eJournals motorik 40/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Kreativität und Psychomotorik

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2017
Ursina Degen
Der Beitrag befasst sich mit der Vielschichtigkeit von Kreativität und stellt ausgewählte Studien vor, die die Bedeutung der Kreativität und der Kreativitätsförderung im Bewegungsbereich und in der Pädagogik untersuchen. Im Zentrum steht die Frage, wie die Kreativität der Kinder durch Psychomotorik gefördert wird und welche Rolle dabei die persönliche Kreativität der Therapeutinnen und Therapeuten spielt. Gestützt auf zwei Kreativitätsmodelle soll der Stellenwert der Kreativität für die Psychomotorik aufgezeigt werden.
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Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag befasst sich mit der Vielschichtigkeit von Kreativität und stellt ausgewählte Studien vor, die die Bedeutung der Kreativität und der Kreativitätsförderung im Bewegungsbereich und in der Pädagogik untersuchen. Im Zentrum steht die Frage, wie die Kreativität der Kinder durch Psychomotorik gefördert wird und welche Rolle dabei die persönliche Kreativität der Therapeutinnen und Therapeuten spielt. Gestützt auf zwei Kreativitätsmodelle soll der Stellenwert der Kreativität für die Psychomotorik aufgezeigt werden. Schlüsselbegriffe: Kreativität, Kreativitätsförderung, Kinder, Psychomotorik Creativity and Psychomotricity - Creativity as a key to development support The article deals with the multitude of creativity and creativity promotion, presenting a selection of related studies from pedagogy and movement research. Central objective is the question, how children’s creativity can be enhanced by psychomotricity and what part the practitioner’s creativity plays. Using two creativity models, the importance of creativity in psychomotricity is being illustrated. Key words: creativity, creativity promotion, children, psychomotricity [ TITELRuBRIK ] [ 74 ] 2 | 2017 motorik, 40. Jg., 74-81, DOI 10.2378 / motorik2017.art13d © Ernst Reinhardt Verlag [ FACHBEITRAG ] Kreativität und Psychomotorik Kreativität als Schlüssel zur Entwicklungsförderung ursina Degen Das Phänomen Kreativität hat sich in den letzten Jahrzehnten in Wissenschaft und Praxis zu einem bedeutenden Thema in der westlichen Gesellschaft entwickelt. Die Ökonomie hat sie als Wettbewerbsvorteil entdeckt, in der Wissenschaft ist sie Schlüsselqualifikation, in der Pädagogik wird sie als immanenter Bestandteil des Bildungsauftrages gesehen und in der Kunst ist sie per se vorhanden. Für das psychomotorische Arbeitsfeld stellt sich die Frage, welche Rolle Kreativität in der psychomotorischen Entwicklungsförderung spielt. Trotz der inflationären Verwendung des Begriffes geht dieser Beitrag der Frage nach, inwiefern durch die Förderung der Kreativität Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung unterstützt werden können. Annäherung an den Begriff Kreativität Beim Begriff Kreativität ist zwischen einer alltäglichen und einer wissenschaftlichen Verwendung zu unterscheiden. Im Alltag wird Kreativität subjektiv und meist intuitiv verwendet. Im wissenschaftlichen Kontext lässt sich ein breit gefächertes Begriffsverständnis vorfinden. Etymologisch bedeutet Kreativität etwas schaffen / erschaffen und ist von dem lateinischen Wort creare abgeleitet. Die Aussage, dass jeder Mensch kreatives Potenzial in sich trägt und Kreativität eine Grundkompetenz darstellt, zeigt auf, dass Neues zu schaffen und Lösungen für Probleme zu finden eine Eigenschaft ist, die allen Menschen eigen ist (Braun 2007, 34; Cropley / Reuter 2010, 