eJournals motorik 40/3

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2017
403

Praxistipps: Interdisziplinäre Kiste

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2017
Benjamin Breuer
Beatrix Springer
»Interdisziplinäre Kiste« – Vielleicht stellen Sie sich bei dem Blick auf den Titel die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Begrifflichkeiten Interdisziplinarität und Kiste zueinander stehen und was es damit auf sich hat. In dem vorliegenden Artikel wird schriftlich eine interdisziplinäre Kiste gebaut, gefüllt und aufgelöst. Der Begriff Interdisziplinarität wurde erstmals 1937 in den amerikanischen Sozialwissenschaften eingesetzt und 1960 in die deutschen Sozialwissenschaften übernommen (Kälble 2004, 37 f.). Der Begriff wird hauptsächlich als fach- und berufsübergreifende Zusammenarbeit verwendet. Es wird von Interdisziplinarität gesprochen, wenn sich zwei oder mehrere Bereiche einzelner Disziplinen, Wissenschaften oder Professionen über eine Kommunikation und Einbeziehung von kognitiven Verläufen und sozialen Organisationen im Forschungsbereich verständigen und austauschen können (Käble 2004, 37 f.).
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[ 140 ] 3| 2017 Praxistipp [ PRAxISTIPP ] Interdisziplinäre Kiste Begriffliche Klärung »Interdisziplinäre Kiste« - Vielleicht stellen Sie sich bei dem Blick auf den Titel die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Begrifflichkeiten Interdisziplinarität und Kiste zueinander stehen und was es damit auf sich hat. In dem vorliegenden Artikel wird schriftlich eine interdisziplinäre Kiste gebaut, gefüllt und aufgelöst. Der Begriff Interdisziplinarität wurde erstmals 1937 in den amerikanischen Sozialwissenschaften eingesetzt und 1960 in die deutschen Sozialwissenschaften übernommen (Kälble 2004, 37 f.). Der Begriff wird hauptsächlich als fach- und berufsübergreifende Zusammenarbeit verwendet Es wird von Interdisziplinarität gesprochen, wenn sich zwei oder mehrere Bereiche einzelner Disziplinen, Wissenschaften oder Professionen über eine Kommunikation und Einbeziehung von kognitiven Verläufen und sozialen Organisationen im Forschungsbereich verständigen und austauschen können (Käble 2004, 37 f.). Ebenso grenzen sich die einzelnen Disziplinen in ihrer eigenen Fachlichkeit nicht aus, sondern erweitern ihr Wissen durch das Zusammenarbeiten mit anderen Disziplinen (Jungert 2013, 1 ff.). Laut Balsiger wird die Interdisziplinarität folgendermaßen definiert: Zahlreiche Hochschulen bieten aus diesem Grunde interdisziplinäre Studiengänge an. Im Zuge der Akademisierung der Gesundheitsfachberufe etablierte sich in den letzten drei Jahren an der Hochschule Emden / Leer der Studiengang Interdisziplinäre Physiotherapie, Motologie und Ergotherapie (Hochschule Emden / Leer 2016). Interdisziplinäre Schnittstellen treten jedoch nicht alleine bei diesen drei Berufsgruppen auf. Ein ganz aktuelles Thema, welches die Gesellschaft beschäftigt, sind geflüchtete Menschen und die daraus resultierenden Probleme und Schwierigkeiten. An dieser Stelle bietet es sich an, mit den SozialarbeiterInnen eine weitere aktuell stark geforderte Profession in die interdisziplinäre Arbeit einzubinden (Wissenschaftsrat 2011). Innerhalb zahlreicher interdisziplinärer Seminare im Kontext psychomotorischer Gesundheitsförderung fiel auf, dass die Integration von geflüchteten Menschen bei allen Professionen in der täglichen Arbeit eine Rolle spielt. In verschiedensten Projekten kristallisierte sich durch die vielfältigen Blickwinkel der einzelnen Professionen heraus, dass ein weiteres Thema in der täglichen Arbeit, neben der Einwanderung und deren Folgeerkrankungen, die Integration in die Gesellschaft ist. An dieser Stelle kommt dem Medium Bewegung eine zentrale Rolle zu. Bewegung erreicht viele Menschen, weil sie unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion, Herkunft, Bildung und Einkommen allen gleichermaßen offen