motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2017.art11d
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Förderung der exekutiven Funktionen im Setting der Psychomotorik
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Carmen Deffner
Der Artikel gibt einen ersten Einblick in Beschreibung, Bedeutung und Entwicklung der exekutiven Funktionen im Kindesalter. Neben den Möglichkeiten, die exekutiven Funktionen mittels bekannter und kognitiv anspruchsvoller Spiele zu fördern, wird das begleitete Rollenspiel als wirkungsvolles Medium innerhalb des psychomotorischen Angebotes beschrieben.
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Zusammenfassung / Abstract Der Artikel gibt einen ersten Einblick in Beschreibung, Bedeutung und Entwicklung der exekutiven Funktionen im Kindesalter. Neben den Möglichkeiten, die exekutiven Funktionen mittels bekannter und kognitiv anspruchsvoller Spiele zu fördern, wird das begleitete Rollenspiel als wirkungsvolles Medium innerhalb des psychomotorischen Angebotes beschrieben. Schlüsselbegriffe: exekutive Funktionen, Selbstregulation, sozialemotionale Kompetenz, Psychomotorik Fostering executive functions through psychomotoric interventions The article provides an introduction to the executive functions in infancy, including their meaning and development. Aside from ways to enhance executive functions by cognitive demanding games, the pretend play is introduced as an effective medium of psychomotoric therapy. Key words: executive functions, self-regulation, social-emotional competence, psychomotoric therapy [ 63 ] motorik, 40. Jg., 63-66, DOI 10.2378 / motorik2017.art11d © Ernst Reinhardt Verlag 2 | 2017 [ FORuM PSyCHOMOTORIK ] Förderung der exekutiven Funktionen im Setting der Psychomotorik Carmen Deffner Max steht auf dem hohen Kasten der Bewegungslandschaft und wartet aufgeregt, aber geduldig darauf, dass die Matte unter ihm endlich frei wird. Für ihn ist klar: Erst dann kann er springen. Tim allerdings schreit von hinten »Ich komme! « und ist schon gesprungen. Dass seine Mitspielerin Lisa noch unten sitzt, hat er dabei gar nicht bemerkt. So ist es nicht zu verhindern, dass Tim auf Lisas Bein landet und sie erschrocken aufschreit. Der eine kann abwarten und Rücksicht nehmen, der andere ist ungebremst in seinem Bewegungsdrang und verletzt dabei seine Mitspielerin. Unterschiedliche Verhaltensweisen in ein und derselben Situation lassen sich aus Sicht der Neurowissenschaften mithilfe der exekutiven Funktion erklären. Exekutive Funktionen - ein Überblick Diese im Frontalhirn lokalisierten kognitiven Funktionen sind für die Steuerung unserer Gefühle, Gedanken und unseres Verhaltens zuständig. Sie werden auch als die Steuerzentrale oder Kontrollinstanz des Menschen bezeichnet. Drei Bereiche werden den exekutiven Funktionen (EF) zugeordnet: das Arbeitsgedächtnis (AG), die Inhibition (Inh) und die kognitive Flexibilität (Flex) (Miyake et al. 2000) (Abb. 1). Mittels EF ist es dem Menschen möglich, sein Verhalten zu regulieren. Um längerfristige Ziele zu erreichen, ist die Fähigkeit, vorrausschauend zu planen und teilweise akute Bedürfnisse oder mittelfristig Interessen zurückzustellen wichtig. Gemeinsam tragen die drei Komponenten AG, Inh und Flex dazu bei, erste Impulse zu bremsen und Handlungen vor ihrer Durchführung hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten zu durchdenken und anzupassen. Ob in Beruf, Familie, Schule, Kindergarten, beim Sport oder anderen sozialen