402; Kohler / Kosack 2014, 56; Kelley / Kelley 2014, 21; Röhr-Sendlmeier / Köhr 2010, 41). Kreativität wird vom Psychologen Drevdahl als Fähigkeit zur Gestaltung von Produkten und Denkergebnissen beschrieben, die für den Erschaffer / die Erschafferin etwas Neues und Unbekanntes darstellt, wie z. B. die Transportbahn des Knaben Philipp zeigt (Abb. 1). Dabei muss die [ 75 ] Degen • Kreativität und Psychomotorik 2 | 2017 kreative Tätigkeit zweckmäßig, zielgerichtet und nicht nur leere Fantasie sein (Drevdahl 1956, 22). Csikszentmihalyi fragt sich, unter welchen Umständen Kreativität in Erscheinung tritt (Csikszentmihalyi 2010, 47). Nach Csikszentmihalyi entsteht Kreativität dann, wenn ein System, bestehend aus den Elementen Domäne, Feld und Individuum interagiert. Er beschreibt ■ eine Domäne als Fachbereich mit bestimmten in der Kultur verankerten domänenspezifischen Inhalten, Regeln und Fertigkeiten ■ das Feld als soziale Organisation, die als Gruppe von Individuen mit fachbezogenem Wissen innerhalb der Domäne arbeitet ■ das Individuum, das innerhalb der Domäne eine neue Idee, ein neues Produkt entwickelt Diese Neuheit wird vom Feld akzeptiert und zu einem festen Bestandteil der Domäne (Csikszentmihalyi 2010, 46 f ). In einem der wenigen Artikel, die sich im Fachbereich Psychomotorik mit Kreativität befassen, schreibt Neuber: »Kreativität ist eine umfassende Fähigkeit, durch die über den Prozess der individuellen Auseinandersetzung subjektiv und objektiv bedeutsame, originelle Produkte hervorgebracht werden« (Neuber 2001, 216). Somit zeigt sich, dass Kreativität als ein Konglomerat aus unterschiedlichen Fähigkeiten, spezifischen Fertigkeiten, situationsbedingten Leistungen sowie motivationalen Faktoren beschrieben werden kann und entsprechende Umweltbedingungen nötig sind, um die kreativen Fähigkeiten einer Person zur Entfaltung zu bringen (Berner 2013, 28 f ). Ausgewählte Studien zur Kreativität aus Sport, Pädagogik und Psychomotorik Kreativität ist ein komplexes Phänomen, das in unterschiedlichen Fachdisziplinen erforscht wird. Im Folgenden werden sechs Studien vorgestellt, die Kreativität im pädagogischen Bereich und im Speziellen in Sport und Psychomotorik untersuchten. Studien aus dem Sport Memmert stellt verschiedene Experimente und Studien vor, die sportspielerische Kreativität mit visuellen Aufmerksamkeitsleistungen, Motivation und Umweltfaktoren in Zusammenhang bringen. Er untersucht theoriegeleitet Wirkmechanismen, die für die Entwicklung von kreativen Verhaltensweisen in Sportspielen stehen. So wird z. B. eine Untersuchung mit 116 trainierten und untrainierten Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Altersklassen erwähnt, die einen direkten Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit, Expertise und Kreativität aufzeigt. Für die Psychomotorik ist vor allem das Ergebnis relevant, dass nur die Kinder aus der instruktionsarmen Trainingsgruppe signifikanten Zuwachs bei ihren divergenten taktischen Denkleistungen zeigten und dass sportspielübergreifende Erfahrungen in der Kindheit einen positiven Einfluss auf das Generieren von ungewöhnlichen Lösungsvarianten haben (Memmert 2012, 42). Fazit: Kreativität beschreibt die Fähigkeit, etwas Neues entstehen zu lassen. Dieses Neue entsteht, indem sich eine Person / Gruppe mit einer bestimmten Materie auseinandersetzt und eine Problemlösung herbeiführt. Ausschlaggebend ist, dass eine Problemstellung existiert, die auf ungewohnte Weise gelöst wird, sodass die Wechselwirkung zwischen Fachgebiet, Umwelt, Person und deren Prozess greifen kann. Abb. 1: Transportbahn [ 76 ] 2 | 2017 