eJournals motorik 40/3

motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2017
403

Eine andere Praxis mit Embodiment?

71
2017
Ruth Haas
Der Beitrag greift zentrale Aspekte des Embodiments-Ansatzes auf und diskutiert deren mögliche Relevanz für die psychomotorische Praxis.
7_040_2017_003_0114
Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag greift zentrale Aspekte des Embodiments-Ansatzes auf und diskutiert deren mögliche Relevanz für die psychomotorische Praxis. Schlüsselbegriffe: Embodiment, psychomotorische Praxis, Leib- Seele-Diskussion A change in practice due to embodiment? Confirmation or modification of psychomotor practice This article discusses central aspects of the embodiment approach in regards to their relevance for psychomotor practice. Key words: Embodiment Approach, Psychomotor Practice, Body- Mind-Discussion [ TITELRuBRIK ] [ 114 ] 3| 2017 motorik, 40. Jg., 114-117, DOI 10.2378 / motorik2017.art19d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORuM PSyCHOMOTORIK ] Eine andere Praxis mit Embodiment? Bestätigung oder Veränderung der psychomotorischen Praxis Ruth Haas Bewegung und Bedeutung Psychomotorische Entwicklungsbegleitung und Therapie weisen in der Praxis und in der Theoriebildung einen großen und kreativen Reichtum auf. Die Arbeit mit symbolischen leiblichen Ausdrucksformen zieht sich wie ein roter Faden durch die praxisrelevanten psychomotorischen Publikationen (Seewald 2007; Jessel 2010; Esser 2011; Haas et al. 2014). Begründer und Initiator dieser Perspektive ist Jürgen Seewald, der den Verstehenden Ansatz in der Motologie konzipiert hat (Seewald 1992 / 2002). Dieser Ansatz betrachtet den Menschen als ProduzentenIn von subjektivem Sinn, der unmittelbar über den Leib und durch Bewegung erfahren und geschaffen wird. Bewegung trägt Sinn. Durch Bewegung und im Leib findet die psychische Realität ihren Ausdruck (Seewald 1993). Der Ansatz basiert auf leibphänomenologischer, symboltheoretischer sowie entwicklungspsychologischer Grundlage. Bislang mangelte es jedoch an empirischen Belegen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Embodiment-Ansatz (Storch et al. 2010) als hilfreiche empirische Untermauerung der seit Langem theoriebasierten Perspektiven und der psychomotorischen Praxis. Offen bleibt jedoch, inwieweit die psychomotorische Praxis durch die Auseinandersetzung mit dem Embodiment-Ansatz bereichert werden kann. Erkenntnisse aus der Embodiment- Forschung und ihre mögliche praktische Relevanz Körperliche Prozesse sind psychische Prozesse - psychische Prozesse sind körperliche Prozesse Die Embodiment-Perspektive beschreibt, dass psychische Prozesse immer körperliche Prozesse sind und im bzw. mit dem Körper erlebt und gedacht werden. Sie geht davon aus, dass die Psyche den Körper beeinflusst und der Körper die Psyche (Tschacher / Storch in diesem Heft). Psychische Vorgänge finden stets in einer körperlichen Einbettung statt. Sie sind daher mehr als reine Informations- oder Symbolverarbeitungsprozesse anzusehen (Hüther 2006). Empirische Studien belegen, dass der Körper das emotionale Erleben beeinflusst. Körperhaltungen, [ 115 ] Haas • Eine andere Praxis mit Embodiment? 3| 2017 die eng mit bestimmten Emotionen geknüpft, können das Erleben dieser Emotion erzeugen. Daraus wird geschlossen, dass nicht nur der Körper die Psyche repräsentiert, sondern auch die Psyche den Körper (Storch 2006). Werden diese Gedanken linear und undifferenziert auf die Praxis übertragen, besteht die Gefahr einer unzulässigen Reduktion der Komplexität des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Dies ist beispielsweise in frühen körpertherapeutischen Ansätzen wie z. B. von Wilhelm Reich im Rahmen seiner Charakteranalyse geschehen (Reich 1980) oder wird in einiger Literatur zum Thema Körpersprache propagiert (Molcho 2006; 2013). Motorische Synchronisation Motorische Synchronisation bedeutet die wechselseitige unwillkürliche Anpassung des Bewegungsverhaltens an eine / n InteraktionspartnerIn. Implizites und spontanes Auftreten von Synchronie, etwa z. B. unbewusste körperliche Imitationen und Spiegelungen wurden in Therapiesituationen untersucht. Es wurde dabei festgestellt, dass motorische Synchronie