eJournals motorik 40/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2017.art10d
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2017
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Wahrnehmungsförderung durch Psychomotorik in der Natur

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2017
Daniel Klein
Andrea Kurth
Veränderte Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen führen zu einer zunehmenden Entfremdung von der Natur. Auch Angebote der psychomotorischen Förderung werden häufig in geschlossenen Räumen durchgeführt. Psychomotorische Prinzipien lassen sich jedoch hervorragend auf Aktivitäten in der Natur übertragen. Die Wahrnehmungsförderung ist ein wesentliches Ziel der Psychomotorik. Natürliche Umgebungen bieten diesbezüglich vielfältige Umsetzungsmöglichkeiten. Angenommene positive Wirkungen einer psychomotorischen Förderung in der Natur sollten zukünftig empirisch abgesichert werden.
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Zusammenfassung / Abstract Veränderte Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen führen zu einer zunehmenden Entfremdung von der Natur. Auch Angebote der psychomotorischen Förderung werden häufig in geschlossenen Räumen durchgeführt. Psychomotorische Prinzipien lassen sich jedoch hervorragend auf Aktivitäten in der Natur übertragen. Die Wahrnehmungsförderung ist ein wesentliches Ziel der Psychomotorik. Natürliche Umgebungen bieten diesbezüglich vielfältige Umsetzungsmöglichkeiten. Angenommene positive Wirkungen einer psychomotorischen Förderung in der Natur sollten zukünftig empirisch abgesichert werden. Schlüsselbegriffe: Psychomotorik, Natur, Wahrnehmung, Entwicklungsförderung The promotion of perception through psychomotoric activities in nature Altered living conditions of children and teenagers lead to an increasing alienation from nature. Psychomotoric interventions often take place in closed rooms as well. However, principles of psychomotricity can be easily transferred to nature activities. The improvement of perception is a main objective of psychomotricity. In this regard, natural surroundings offer various opportunities. Expected positive effects of psychomotoric activities in nature should be verified in future studies. Key words: psychomotricity, nature, perception, development promotion [ TITELRuBRIK ] [ FORuM PSyCHOMOTORIK ] Wahrnehmungsförderung durch Psychomotorik in der Natur Daniel Klein, Andrea Kurth Psychomotorik in der Natur Die Lebens- und Freizeitgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland unterscheiden sich heutzutage meist fundamental im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten. Durch Trends der Urbanisierung, Technisierung und Motorisierung bewegen sich Kinder weniger im Freien. Eine Verinselung der Kindheit findet insofern statt, als dass verschiedene Settings, in denen Kinder Zeit verbringen (Elternhaus, Schule, Sportverein, …), räumlich oft weit voneinander entfernt liegen und (scheinbar) nur im Auto der Eltern zu überbrücken sind (Dordel 2007). Dies verhindert ein eigenständiges Entdecken und Erweitern der räumlichen und natürlichen Umwelt. Auch Fernsehen, Internet, Video- und Computerspiele bewirken, dass Kinder seltener draußen spielen und einseitig visuell-auditive Wahrnehmungserfahrungen machen (Manz et al. 2014). Andere für die Entwicklung wichtige Wahrnehmungserfahrungen, wie taktil-kinästhetische und vestibuläre, rücken im Alltag zunehmend in den Hintergrund (Dordel 2007). Die beschriebenen Lebensbedingungen führen zu einer zunehmenden Entfremdung von Kindern und Jugendlichen von der Natur (Späker 2010a). »Das Verhältnis des Menschen zur Natur [ist jedoch] immer auch ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinem Körper, seiner geistigen Wirklichkeit und seiner sozialen Umwelt« (Späker 2010b, 100). Daher kann ein Mangel an Erfahrungen in und mit der Natur möglicherweise die physische und psychische Entwicklung des Menschen negativ beeinflussen. Die Natur bietet äußerst vielfältige Bedingungen (Wälder, Wiesen, Bäche, Hügel, …), befindet sich durch den Jahreskreislauf in einem steten Wandel und ermöglicht umfangreiche Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen, die in geschlossenen Räumen so nicht adäquat nachgeahmt und erlebt werden können (Späker 2010a). 2 | 2017 motorik, 40. Jg., 56-62, DOI 10.2378 / motorik2017.art10d © Ernst Reinhardt Verlag [ 56 ] [ 56 ] [ 57 ] Klein, Kurth • Wahrnehmungsförderung durch Psychomotorik in der Natur 2 | 2017 Kinder, die Waldkindergärten besuchen und somit unabhängig von Jahreszeit und Wetter täglich mehrere Stunden im Freien verbringen, weisen eine höhere motorische Leistungsfähigkeit auf, als Kinder aus Regelkindergärten (Scholz / Krombholz 2007). Sie spielen regelmäßig mit Naturmaterialien und haben die Gelegenheit, ihren Bewegungsdrang in natürlicher Umgebung auszuleben. Späker (2010a, 37) fasst empirische Befunde zu den Effekten von Naturerfahrungen wie folgt zusammen: »Die berücksichtigten Studien konnten insgesamt eindeutige Befunde liefern, die darauf hindeuten, dass der Erfahrungsraum Natur ein wichtiger Aspekt für die Entwicklung von kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten ist.« Konzepte der psychomotorischen Förderung gehen von einem humanistischen Menschenbild aus, das Autonomie, soziale Interdependenz, Sinnorientierung und Ganzheitlichkeit einschließt. Klassische inhaltliche Schwerpunkte sind meist spielerisch vermittelte Selbst-, Material- und Sozialerfahrungen (Zimmer 2012). Werden Materialerfahrungen nicht nur auf oft als typisch psychomotorisch bezeichnete Kleinmaterialien (Pedalos, Schwungtücher, Rollbretter, …) eingegrenzt, sondern auf natürliche Materialien (Bäume, Stöcke, Steine, Wasser, …) ausgeweitet, so finden sich in der Natur fast endlose Möglichkeiten, um Kompetenzen in allen drei Erfahrungsbereichen zu erwerben. Späker (2012, 276) bezeichnet den Wald auch als »natürliche Bewegungsbaustelle«. Materialkompetenz kann in diesem Sinne als Naturkompetenz bezeichnet werden. Dennoch werden psychomotorische Angebote bislang vorwiegend in geschlossenen Räumen oder Hallen durchgeführt (Späker 2009; Späker 2010b). Ansätze wie die »NaturMotorik« bilden derzeit noch die Ausnahme (Grüger / Weyhe 2007). Auch die aktuellen Lehrbücher der Psychomotorik beschränken sich in ihren Praxisbeispielen auf Indoor-Situationen (Zimmer 2012); explizite Hinweise auf einen möglichen Transfer in natürliche Erfahrungsräume sind nur sehr vereinzelt zu finden (Fischer 2009). Der vorliegende Beitrag soll daher erörtern, inwiefern psychomotorische Prinzipien auf Aktivitäten in der Natur übertragen werden können - im Fokus soll dabei vor allem die Wahrnehmungsförderung stehen. Wahrnehmungsförderung und psychomotorische Prinzipien Die Förderung der Wahrnehmung ist neben der Bewegungsförderung und der Persönlichkeitsentwicklung ein wesentliches Ziel psychomotorischer Angebote (Zimmer 2012). Die Wahrnehmung ist ein komplexes psycho-physisches Geschehen, das neben dem objektiven Vorgang der Informationsaufnahme auch subjektive Prozesse der Informationsverarbeitung und -bewertung umfasst, die von individuellen Erfahrungen und Einstellungen abhängen und sozial-emotionalen Faktoren beeinflusst werden können (Dordel 2007; Fischer 2009). Die Wahrnehmungsfähigkeit hat eine hohe Relevanz für die Bewegungskoordination und Körperhaltung, aber auch