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Studien aus der Primarpädagogik Die Untersuchung von Theurer et al. (2012) befasst sich mit der Entwicklung der Kreativität von Grundschulkindern vom ersten bis vierten Schuljahr. Ausgehend vom Test zum schöpferischen Denken - Zeichnerisch (TSD-Z) von Urban und Jellen (1995) stellt das Forschungsteam fest, dass die Kreativität der Kinder im ersten Schuljahr ansteigt. Ab dem zweiten Schuljahr ist eine Stagnation in den kreativen Leistungen festzustellen und zusätzlich zeigen sich »grosse Unterschiede in den individuellen Entwicklungsverläufen, die sich wiederum innerhalb von Klassen stärker ähneln als zwischen den Klassen« (Theurer et al. 2012, 174). Diese Ergebnisse zeigen, dass externe Bedingungen für die Kreativitätsentwicklung einen wichtigen Faktor darstellen. Wie Kreativität in der Grundschule gefördert werden kann, untersuchen Kirchner und Peez. Dazu erstellen sie ein Förderprogramm, das auf seine Wirkung hin ausgewertet wird. Die kreativen Kompetenzen der Kinder werden vor Beginn und am Abschluss der Fördermaßnahmen ebenfalls mit dem TSD-Z von Urban und Jellen (1995) ermittelt. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Kinder der zweiten Grundschulklasse. Die Klasse erhält über sechs Monate wöchentlich neunzig Minuten Unterricht in bildnerischem und plastischem Gestalten (Kirchner / Peez 2009, 43 f ). Die Arbeitsblätter für die Kinder enthalten Aufgabenstellungen, die spezifische Lösungsansätze erfordern wie z. B. Umdenken, Assoziieren, Umstrukturieren und zur Transferbildung und Verknüpfung von Ungewöhnlichem anregen. Die Forschenden zeigen die individuellen Fortschritte der Kinder in der Kreativität auf. Das Ergebnis der Untersuchung zeigt, dass sich die Schlüsselkompetenz Kreativität in der Grundschule fördern lässt. Für die Psychomotorik ist es spannend zu wissen, dass die Kriterien der Aufgabenstellungen (Umdenken, Assoziieren, Umstrukturieren, Transferbildung und Verknüpfung von Ungewöhnlichem) geeignet sind, kreative Fähigkeiten von Kindern zu fördern. Studie aus der Sonderpädagogik Die Studie von Weiss et al. (2014) hat zum Ziel, die Kreativitätsleistung von Jungen im Alter von 5-14 Jahren mit Asperger-Syndrom zu erfassen und mit einer Kontrollgruppe ohne Asperger- Syndrom zu vergleichen. Es werden quantitative wie qualitative Kreativitätsaspekte untersucht. Die Resultate zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom primär bei den quantitativen Kreativitätsaspekten (Ideenflüssigkeit und -flexibilität) benachteiligt sind, jedoch beim qualitativen Aspekt (Originalität) mit der Kontrollgruppe mithalten können (Weiss et al. 2014, 13 ff ). Studien aus der Psychomotorik Röhr-Sendlmeier und Köhr (2010) befassen sich in ihrer Studie mit der Förderung der motorischen Problemlösefähigkeit und Ideenvielfalt im Vorschulalter. Sie untersuchen 42 Kinder aus einem psychomotorischen Kindergarten und 40 Kinder aus einem konventionellen Kindergarten im Abstand von sechs Monaten. Sie zeigen auf, dass die Psychomotorik-Kinder im quantitativen Bereich des Problemlösens und in der Komplexität der Lösungen den anderen Kindern signifikant überlegen sind. Die Autorinnen folgern, dass die psychomotorisch geförderten Kinder früher als die Vergleichsgruppe motorisch kreative Lösungen finden und einsetzen kann. Ein halbes Jahr später haben sich alle Kinder in den untersuchten fünf Bereichen (Komplexität der Problemlösung, quantitativer Erfolg, Flexibilität, Produktivität, Qualität) verbessert. Die Steigerung der Psychomotorik-Gruppe zeigt in allen Bereichen signifikant höhere Resultate als die Kontrollgruppe (Röhr-Sendlmeier / Köhr 2010, 44 ff ). Scibinetti und Tocci (2011) untersuchen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der motorischen Kreativität und dem kreativen Denken bei 31 Kindern im Alter von sieben bis acht Jahren. Sie fragen sich, welche Rolle dabei exekutive Funktionen in der Produktion von kreativen Bewegungen und kreativem Denken spie- Umdenken, Assoziieren und Verknüpfung von Ungewöhnlichem sind geeignet, die Kreativität zu fördern. [ 77 ] Degen • Kreativität und Psychomotorik 2 | 2017 len. Sie stellen fest, dass kein Zusammenhang zwischen der motorischen Kreativität und der motorischen Kompetenz besteht, sich jedoch eine signifikante Verbindung zwischen kreativer Bewegung und Denken für alle untersuchten Dimensionen zeigt, außer für die Originalität (Scibinetti / Tocci 2011, 262). Doch welche Komponenten beeinflussen die kreativen Fähigkeiten und welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sich Kreativität bei Kindern entfalten kann? Dazu werden zwei Modelle zur Kreativität vorgestellt. Kreativitätsmodelle Von den Modellen, die Kreativität zu fassen versuchen, wird auf das Komponentenmodell der Kreativität von Urban (2004, 48; Abb. 3) und das Modell zum kreativen Prozess mit den Einflussfaktoren von Preiser und Buchholz (2008, 30; Abb. 4) eingegangen. Beide Modelle zeigen auf anschauliche Art die Komplexität der Kreativität und beleuchten die Interaktionen der verschiedenen Einflussfaktoren. Sie können zur theoretischen Fundierung in der Psychomotorik beitragen. Das Komponentenmodell zur Kreativität von Urban Urban sieht Kreativität als spezifisches Person- Problem-Prozess-Produkt-Umwelt-Verhältnis und nennt sein Modell »4P-U-Modell« (Urban 2004, 33). Urban versteht die Kreativität einer Person als Interaktion zwischen kognitiven Komponenten (divergentes Denken und Handeln, allgemeine Wissens- und Denkfähigkeitsbasis, spezifische Wissensbasis und Fertigkeiten) und personalen Komponenten (Fokussierung und Anstrengungsbereitschaft, Motive und Motivation, Offenheit und Ambiguitätstoleranz) im Austausch mit dem Umfeld (Abb. 3). Weiter unterscheidet Urban ■ die individuelle Dimension, bei der die subjektive kreative Leistung im Zentrum steht wie z. B. der »Zaubertunnel« (Abb. 2) in der Geschichte des Jungen Philipp ■ die gruppen- oder nahumwelt-bezogene Dimension und ■ die gesellschaftlich, historisch, kulturelle Dimension »Die drei erwähnten […] Bezugsdimensionen sind nicht nur wichtig und notwendig, um die jeweilige kreative Qualität des Produkts einzuschätzen […], sondern [gelten] auch als wesentliche ökologische Bedingungs- und Wirkvariablen der Umwelt für den jeweiligen kreativen Prozess« (Urban 2004, 50 f ). Für Urban sind die unterschiedlichen Kreativitäten abhängig von folgenden Faktoren: Art des Problems, Phase des kreativen Prozesses, Art des kreativen Prozesses in Abhängigkeit vom Problem und der angestrebten Lösung sowie den jeweiligen Mikrobzw. Makro-Umwelten (Urban 2004, 48). Urban erfasst mit seinem Komponentenmodell die ganze Komplexität der Wirkfaktoren, die das kreative Handeln einer Person oder Personengruppe umfassen. Modell zum kreativen Prozess mit Einflussfaktoren von Preiser und Buchholz Preiser und Buchholz (2008, 18) entwickeln ein Modell, das als »5P-Modell« bezeichnet wer- Fazit: Alle Studien zeigen, dass Kreativität gefördert werden kann. Faktoren wie Motivation, Aufmerksamkeit, Flexibilität, Transferbildung, Verknüpfung von Ungewöhnlichem sowie Umweltfaktoren begünstigen die Entwicklung von kreativen Leistungen. Abb. 2: Zaubertunnel [ 78 ] 2 | 2017 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis den kann. Person, Problem, Problemumfeld beeinflussen den kreativen Prozess und lassen ein kreatives Produkt entstehen, das sich durch Neuartigkeit, Sinnhaftigkeit und Akzeptanz auszeichnet. Der kreative Prozess wird als Modell in sieben Stufen beschrieben (Abb. 4). Im Speziellen wird auf das Problem, das nach einer kreativen Lösung verlangt, eingegangen. Das Problem muss nach Preiser und Buchholz einen Problemdruck erzeugen, Offenheit für Neues verlangen und eine fehlende Eindeutigkeit aufweisen (Preiser / Buchholz 2008, 18). Das Problemumfeld benötigt kreativitätsfördernde Bedingungen, baut Hemmungen und Blockaden ab und bietet Kreativitätstechniken an (Preiser / Buchholz 2008, 21). Anwendungsbereich Die zentrale Frage ist: Welche Bedeutung haben diese Kreativitätsmodelle für die Psychomoto- 1. Offen auf die Welt zugehen 2. Probleme analysieren und Ziele klären 3. Informationen bereitstellen 4. Auf Distanz gehen 5. Einfälle entwickeln 6. Ideen bewerten und auswählen 7. Ideen verwirklichen Kreativer Prozess: 7 Stufen Kreatives Produkt Person Problem Problemumfeld • Neuartigkeit • Kreative Fähigkeiten • Denkstile & Denkstrategien • Kreativitätsfördernde Persönlichkeitsmerkmale • Problemdruck • Offenheit für Neues • Fehlende Eindeutigkeit • Kreativitätsfördernde Bedingungen • Abbau Hemmungen & Blockaden • Kreativitätstechniken • Sinnhaftigkeit • Akzeptanz Abb. 4: Modell zum kreativen Prozess mit Einflussfaktoren nach Preiser / Buchholz (2008, 30) Ge sellschaftliche oder historische oder globale Dimension Gruppen-bezogene oder Nah-Umwelt bezogene Dimension Individuelle Dimension 1 2 3 4 5 6 Problemsensivität; Flüssigkeit; Assoziationsfähigkeit; Flexibilität; Originalität; Elaboration; Umstrukturierung & Neudefinition Metakognition; kritisches & evaluierendes Denken; schussfolgerndes & logisches Denken; Gedächtnis; breite Wahrnehmung zunehmende Aneignung bestehender Wissensbestände & Fertigkeiten in spezifischen Bereichen Fokussierung; Selektivität; Konzentration; Durchhaltevermögen; Anstrengungsbereitschaft Neugier; Bedürfnis nach Neuheit; Erkenntnisstreben; Kommunikation; Selbstaktualisierung; Instrumenteller Nutzen; Kontrollbedürfnis Offenheit für Erfahrungen; Spielen & Experimentieren; Risikobereitschaft; Ambiguitätstoleranz; Nonkonformität; Humor Divergentes Denken & Handeln Allgemeine Wissens- & Denkfähigkeitsbasis Spezifische Wissensbasis & spezif. Fertigkeiten Fokussierung & Anstrengungsbereitschaft Motive & Motivation Offenheit & Ambiguität Abb. 3: Komponentenmodell zur Kreativität nach Urban (2004, 48) [ 79 ] Degen • Kreativität und Psychomotorik 2 | 2017 rik und inwieweit können sie eine theoretische Grundlage für die praktische Arbeit bilden? Ausgehend von einer Fallgeschichte wird die Bedeutung der Kreativität im Förderprozess der Psychomotorik dargelegt. Fallgeschichte Rui Die Vorgeschichte zeigt, dass der Junge in allen Entwicklungsbereichen Defizite aufweist. Herkömmliche Arbeitsweisen im Umgang mit Rui und seinen Eltern zeigen wenig Erfolg, sodass kreative Lösungsansätze gefragt sind. Anhand des Komponentenmodells zur Kreativität von Urban (2004; Abb. 3) wird aufgezeigt, dass für die verschiedenen Aufgaben der Psychomotoriktherapeutin / des Psychomotoriktherapeuten (nachstehend abgekürzt mit PMT) alle sechs Kompetenzbereiche des Modells zur Kreativität hilfreich sind. Übertragen auf das Arbeitsfeld der Psychomotorik heißt dies: Zur Problemerkennung und Gestaltung der psychomotorischen Förderung oder Therapie wird eine allgemeine Wissens- und Denkfähigkeitsbasis verlangt, die kritisches, evaluierendes, schlussfolgerndes und logisches