworden. So fanden auch kommunikative Prozesse über die Gruppe hinaus statt. Die Kinder wurden so zu Multiplikatoren von Spielideen. Obwohl die Kinder aus verschiedenen Gruppen des Kinderhauses kamen, hatten sie mit der Zeit ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Fazit und Ausblick Ein psychomotorisches Projekt in einem Bewegungsraum stellt natürlich auch eine künstliche Spielwelt dar. Vielleicht ließen sich einige Spiele nach draußen in den Garten verlegen oder in Waldstücke. Sinnvoll wäre es ebenfalls, projektbegleitend auf Elternabenden über die Bedeutung von Psychomotorik und dem freien Spiel in Kindergruppen zu informieren. Eltern könnten angeregt werden, Tage mit den Kindern in der Natur zu verbringen. Vielleicht ergäben sich auch gemeinschaftliche Unternehmungen wie Zeltlager oder Besuche auf Bauernhöfen zusammen mit anderen Familien. Dort hätten die Kinder dann Gelegenheiten zu weitläufigem, freiem Spiel. Literatur Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Staatsinstitut für Frühpädagogik (Hrsg.) (2009): Bayerischer Erziehungs- und Bildungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. 3. Aufl. Cornelsen, Berlin Wustmann, C. (2004): Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Beltz, Weinheim / Basel Fischer, K. (2009): Einführung in die Psychomotorik. 3. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Pikler, E. (2001): Lasst mir Zeit. 3. Aufl. Richard Pflaum Verlag, München Zimmer, R. (2014): Handbuch Bewegungserziehung, Grundlagen für Ausbildung und pädagogische Praxis. Herder, Freiburg Die Autorin Gisela Schlesinger Studium Sport und Sozialkunde für das Lehramt an Gymnasien, langjährige Schultätigkeit, seit über 20 Jahren Bewegungsangebote für Kindergarten- und Vorschulkinder im Kinderhaus Nikodemus in Nürnberg Anschrift Gisela Schlesinger Kinderhaus Nikodemus Stuttgarter Str. 37 D-90449 Nürnberg gisela.schlesinger@t-online.de