die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung und ist letztlich Voraussetzung für sämtliche motorische Handlungen (Klein 2016). Die enge Verzahnung von Wahrnehmung und Motorik und deren Bedeutung als Ausgangspunkt für die kognitive Entwicklung beschreibt Piaget in seiner Theorie der kognitiven Entwicklung als sensomotorische Intelligenz (Piaget 1973). Abb. 1: Wahrnehmungserfahrungen, die in geschlossenen Räumen nicht gemacht werden können [ 58 ] 2 | 2017 Forum Psychomotorik Der hohe Aufforderungscharakter des natürlichen Erlebnisraums (Stumpen 2007) und besondere Wahrnehmungsanforderungen im Freien ermöglichen vielfältigste Sinneswahrnehmungen. Das Barfußlaufen über verschiedene Untergründe (Wiese, Waldboden, Steine, …) ermöglicht taktil-kinästhetische, das Balancieren über einen umgestürzten Baum vestibuläre, das Spiel von Licht und Schatten im Wald visuelle, das Rauschen der Blätter auditive, das Riechen von Moos olfaktorische und das Schmecken von Früchten gustatorische Erfahrungen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Gleichzeitig entsteht für Lehrkräfte kaum Aufwand hinsichtlich mitzuführenden Materials, da die Natur weitaus mehr bietet als jede optimal ausgestattete Turnhalle (Schwarzer / Renner 2008). Im kindzentrierten Ansatz der Psychomotorik nach Zimmer (2012, 139) werden die folgenden Prinzipien formuliert: »Das Kind sollte ■ sich selbst als Verursacher einer Handlung erleben, ■ Erfolge und Misserfolge einer Handlung auf die eigene Person zurückführen können, ■ sich mit eigenen Wertmaßstäben auseinander setzen und das eigene Verhalten daran orientieren, ■ Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen, ■ Alternativen für störende Verhaltensweisen kennenlernen und in das eigene Verhalten integrieren.« Diese Prinzipien lassen sich hervorragend auch in natürlicher Umgebung umsetzen - auch hier sollen nur exemplarisch einige Beispiele aus einer Vielzahl an Möglichkeiten aufgezeigt werden. Sich selbst als Verursacher einer Handlung - und somit als selbstwirksam - kann sich ein Kind beim Erklettern eines Baumes oder beim Bau einer Hütte aus Ästen und Zweigen erleben. Erfolge oder Misserfolge von Handlungen auf die eigene Person zurückzuführen - also internal zu attribuieren -, bedarf je nach Ursachenzuschreibung des Kindes möglicherweise einer durch den Psychomotoriker / die Psychomotorikerin angebahnten Reflexion oder eines entsprechenden Feedbacks, ist aber selbstverständlich in natürlicher Umgebung genauso wie in künstlichen Räumen möglich. Die Auseinandersetzung mit eigenen Wertmaßstäben und Orientierung des eigenen Verhaltens daran kann auf den Umweltschutz bezogen werden (keinen Abfall in der Natur hinterlassen, keine Pflanzen ausreißen, …) und im Sinne der Umweltbildung wirken. Verantwortung für das eigene Handeln können Kinder in sozialen Situationen übernehmen, beispielsweise dem gemeinsamen Bau einer Brücke. Alternativen für störende Verhaltensweisen könnten einerseits darauf bezogen werden, dass Tiere nicht in ihrem natürlichen Lebensraum gestört werden. Im sozialen Sinn bietet die Natur im Vergleich zu geschlossenen Räumen andererseits den großen Vorteil, dass ein Rückzug möglich ist und störende Verhaltensweisen so möglicherweise seltener entstehen bzw. relevant werden. Fischer (2009) nennt darüber hinaus die folgenden übergreifenden didaktischen Prinzipien für psychomotorische Angebote: Prinzip der Ganzheitlichkeit, Prinzip der Handlungsorientiertheit und Prinzip der Offenheit. Ganzheitlichkeit bedeutet, dass alle Sinne angesprochen werden sollen und sich Fördermaßnahmen stets auf die gesamte Person beziehen - dazu gehören motorische, geistige, emotionale und soziale Aspekte. Kinder sollen Situationen