Denken subsummiert und zudem eine breite Wahrnehmung voraussetzt (Abb. 3, Aspekt 2). Im Weiteren enthält Urbans Modell ein Feld, das er als spezifische Wissensbasis und spezifische Fertigkeiten bezeichnet (Abb. 3, Aspekt 3). Um neue Ideen zu generieren, sind bereichsspezifisches Wissen und Kompetenz unabdingbar. So schätzt die PMT z. B. mit dem Testverfahren Movement ABC-2 (Petermann 2015) den motorischen Entwicklungsstand von Rui ein und bei Gesprächen mit Eltern und Fachpersonen wendet die PMT passende Kommunikationsmodelle an. Für die Therapieplanung und -gestaltung wird sie den Bereich divergentes Denken und Handeln (Abb. 3, Aspekt 1) benötigen. Originalität, Elaboration, Umstrukturierung, Flexibilität sowie Problemsensivität sind Komponenten dieses Bereichs. Was bis jetzt abstrakt klingen mag, wird anhand einer konkreten Spielsituation erlebbar gemacht. Kreative Fähigkeiten der PsychomotoriktherapeutInnen (nach Urban) Die Rolle der PMT im Förderprozess zeigt, dass Therapie kreative Kompetenzen voraussetzt. Das Modell von Urban (Abb. 3) bietet eine theoretische Grundlage zur Analyse dieser psychomo- Rui ist 7; 6 Jahre alt, Einzelkind und besucht die erste Klasse. Er spricht Portugiesisch und eingeschränkt Schweizerdeutsch. Bis zu seinem fünften Lebensjahr lebte er mit seiner Familie in einem Wohnwagen in verschiedenen Ländern und Sprachregionen. Seit zwei Jahren wohnt die Familie bei den Eltern des Vaters. Der Vater ist Schlosser und die Mutter übt keinen Beruf aus. Sie gilt als sehr ängstlich. Rui zeigt einen Entwicklungsrückstand in der Sprach- und Bewegungsentwicklung, hat nie gezeichnet und gebastelt, kaum Bewegungserfahrungen gemacht und bei alltäglichen Verrichtungen ist er oft überfordert. Die Integration in die erste Klasse gestaltet sich als schwierig, da sich bei ihm sprachliche und soziale Einschränkungen zeigen. Fühlt sich Rui nicht verstanden, reagiert er mit Schlägen und Verweigerung. Die Abklärung beim Schulpsychologen ergab, dass Ruis kognitive Leistungsfähigkeit knapp in der Altersnorm liegt. Im Weiteren gestaltet sich die Zusammenarbeit der Schule mit den Eltern als äußerst schwierig. Rui wird zur Psychomotorik angemeldet. Situation 1: Rui will in das große, weiße, leicht schwankende Segeltuch-Schiff einsteigen. Zögernd hält er sich daran fest und hebt sein rechtes Bein. Philipp ruft Rui ungeduldig zu: »Komm endlich, wir fahren los! « Bevor Rui zum Schlag gegen Philipp ausholt, zieht die PMT am Tuch und mit einem fiktiven Tau bindet sie das schaukelnde »Schiff« an einen »Steg«. Auch dieser existiert nicht wirklich, doch kommt der Rand des Segeltuches nun auf Ruis Hüfthöhe und es gelingt ihm einzusteigen. Zufrieden kann er nun auch an der Abenteuerfahrt teilzunehmen. [ 80 ] 2 | 2017 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis torischen Situation. Die PMT benötigt in dieser kurzen Sequenz einerseits Problemsensibilität, Umstrukturierungsfähigkeit, kritisches und evaluierendes sowie schlussfolgerndes Denken und eine breite Wahrnehmung. Das kreative Denken und Handeln sowie Situationsfokussierung und Anstrengungsbereitschaft, das spielerische Tun und auch das Kontrollbedürfnis, wie auch eine gewisse Risikobereitschaft gemischt mit Humor ermöglichen ihr, die Situation innerhalb kürzester Zeit positiv zu konnotieren und den Spielfluss aufrechtzuerhalten. Dies zeigt m. E. deutlich auf, dass kreative Fähigkeiten die Basis therapeutischen Handelns bilden. Rui zeigt - bezogen auf Urbans Modell - deutlich Anstrengungsbereitschaft, Neugier sowie Offenheit für Erfahrungen. Somit lassen sich anhand dieser kurzen Situationsschilderung viele