zwischen InteraktionspartnerInnen, wenn diese ohne bewusste Steuerung entsteht, mit positiven Gefühlen verbunden ist (Tschacher et al. 2014). Embodiment und Kommunikation Der Embodimentansatz wirft ausgehend von einer Kritik an klassischen Kommunikationsmodellen ein neues »Licht« auf kommunikative Prozesse (Storch / Tschacher 2006). Dabei werden die lange Zeit gelehrten und weit verbreiteten Kommunikationsmodelle, die von Sender-Empfängermodellen ausgingen, kritisch hinterfragt. Gemeinsam ist diesen Modellen, dass das Kommunikationsgeschehen wie folgt beschrieben wird: Eine Person sendet eine Nachricht, die von- einer empfangenden Person entschlüsselt werden muss. Die AutorInnen der »Embodied Communication« gehen davon aus, dass InteraktionspartnerInnen immer gleichzeitig und kontinuierlich senden und empfangen. Das bedeutet, dass sich Kommunikation in ihrer Vielschichtigkeit erst in dem Moment der Begegnung ereignet und weder kontrolliert werden kann noch eine feste Botschaft beinhaltet. Die Botschaft entsteht wechselseitig im Augenblick des kommunikativen Ereignisses und unter bestimmten Rahmenbedingungen. Gelingt eine Interaktion nicht gut synchronisiert, entstehen negative Affekte, die »embodied«, oder anders ausgedrückt leiblich wahrgenommen werden. Die auftauchenden Affekte in einer Begegnung transportieren »weichenstellende Informationen« (Storch / Tschacher 2006, 71). Positive Affekte sorgen dafür, dass die kommunikative Begegnung fließt. Die AutorInnen empfehlen deshalb, kommunikative Situationen mit Blickkontakt und voller Aufmerksamkeit für die eigene Person und das Gegenüber zu gestalten. Darüber hinaus betonen Storch und Tschacher (2006) die Bedeut- Im Transfer auf psychomotorische Praxis kann abgeleitet werden, dass Bewegung immer einen Einfluss auf das psychische Erleben hat. Psychische Prozesse werden zudem körperlich erfahren. Die emotionale und körperliche Bedeutung variiert jedoch aufgrund der Vielfältigkeit situativer, biografischer und sozialer Einflussfaktoren inter- und intraindividuell erheblich. Interpretationen und Deutungen von anderen Menschen - aus einer Außenperspektive - laufen deshalb Gefahr, fehlerhaft zu sein. Dieser Aspekt könnte sich für die psychomotorische Praxis bei der Analyse von gelungenen und nicht gelungenen Interaktionen in der Bewegungsbeobachtung als hilfreich erweisen. »Kommunikation ist etwas, das sich selbstorganisiert ereignet, wenn sich Sender und Empfänger in einem geeigneten Kontext begegnen« (Storch / Tschacher 2016, 58). Positive Affekte sorgen dafür, dass die kommunikative Begegnung fließt. [ 116 ] 3| 2017 Forum Psychomotorik samkeit des offenen Zuhörens, ohne von den eigenen Denk- und Erlebensmustern in Beschlag genommen zu sein. Bei der Betrachtung dieser Empfehlungen der »Embodied Communication« wird deutlich, dass diese Aspekte im Verstehenden Ansatz in der Motologie differenzierter aufgegriffen wurden (Seewald 1997). Kongruenz, Echtheit und Zuhören wurden zudem bereits auch in der klientenzentrierten Gesprächstherapie als zentrale Grundhaltungen von TherapeutenInnen benannt (Rogers 2009). »Embodied Communication« betrachtet Interaktionsprozesse aus einem klassisch psychologischen Blickwinkel, in dem bisher körperlichen Prozessen nur wenig Raum im wissenschaftlichen Diskurs gegeben wurde. Resümee Die eingangs gestellte Frage, ob die Rezeption des Embodiment-Ansatzes eine neuartige, andere, vielleicht bessere psychomotorische Praxis zur Folge hat, muss offen bleiben. Eine differenzierte Betrachtung psychomotorischer Handlungsfelder, Zielgruppen und des Selbstverständnisses psychomotorischer PraktikerInnen ist erforderlich. Fest steht jedoch, dass die Embodiment-Forschung empirische Begründungszusammenhänge für bislang geisteswissenschaftlich begründete Phänomene bietet und das psychomotorische Denken und Handeln bestätigt. Veraltete, weit verbreitete Kommunikationsmodelle werden infrage gestellt. Der prozesshafte sich im Augenblick erst ereignende Kommunikationsprozess wird betont. Die affekthafte Konnotation der zwischenleiblichen Begegnung wird als »diagnostische Hilfe« sowie Ermöglichung bzw. Verhinderung gelingender zwischenleiblicher, motorischer Kommunikation hervorgehoben. Literatur Balgo, R. (1998): Bewegung und Wahrnehmung als System. Systemisch-konstruktivistische Positionen in der Psychomotorik. Hofmann, Schorndorf, Esser, M. (2011): Beweg-Gründe: Psychomotorik nach Bernard Aucouturier. Ernst Reinhardt, München / Basel Haas, R., Golmert, C., Kühn, C. (2014): Psychomotorische Gesundheitsförderung in der Praxis: Spiel- und Dialogräume für Erwachsene. Hofmann, Schorndorf Hüther, G. (2006): Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann. In: Storch, M., Tschacher, W. (2006): Embodied Communication. Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf. Hogrefe, Bern, 61-69 Jessel, H. (2010): Leiblichkeit - Identität - Gewalt. Der mehrperspektivische Ansatz der psychomotorischen Gewaltprävention. VS Verlag, Wiesbaden Molcho, S. (2006): Das ABC der Körpersprache. Hugendubel, München Molcho, S. (2013): Körpersprache. Goldmann TB, München Reich, W. (1980): Character Analysis. Farrer, Strauss and Giroux, New York Rogers, C. (2009): Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München / Basel Seewald, J. (1997): Der Verstehende Ansatz und seine Stellung in der Theorielandschaft der Psychomotorik. Praxis der Psychomotorik 22 (1), 4-15 Seewald, J. (1992 / 2002): Leib und Symbol. Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung (Übergänge). Werner Fink, Paderborn. Die psychomotorische Praxis betont die Zwischenleiblichkeit und Wechselseitigkeit leiblicher Begegnungen, die im Augenblick des Geschehens prozessorientiert gestaltet und leiblich erfahren werden. Der Gestaltung von Rahmenbedingungen wird in der psychomotorischen Diskussion traditionsgemäß eine hohe Bedeutung zugeschrieben. »Embodied Communication« kann die psychomotorische PraktikerIn daran erinnern, dass Rahmenbedingen dazu beitragen, dass Kommunikationsprozesse gelingen. Die systemtheoretisch basierten Ansätze in der Psychomotorik zeigen bereits seit Langem auf, dass Systembedingungen auf spezifische Weise menschliches Erleben und Verhalten entstehen lassen (Balgo 1998; Jessel 2010). Zudem wird hervorgehoben, wie stark Affekte die Kommunikation tragen. Das intuitive leibliche Erleben von PsychomotorikerInnen, das in der Psychomotorik Teil der Methode ist, wird »gesellschaftsfähig gemacht«. [ 117 ] Haas • Eine andere Praxis mit Embodiment? 3| 2017 Seewald, J. (1993): Entwicklungen in der Psychomotorik. Praxis der Psychomotorik 18 (2), 49-58 Storch, M., Cantieni, B., Hüther, G., Tschacher, W. (2010): Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Huber, Bern Storch, M., Tschacher, W. (2006): Embodied Communication. Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf. Hogrefe, Bern Storch, M. (2006): Wie Embodiment in der Psychologie erforscht wurde. In: Storch, M. Storch, M., Cantieni, B., Hüther, G., Tschacher, W. (Hrsg.): Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Huber, Bern, 35-72 Tschacher, W., Rees, G.M., Ramseyer, F. (2014): Nonverbal synchrony and affect in dyadic interactions. Frontiers in Psychology, 5 (1323). In: http: / / journal. frontiersin.org/ article/ 10.3389/ fpsyg.2014.01323/ full (28.03.2017); https: / / doi.org/ 10.3389/ fpsyg. 2014.01323 Die Autorin Prof. Dr. Ruth Haas Diplom Motologin, Weiterbildung in Integrativer Tanztherapie seit 2002, Professorin für Körper- und Bewegungstherapie an der Hochschule Emden- Leer, Studiengangsleitung des Interdisziplinären Bachelorstudiengangs Physiotherapie-Motologie-Ergotherapie Anschrift Prof. Dr. Ruth Haas Hochschule Emden-Leer Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit Constantiaplatz 4 D-26723 Emden ruth.haas@hs-emden-leer.de Was Kinder bewegt 2013. 242 Seiten. 160 Abb. Innenteil zweifarbig. (978-3-497-02360-8) kt Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren drücken in Spiel und Bewegung Themen aus, die sie beschäftigen und mit denen sie sich identifizieren. Wie lassen sich solche Bewegungsthemen in der psychomotorischen Förderung aufgreifen und umsetzen? Die Autorinnen liefern eine Fülle an konkreten und kreativen Förderideen. Die leicht umsetzbaren Spielideen schicken die Kinder dabei auf eine spannende Bewegungsreise um die ganze Welt - von der Ritterburg bis zum Piratenschiff, vom Dschungel bis zu den Sternen! a w