eigenverantwortlich mitgestalten können. Handlungsorientierung impliziert, dass Kinder selbsttätig Probleme erkennen und Lösungen suchen und sich somit handelnd mit ihrer Umwelt auseinandersetzen. Offenheit meint, dass Kinder Wahlmöglichkeiten erhalten und keine starren Inhalte festgelegt und vorgegeben werden. Insbesondere die Natur ermöglicht zahlreiche Explorationserfahrungen, die nicht zwingend einer Aufgabenstellung durch die Lehrkraft bedürfen. Der hohe Aufforderungscharakter der Umgebung führt im Regelfall automatisch zu Bewegungsaktivitäten (Laufen, Klettern, Verstecken, …). Daher lassen sich die genannten Prinzipien ebenfalls problemlos auf natürliche Settings übertragen. Ein Mangel an Erfahrungen in und mit der Natur kann die Entwicklung negativ beinflussen. [ 59 ] Klein, Kurth • Wahrnehmungsförderung durch Psychomotorik in der Natur 2 | 2017 Die didaktischen Prinzipen der Handlungsorientierung und Ganzheitlichkeit werden auch im Bereich der erfahrungsorientierten Umweltbildung formuliert (Lang 2009), sodass eine Verknüpfung einer Psychomotorik in der Natur mit Zielen der Umweltbildung naheliegt. Auch im Rahmen psychomotorischer Literatur wird teils darauf hingewiesen, dass Kinder für Naturzusammenhänge sensibilisiert werden sollen (Schwarzer / Renner 2008). Psychomotorische Förderung in der Natur enthält somit stets auch eine kognitive Komponente. Auch Späker (2010a) zeigt auf, dass Outdoor-Angebote im Allgemeinen unweigerlich eine Auseinandersetzung mit dem Umweltschutz erfordern. Verhaltensregeln zum Umgang mit der Natur sollten vor einer entsprechenden Einheit immer festgelegt oder - im Sinne von Selbsttätigkeit und Selbstwirksamkeit - gemeinsam mit den Kindern erarbeitet werden. Über selbstständiges Handeln sollen die Kinder sowohl eigene Stärken wahrnehmen, als auch Grenzen ausloten und Gefahren einschätzen lernen - die Natur bietet hierfür ein optimales Lernumfeld und vielfältige Anregungen. Das Bewegungskonzept der »NaturMotorik« von Grüger und Weyhe (2007) zeigt Umsetzungs- und Strukturierungsmöglichkeiten auf, die auf den Grundlagen der Psychomotorik und der Naturspielpädagogik beruhen. So wird der Jahreskreislauf in die acht Naturprozesse »Erwachen«, »Entfalten«, »Wachsen«, »Blühen«, »Fruchten«, »Reifen«, »Verwandeln« und »Ruhen« unterteilt. Die biologischen Vorgänge der jeweiligen Phase werden aufgegriffen und in Bewegungseinheiten umgesetzt, aber auch kognitiv verarbeitet. Umsetzungsmöglichkeiten Im Folgenden sollen eine Strukturierungsmöglichkeit für psychomotorische Aktivitäten in der Natur mit dem Schwerpunkt der Wahrnehmungsförderung aufgezeigt und beispielhafte Umsetzungsvorschläge gegeben werden. Insbesondere aufgrund des Prinzips der Offenheit sind diese jedoch nicht als starre Vorgaben zu sehen, sondern müssen immer auf die Rahmenbedingungen der Lerngruppe sowie die äußeren Bedingungen (Wetter, Art des natürlichen Bewegungsraums, …) hin überprüft und gegebenenfalls modifiziert oder ersetzt werden. Psychomotorische Einheiten werden häufig nach einem 4-Phasen-Modell aufgebaut (Köckenberger 2010). In der »Einstimmungsphase« stehen einleitende Geschichten, feste Rituale und/ oder Einstiegsspiele im Vordergrund. Die »Phase der freien Materialerfahrung« ist elementar, da die Kinder in dieser Phase frei nach ihren Bedürfnissen und Vorstellungen und ohne Bewegungsvorgaben experimentieren dürfen - eingeschränkt nur durch sicherheitsrelevante Regeln. In der »Hauptphase« greift die Lehrkraft beobachtete Bewegungsideen auf und kann Impulse durch zusätzliche Anregungen setzen. Die abschließende »Entspannungsphase« dient dem Ausklang der Einheit. Zeitpunkt, Länge und Häufigkeit der einzelnen Phasen richten sich an den Bedürfnissen