steht (Bundesregierung 2016). Ein weiterer für Praxis relevanter Punkt ist, dass viele der Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, in ihrem Heimatland und auf der Flucht traumatisierende Ereignisse erlebt haben (BPtK 2015, 4). Im Embodiment-Ansatz wird genau diese Problematik speziell berücksichtigt und versucht, durch Bewegung den Zugang zu Körper und Psyche des Individuums zu erleichtern. Durch offene Bewegungsangebote ist es dem Körper möglich, positive Erfahrungen und Fortschritte in Bezug auf leibliche und seelische Themen zu erlangen. Beide Aspekte des Embodiments beeinflussen sich gegenseitig und können nur dann Erfolg haben, wenn sich beide stetig ergänzen (Tschacher / Storch 2010, 163). Im weiteren Text wird daher eine interdisziplinäre praktische bewegungs- »Interdisziplinarität ist eine Form kooperativen Handelns in Bezug auf gemeinsam erarbeitete Problemstellungen und Methoden, welche darauf gerichtet ist, durch Zusammenwirken geeigneter Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen das jeweils angemessenste Problemlösungspotenzial für gemeinsam bestimmte Zielsetzungen bereitzustellen. Eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren und deren Verhältnis zueinander legt die Zusammenarbeit von Fall zu Fall fest« (Balsiger 2005, 173). [ 141 ] Praxistipp 3| 2017 orientierte Vorgehensweise der Professionen Physiotherapie, Ergotherapie, Motopädie und Soziale Arbeit dargestellt. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Sensibilisierung von Fachkräften für die verschiedenen Themen der Zielgruppe. Die Praxis Einstieg in die Sensibilisierung: Eine Gruppe, die sich homogen aus den vier Professionen zusammensetzt, hat als Material Umzugskartons zur Verfügung. Einzige verbale Anweisung, in der Aufforderung zu einer spielerischen Bewegungssequenz, sind die Begrifflichkeiten »geflüchtete Menschen«, der selbstgewählte Schwerpunkt Integration sowie die Aufforderung, sich spielerisch damit auseinanderzusetzen. Was für eine Chance bietet das Spiel? Ein Spiel bringt gesundheitsförderliche Stärke mit sich mit, da sich die Menschen beim Spielen für einen gewissen Zeitraum eine Pause vom Alltag leisten (Oerter 2011). Dadurch tritt bei den Menschen Entspannung ein, da die Aufmerksamkeit bei dem aktuellen Spiel in der Gegenwart ist. Schließlich baut sich der Mensch durch das Spiel seinen Schutzraum auf (Haas 2014, 7). Folgende Spielanregungen wurden interdisziplinär entwickelt: 1. Spiel: »Auf den Weg machen«: Die TeilnehmerInnen falten die Umzugskartons zusammen und stellen sich jeweils mit einem Bein in einen Karton. Im Anschluss fassen sie sich an den Händen und bilden eine Kette. Nun versuchen sie, sich gemeinsam im Raum zu bewegen oder von einer Ecke zu einer anderen Ecke des Raumes zu gelangen. Abb. 1: »Auf den Weg machen« 2. Spiel: »Unterwegs sein«: Die TeilnehmerInnen bilden Kleingruppen (mindestens zwei Personen) und es gilt, verschiedene Rollen zu verteilen. Eine/ r der TeilnehmerInnen nimmt die sitzende Funktion im Karton ein. Die anderen TeilnehmerInnen agieren als »Antrieb«. Die Rollen werden im Laufe des Spiels getauscht, sodass jede/ r die Chance erhält, sich in jede Rolle hineinzuversetzen und sie zu erleben. Wenn sich mehrere Gruppen gebildet haben, kann Strecke mit Start und Ziel vereinbart und gegeneinander in den Wettkampf getreten werden. Abb. 2: »Unterwegs sein« 3. Spiel: »Ein Platz zum Sein«: Die TeilnehmerInnen bauen zusammen aus den aufgebauten Umzugskartons eine zusammenhängende Ebene. Diese Kartonfläche dient als gemeinsame Rückzugsfläche. Nicht aufgebaute flache Kartons können zur Stabilisierung dienen. Im Anschluss erfolgt die Aufforderung, einen alleinigen Rückzugsort mithilfe des Materials zu gestalten. Gegenseitige Besuche und Unterstützung sind erwünscht. Abb. 3: »Ein Platz zum Sein« 4. Spiel: »Eine neue Welt gestalten«: Die TeilnehmerInnen stapeln Kartons aufeinander, sodass eine große Schutzmauer vor