kreative Faktoren eruieren (Abb. 3, Aspekte 4, 5, 6). Förderung der kreativen Fähigkeiten (nach Preiser und Buchholz) Der folgende Ausschnitt aus einer Therapiestunde zeigt, dass bei Rui Faktoren zum Tragen kommen, die den kreativen Prozess umschreiben. Nach dem Modell zum kreativen Prozess und seinen Einflussfaktoren (Preiser / Buchholz 2008; Abb. 4) zeigt sich, dass bei Rui alle »5-P« zum Tragen kommen. Das Problem für Rui besteht darin, dass er ein Schiff - genauer: ein Meerschiff - herstellen will. Es ist nicht klar (fehlende Eindeutigkeit), mit welchem Material er dieses erstellt. Mittels seiner Offenheit für Neues entdeckt er die Rhythmikstäbchen. Als Problemdruck kann angenommen werden, dass er auch etwas aus der erlebnisreichen Geschichte des ersten Teils der Stunde gestalten möchte. In der Psychomotorik findet Rui (nach Preiser / Buchholz 2008) ein Problemumfeld, das ihm kreativitätsfördernde Bedingungen bietet und Hemmungen und Blockaden abbaut, da es hier kein eindeutiges »Falsch« oder »Richtig« gibt (Preiser / Buchholz 2008, 20 f ). Er alleine wählt die Rhythmikstäbchen und kreiert sein eigenes persönliches Meerschiff (Abb. 5). Sein Produkt entsteht in einem kreativen Prozess, auf den hier nicht näher eingegangen wird, da er eine Innensicht darstellt, die nicht wiedergegeben werden kann. Doch Ruis kreatives Produkt weist klar eine Neuartigkeit und Sinnhaftigkeit auf, stößt bei allen Beteiligten auf hohe Akzeptanz und wird auch von der Mutter, die Rui abholt, bewundert. Fest steht, dass diese subjektiv kreative Leistung Ruis qualitativ auf der Ebene der individuellen Dimension anzusiedeln ist (Abb. 3). Fazit Die Wiederentdeckung der Kreativität für die Psychomotorik bietet eine einmalige Chance, die psychomotorische Förderung in Schule und Therapie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Mit dem Wissen um die Multidimensionalität der Kreativität und gestützt auf die Kreativitätsmodelle (Urban 2004; Preiser / Buchholz 2008) können Interventionen theoriegeleitet auf neue Weise reflektiert und begründet werden. Kreativität ist für die Persönlichkeitsentwicklung essenziell und wird in der praktischen Arbeit auf verschiedenste Arten gewährleistet. Ob in der Psychomotorik kreative Problemlösungen gefragt sind, ob Fiktions-, Rollen- oder Konstrukti- Situation 2: Rui sitzt ruhig und konzentriert am Boden. Er hat viele verschiedenfarbige Rhythmikstäbchen neben sich. Er will wissen, wie viele Stockwerke und Kamine ein Meerschiff hat, und erzählt anschließend von ruhigen Wellen, kreischenden Vögeln und der Sonne. Sein Gesichtsausdruck zeigt, dass er mit Stolz an seinem Werk arbeitet (Abb. 5). Abb. 5: Meerschiff [ 81 ] Degen • Kreativität und Psychomotorik 2 | 2017 onsspiele im Zentrum stehen, die Kinder können ihre kreativen Fähigkeiten einbringen und weiter entwickeln. Explorieren, sich an Neues wagen, Herausforderungen annehmen und mit Frustrationen umgehen lernen sind Ziele, die für alle Kinder auf dem Weg zur Persönlichkeit eine wesentliche Rolle spielen. Begleitet von den kreativen Fähigkeiten der Psychomotoriktherapeutin / des Psychomotoriktherapeuten und deren/ dessen kompetentem Fachwissen, entwickeln Kinder entsprechend ihren persönlichen Möglichkeiten in der Psychomotorik ihre kreativen Fähigkeiten. Dieser Artikel durchlief das Peer-Review. Literatur Braun, D. (2007): Handbuch Kreativitätsförderung. Kunst und Gestalten in der Arbeit mit Kindern. Herder, Freiburg i.Br. Berner, N. E. (2013): Bildnerische Kreativität im Grundschulalter. Plastische Schülerarbeiten empirisch betrachtet. 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