der teilnehmenden Kinder aus und erfordern eine aufmerksame Beobachtung durch den Psychomotoriker / die Psychomotorikerin (Köckenberger 2010). Einstimmungsphase Die Einstimmungsphase dient der psycho-physischen Einstimmung auf die folgende Einheit. Die Befindlichkeit der teilnehmenden Kinder sollte zu Beginn ritualisiert durch den Psychomotoriker / die Psychomotorikerin abgefragt werden (z. B. über eine Anzeige des Daumens nach oben, mittig oder nach unten), um auf evtl. vor- Abb. 2: Aufforderungscharakter natürlicher Umgebungen zur Bewegung [ 60 ] 2 | 2017 Forum Psychomotorik handene Probleme bzw. Stimmungen einzelner Kinder oder der Gesamtgruppe eingehen zu können. Zudem bieten feste Rituale zu Beginn, während und am Ende jeder Einheit einen verlässlichen Orientierungsrahmen. Der folgende inhaltliche Schwerpunkt sollte thematisiert und in der Gruppe besprochen werden. Phase der freien Materialerfahrung Die Phase der freien Materialerfahrung ist von besonderer Bedeutung. In erster Linie geht es darum, sich mit den Gegebenheiten der Umwelt auseinanderzusetzen, physikalische Gesetzmäßigkeiten zu erfahren, über Bewegung erkundend und experimentell zu lernen (Zimmer 2012) und dabei Wahrnehmungssysteme zu stimulieren, die Kreativität und Handlungskompetenz zu fördern, emotionale Ausdrucksmöglichkeiten und sozialen Kontakt anzubahnen (Köckenberger 2010). Auf diesem Weg können Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht werden. Psychomotorische Aktivitäten in der Natur erfordern in der Regel kein oder nur sehr wenig mitgebrachtes Material, stattdessen sollte das vielfältige Angebot natürlicher Materialien und Umgebungen genutzt werden. Hier sind der Kreativität der Kinder - unter Beachtung der Regeln des Umweltschutzes - keine Grenzen gesetzt. Wenn die Kinder zunächst frei experimentieren dürfen, so ermöglicht dies, dass sie sich eigene Sinnzusammenhänge konstruieren können, beispielsweise Spiele erfinden oder in bestimmte Rollen innerhalb eigener Geschichten schlüpfen. Das freie Spiel ist bei Kindern erfahrungsgemäß gerade in der Natur besonders beliebt (Stumpen 2007) und wird häufig zum Erkunden, Laufen, Klettern, Balancieren, Verstecken und zu vielen weiteren Aktivitäten genutzt. Der Psychomotoriker / die Psychomotorikerin kann diese Phase für diagnostische Beobachtungen nutzen und Bewegungs- und Spielideen ggf. in der folgenden Phase aufgreifen - dies setzt eine hohe Flexibilität der Lehrkraft voraus. Hauptphase In der Hauptphase werden durch die Lehrkraft Wahrnehmungs- und Bewegungsimpulse im Sinne der Zielstellung der Einheit gesetzt. Zunächst wird die Gruppe im Anschluss an das freie Spiel zusammengeholt. Diese Gelegenheit sollte der Psychomotoriker / die Psychomotorikerin für eine kurze Reflexion der vorangegangenen Phase nutzen - so sollte den Kindern die Möglichkeit gegeben werden, von ihren Erfahrungen zu berichten. Anschließend folgen gezielte Aufgabenstellungen. Exemplarische Inhalte im Bereich der Wahrnehmungsschulung durch Psychomotorik in der Natur könnten sein (entnommen aus Grüger / Weyhe 2007): ■ »Bäume erwecken«: Die Kinder stellen sich wie Bäume in den Wald oder auf eine Wiese. Ein Kind stellt Sonnenstrahlen dar; es geht durch die Baumreihen und erweckt die Bäume durch Reiben an der Rinde zum Leben. Die erweckten Bäume werden ebenfalls Sonnenstrahlen und helfen solange, bis alle Bäume aufgewacht sind ( à taktil-kinästhetische Wahrnehmung). ■ »Bäume legen«: Die Kinder suchen sich gemeinsam einen Baum aus, den sie besonders schön finden. Der Umriss des Baumes soll mit vielen gesammelten Stöcken auf dem Boden nachgelegt werden ( à visuelle Wahrnehmung, Figur-Grund-Wahrnehmung). ■ »Diebische Räuber«: Die Kinder