ihnen entsteht. Nach einem gemeinsamen Zeichen gilt es, die Mauer mithilfe des eigenen Körpers zu zerstören. Danach geht es darum, zusammen so schnell wie möglich ein neues Gebäude oder Unterkunft zu bauen. Abb. 4: »Eine neue Welt gestalten« Fazit Resümierend lässt sich sagen, dass gerade der Rahmen der psychomotorischen Gesundheitsförderung für die verschiedensten Professionen eine Chance bietet, interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern, zu leben und zuzulassen. In der Reflexion äußerten die verschiedensten Professionen, dass eine interdisziplinäre gesundheits- und sozialpädagogische Herangehensweise gerade in Bezug auf die Zielgruppe sinnvoll erscheint und die tägliche Arbeit professionalisieren und verbessern könnte. Weiterhin sei es wünschenswert, zukünftig verschiedene Zielgruppen multiprofessionell zu [ 142 ] 3| 2017 Praxistipp betrachten, um eine interdisziplinäre Arbeit zu ermöglichen. So kompliziert scheint es mit der Interdisziplinarität nicht zu sein! … Oder? Literatur Balsiger, P. W. (2005): Transdisziplinarität. Wilhelm Fink Verlag, München Bundesregierung (2016): Sport verbindet. In: https: / / www.bundes regierung.de/ Content/ DE/ Magazine/ emags/ ebalance/ 054/ sc-sportverbindet.html, 04.12.2016 BPtK (2015); Standpunkt: Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen. In: www.bptk.de/ uploads/ media/ 20150916_BPtK-Standpunkt_ psychische_Erkrankungen_bei_ Fluechtlingen.pdf, 28.03.2017 Haas, R. (2014): Einleitung - Grundgedanken. In: Haas, R., Golmert, C., Kühn, C. (Hrsg.): Psychomotorische Gesundheitsförderung in der Praxis- Spiel- und Dialogräume für Erwachsene - Reihe Motorik. Band 31. Hoffmann-Verlag, Schorndorf, 7-10 Hochschule Emden / Leer (2016): INTERDISZIPLINÄRE PHYSIOTHERAPIE- MOTOLOGIE-ERGOTHERAPIE - Ziel des Studiums. In: https: / / www.hs-emdenleer.de/ no_cache/ fachbereiche/ soziale-arbeit-und-gesundheit/ studiengaenge/ interdisziplinaerephysiotherapie-motologieergotherapie.html, 28.03.2017 Jungert, M. (2013): Was zwischen wem und warum eigentlich? - Grundsätzliche Fragen der Interdisziplinarität. In: Jungert, M., Romfeld, E., Sukopp, T., Voigt, U. (Hrsg.): Interdisziplinarität - Theorie, Praxis, Probleme. 2.-Aufl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1-12 Kälble, K. (2004): Berufsgruppen- und fachübergreifende Zusammenarbeit - Terminologische Klärungen - Der Begriff Interdisziplinarität und Arten der Interdisziplinarität. In: Kaba-Schönstein, L., Kälble, K. (Hrsg.): Interdisziplinäre Kooperation im Gesundheitswesen. Mabuse Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 29-42 Oerter, R. (2011): Psychologie des Spiels. 2. Aufl. Psychologie Verlags Union, Weinheim Tschacher, W., Storch, M. (2010): Embodiment und Körperpsychotherapie. In: Künzler, A., Böttcher, C., Hartmann, R., Nussbaum, M. (Hrsg.): Köperorientierte Psychotherapie im Dialog. Springer Verlag, Heidelberg, 161-176 Wissenschaftsrat (2012): Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen - Die akademischen Berufe der Gesundheitsversorgung und ihre Zusammenarbeit. In: www.wissenschaftsrat.de/ download/ archiv/ 2411-12.pdf, 28.03.2017 Benjamin Breuer, Beatrix Springer DOI 10.2378 / motorik2017.art23d 2017. 148 Seiten. 47 Abb. 3 Tab. (978-3-497-02688-3) kt Eine Myofunktionelle Störung zu therapieren, kann oft mühselig und wenig lustvoll für das Kind und den Therapeuten sein, wenn nur »am Mund« gearbeitet wird. Die Autorinnen zeigen mit ihrem umfassenden und praxisorientierten Therapiekonzept MyoMot, wie Sprachtherapeut- Innen orofaziale Strukturen und den gesamten Körper in die Therapie einbeziehen können. So sind die Kinder mit Spaß bei der Sache und der Therapieerfolg kann langfristig gesichert werden. Eine vielseitige Spielesammlung, ein Anamnese- und Befundbogen, ein Wochenplan und praktische Tipps für die Elternarbeit erleichtern die therapeutische Arbeit bei einer Myofunktionellen Störung. a w Ein praktisches Therapiekonzept