werden in Mäuse und Eichhörnchen eingeteilt. Die Eichhörnchen suchen sich einen Platz für ein Nickerchen (schließen die Augen) und haben dabei ihre gesammelten Tannenzapfen vor Abb. 3: Gesammelte Naturmaterialien [ 61 ] Klein, Kurth • Wahrnehmungsförderung durch Psychomotorik in der Natur 2 | 2017 sich hingelegt. Die Mäuse versuchen sich an ein Eichhörnchen anzuschleichen, um einen Tannenzapfen zu stehlen. Hört das schlafende Eichhörnchen eine Maus, so zeigt es in die entsprechende Richtung. Die Maus muss sich dann ein anderes Eichhörnchen suchen ( à auditive Wahrnehmung). Zahlreiche weitere Beispiele finden sich in Grüger und Weyhe (2007), können aus psychomotorischen Übungssammlungen für natürliche Umgebungen abgewandelt werden und sind der Phantasie des Psychomotorikers / der Psychomotorikerin und der Kinder überlassen. Entspannungsphase Die Fähigkeit zur Entspannung hängt von einer differenzierten Körperwahrnehmung ab. Daher ist die abschließende Entspannungsphase, insbesondere im Rahmen der Wahrnehmungsschulung, von hoher Relevanz. Es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten der praktischen Umsetzung von Entspannungsverfahren. In Turnhallen oder Bewegungsräumen werden häufig klassische Entspannungsformen wie Phantasiereisen, progressive Muskelrelaxation oder Partnermassagen angeboten (Klein 2016). Diese können, je nach Witterungsbedingungen, selbstverständlich auch in natürlichen Umgebungen durchgeführt werden. In einfachster Form können sich die Kinder beispielsweise im Sommer auf eine Wiese legen, die Augen schließen (sofern sie das möchten) und den Untergrund erspüren, auf dem sie liegen, den Wind in den Haaren und die Sonnenstrahlen auf der Haut bewusst wahrnehmen sowie den natürlichen Umgebungsgeräuschen lauschen. Durch entsprechende Anleitung des Psychomotorikers / der Psychomotorikerin kann die Wahrnehmung bewusst auf verschiedene Sinnesmodalitäten gelenkt werden. Salz (2003) macht weitere Vorschläge zur kindgemäßen Entspannung in der Natur: ■ »Bäume ertasten«: Geführt von einem Partner ertasten die Kinder »blind« einen Baum. Die Erkundung des Baumes mit den Händen kann verbal begleitet werden (»Wie fühlt sich die Rinde an? «, …). Anschließend versucht das Kind sehend seinen ertasteten Baum zu identifizieren. ■ »Erdfenster«: Einige Kinder legen sich auf einen gemütlichen Platz auf den Boden. Die übrigen Kinder bedecken sie mit Naturmaterialien (Äste, Blätter, Rinde, …), bis ggf. nur noch die Köpfe frei bleiben. So können sich die Kinder als Teil der Erde erleben. ■ »Aus dem Leben eines Baumes« (s. Salz 2003): Diese Phantasiereise kann gut in natürlicher Umgebung eingesetzt werden, da Elemente der Geschichte nicht nur imaginiert, sondern unmittelbar wahrgenommen werden können. Die Einheit sollte anschließend mit einer rituellen Verabschiedung enden. Fazit Psychomotorische Aktivitäten in der Natur können potenziell Natur- und Selbstentfremdungsprozessen entgegenwirken (Späker 2010a), die aufgrund der aktuellen Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zunehmend auftreten. Die Wahrnehmungsförderung spielt dabei neben der Bewegungs- und Persönlichkeitsförderung eine entscheidende Rolle für die ganzheitliche Entwicklungsförderung von Kindern und Jugendlichen. Natürliche Umgebungen bieten optimale Durchführungsbedingungen zur Wahrnehmungsschulung. Die Natur als ein Ort psychomotorischer Förderung kann von Psychomotorik-Gruppen, (Wald-)Kindergärten, schulischem Sportunterricht (insbesondere in der Grundschule), Angeboten des offenen Ganztags oder von Sportvereinen genutzt werden. Die Deutsche Akademie für Psychomotorik bietet diesbezüglich seit einigen Jahren eine Fachqualifikation »Psychomotorik im Er-Lebensraum Natur« an. Natürliche Umgebungen bieten optimale Durchführungsbedingungen zur Wahrnehmungsschulung. [ 62 ] 2 | 2017 Forum Psychomotorik Zukünftig sollten empirische Studien zu den möglichen positiven Effekten von psychomotorischer Wahrnehmungsförderung in der Natur durchgeführt werden, um die angenommenen Wirkmechanismen wissenschaftlich abzusichern. Literatur Dordel, S. (2007): Bewegungsförderung in der Schule. Handbuch des Sportförderunterrichts. Modernes Lernen, Dortmund Fischer, K. (2009): Einführung in die Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München / Basel Grüger, C., Weyhe, S. (2007): Kinder in Bewegung mit NaturMotorik. Naturprozesse durch Bewegung erleben und verstehen - für Aktionen drinnen und draußen in Kiga, Hort und Grundschule. Ökotopia, Münster Klein, D. (2016): Den Körper wahrnehmen - Psychomotorik im inklusiven Schulsport. In: Ruin, S., Meier, S., Leineweber, H., Klein, D., Buhren, C. (Hrsg.): Inklusion im Schulsport. Anregungen und Reflexionen.Beltz, Weinheim, 52-62 Köckenberger, H. (2010): Psychomotorik. In: Lange, H., Sinning, S. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Sport. Lehren und Lernen in der Schule, im Verein und im Gesundheitssport.Spitta, Balingen, 362- 386 Lang, S. (2009): Umweltbildung als Herausforderung der Sportpädagogik. Hofmann, Schorndorf Manz, K., Schlack, R., Poethko-Müller, C., Mensink, G., Finger, J., Lampert, T. (2014): Körperlich-sportliche Aktivität und Nutzung elektronischer Medien im Kindes- und Jugendalter. Ergebnisse der KiGGS- Studie - Erste Folgebefragung (KiGGS Welle 1). Bundesgesundheitsblatt 57 (7), 840-848 Piaget, J. (1973): Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Klett, Stuttgart Salz, B. (2003): Mein Freund, der Stein … Kindgemäße Entspannung mit Naturmaterialien. Praxis der Psychomotorik 28(2), 98-105 Scholz, U., Krombholz, H. (2007): Untersuchung zur körperlichen Leistungsfähigkeit von Kindern aus Waldkindergärten und Regelkindergärten. Motorik 30(1), 17-22 Späker, T. (2009): Psychomotorik in der Natur. Eine Abgrenzung und Einordnung. Praxis der Psychomotorik 34(3), 112-118 Späker, T. (2010a): Psychomotorik in der Natur - Eine praktische Annäherung. In: Späker, T., Jessel, H. (Hrsg.): Brücken bauen in der Psychomotorik… damit Theorie in Praxis übergeht - und umgekehrt! Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 31-50 Späker, T. (2010b): Psychomotorik in der Natur - Eine theoretische Spurensuche. Motorik 34(10), 100- 106 Späker, T. (2012): Psychomotorik in der Natur - Finde deinen eigenen Weg. In: Hunger, I., Zimmer, R. (Hrsg.): Frühe Kindheit in Bewegung. Entwicklungspotenziale nutzen. Hofmann, Schorndorf, 276-281 Stumpen, I. (2007): Psychomotorik »Open Air« …mit Kindern bewegt in den Wald. Praxis der Psychomotorik 32(3), 163-167 Schwarzer, A., Renner, H.-G. (2008): Natürlich Bewegen - Psychomotorik in der Natur. Praxis der Psychomotorik 33 (1), 19-22 Zimmer, R. (2012): Handbuch der Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung. Herder, Freiburg Die AutorInnen Dr. Daniel Klein Diplom-Sportwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Instituten für Natursport und Ökologie sowie Sportdidaktik und Schulsport an der Deutschen Sporthochschule Köln Dr. Andrea Kurth Diplom-Sportwissenschaftlerin, Oberstudienrätin im Hochschuldienst im Institut für Sportdidaktik und Schulsport an der Deutschen Sporthochschule Köln Anschriften Dr. Daniel Klein Deutsche Sporthochschule Köln Institut für Natursport und Ökologie Am Sportpark Müngersdorf 6 D-50931 Köln d.klein@dshs-koeln.de Dr. Andrea Kurth Deutsche Sporthochschule Köln Institut für Sportdidaktik und Schulsport Am Sportpark Müngersdorf 6 D-50931 Köln a.kurth@dshs-koeln.de