Zusammenschlüssen: EF sind von großer Bedeutung für das Gelingen des sozialen Miteinanders und das Erreichen individueller Ziele! Sie haben auf den gesamten Lebensverlauf einen großen Einfluss und schlagen sich u. a. nieder in sozial-emotionaler Kompetenz, akademischer Leistung und dem Ler- [ 64 ] 2 | 2017 Forum Psychomotorik nen allgemein (Moffit et al. 2011; Duckworth / Seligmann 2005; Trentacosta / Shaw 2009; Mischel et al. 1988). Eine wichtige Entwicklungsphase der EF findet zwischen drei bis sechs Jahren statt, die vollständige Ausreifung hingegen wird erst im Alter von Mitte 20 erwartet (Diamond 2002). Aufgrund der Neuroplastizität des Gehirns gelten sie allerdings als lebenslang förderbar. Nachweislich wirken sich besonders körperliche Aktivität und Bewegung günstig auf die Entwicklung der EF aus. Dies liegt u. a. an der besseren Gehirndurchblutung, dem gezielten Herausfordern der EF durch komplexe Bewegungssteuerung und den sozialen Aspekten (sich abstimmen, Antizipieren des Mitspielerverhaltens) (Best 2010; Walk 2011). Förderung der exekutiven Funktionen innerhalb des psychomotorischen Angebots Von kleinen Bewegungseinheiten über kognitiv anspruchsvollere Spiele bis hin zum komplexen Themen- und Rollenspiel findet im psychomotorischen Setting die Förderung der EF nahezu ständig statt. Altbekannte Spiele mit EF-Aspekten Viele der bekannten Lauf- und Bewegungsspiele beanspruchen EF-Aspekte: Das AG ist immer dann gefordert, wenn SpielerInnen bspw. Kommandos mit entsprechenden Handlungen verknüpfen, memorieren und schnellstmöglich ausführen müssen, wie es bei Feuer-Wasser-Sturm der Fall ist. Sie üben sich in Inh, wenn sie erste Handlungsimpulse hemmen oder bestehende Handlungsmuster abrupt unterbrechen müssen (Alle Vögel fliegen hoch! , Stopp-Tanz). Die Flex ist herausgefordert, wenn schnelle, zielführende Reaktionen auf sich spontan ändernde Verläufe abgerufen und umgesetzt werden müssen (Kettenfangen, Fischer wie tief ist das Wasser? Schwungtuchspiele mit wechselnden Aufgaben, bspw. alle Kinder mit rotem T-Shirt wechseln den Platz etc.). Bewegungsintensive Laufspiele und Spiele mit (steigender) kognitiver Anforderung Lauf- und Bewegungsspiele, die EF über ihr inhärentes Maß hinaus fördern sollen, zeichnen sich durch ihre Anforderungen bezüglich des steigenden Schwierigkeitsgrades aus. Während der Gewöhnungsphase werden verschiedene Bewegungsregeln an einen visuellen oder akustischen Reiz gekoppelt. Das Spiel wird solange nach diesen Regeln gespielt, bis sich ein Gewöhnungseffekt einstellt. Wird dann durch Vertauschen der Kopplung ein abrupter Bewegungs- (vom Laufen zum Tippeln) oder schneller Richtungswechsel provoziert, sind die EF wieder in höchstem Maße gefordert (Kubesch / Walk 2011). So erhält bspw. beim Spiel »Der verrückte Fluglotse« der Lotse zum Steuern des Flugzeuges zunächst zwei Farbkarten. Zeigt er die rote Karte, muss das Flugzeug nach rechts fliegen, Abb. 1: Aspekte der exekutiven Funktionen und ihre Aufgaben Inhibition Arbeitsgedächtnis • Informationen kurzzeitig speichern und mental weiter verarbeiten • Handlungen planen und Ziele setzen • Probleme lösen • Impulskontrolle, Emotionsregulation • Aufmerksamkeitssteuerung, Ausblenden von Störreizen • Unterstützt situationsangemessenes Verhalten • Sich auf neue Situationen und Anforderungen einstellen • Perspektivenübernahme und Perspektivenwechsel • Alternativen abwägen, Prioritäten setzen, Entscheidungsfindung Kognitive Flexibilität Inhibition Arbeitsgedächtnis • Informationen kurzzeitig speichern und mental weiter verarbeiten • Handlungen planen und Ziele setzen • Probleme lösen • Impulskontrolle, Emotionsregulation • Aufmerksamkeitssteuerung, Ausblenden von Störreizen • Unterstützt situationsangemessenes Verhalten • Sich auf neue Situationen und Anforderungen einstellen • Perspektivenübernahme und Perspektivenwechsel • Alternativen abwägen, Prioritäten setzen, Entscheidungsfindung Kognitive Flexibilität [ 65 ] Deffner • Förderung der exekutiven Funktionen im Setting der Psychomotorik 2 | 2017 zeigt er die blaue Karte, muss es nach links fliegen. Damit lotst er das Flugzeug durch die Halle. Das Kommandorepertoire kann beliebig durch weitere Farbkarten erweitert werden. Eine Steigerung mit EF-förderlichem Effekt bewirkt das Vertauschen der Kommandos: Rote Karte=links; blaue Karte=rechts. Je mehr Karten im Spiel sind (z. B. gelbe Karte=Sinkflug), desto komplexer wird die Anforderung sowohl für das Flugzeug als auch für den Lotsen. Komplexe Spielthemen im begleiteten Rollenspiel Das begleitete Themen- und Rollenspiel umfasst ein breites EF-förderliches Spektrum. Besonders reizvoll ist es aufgrund seiner individuellen Anforderungen an das einzelne Kind. AG, Inh und Perspektivenwechsel, als Teil der Flex, stecken in den zahlreichen Planungs- und Handlungsschritten und stellen für jeden Mitspieler eigene Anforderungen dar, die der Psychomotoriker individuell begleiten kann (Walk et al. 2016). Konrad hat am Wochenende eine Fernsehdokumentation »Expedition zum Nordpol« gesehen. Schnell ist entschieden: Heute soll das Thema Polarstation gespielt werden. In der gemeinsamen Planung entstehen konkrete Ideen, wie diese Station aussehen soll, wo man sie aufbaut und wer welche Rolle übernimmt. Lea weiß bereits, dass sie der Schneehase und Paul der Eisbär sein will. Konrad hingegen will der Polarforscher sein, der mit dem Schneemobil herumfährt. Diese Situation im Licht der EF beleuchtet bedeutet für die Spielenden (Abb. 2): ■ Handlungsschritte planen: Das Planen des Spiels und Konstruieren der Spielstätte ist begleitet von Fragen: Wie soll die Polarstation aussehen? Was brauchen wir dafür? Das AG wird benötigt, um diese einzelnen Schritte dem Plan entsprechend umzusetzen. ■ Sich an die Rolle erinnern: Sich für eine Rolle zu entscheiden, erfordert ein Zurückgreifen auf Erfahrungen und Vorwissen. Welche Verhaltensweisen legt ein Polarforscher an den Tag? Wie spricht er? Mit dem AG kann das eigene Vorwissen abgerufen und mit der aktuellen Situation in Einklang gebracht werden. Impulse des Spielleiters tragen an dieser Stelle zur Erweiterung des Handlungsrepertoires bei. ■ Die Rolle der Mitspieler präsent halten: Ein wechselseitig anregendes Spiel lebt davon, die eigene und die Rolle der Mitspieler im Blick zu haben. Mit einem guten AG gelingt es leichter, nicht aus der Rolle zu fallen und sich an die rollentypischen Verhaltensweisen zu erinnern. ■ Rollen aushandeln: Absprachen zu treffen über Rollen, die ein gelingendes Spiel braucht, bedeutet auch zurückzutreten, wenn Rollen schon besetzt sind. Karina wollte eigentlich auch Forscherin sein. Geht das? Der Erwachsene hat die Möglichkeit, durch offene, anregende Fragen die Kinder in der Lösungsfindung zu unterstützen und so ihre Flex anzuregen. ■ Requisiten (er)finden: Utensilien im Materialangebot zu finden, welche das Spiel unterstützen, erfordert kognitiv flexibles Denken. Mit Rückgriff auf Erfahrungen und Umdeutung von Gegenständen wird aus dem Rollbrett ein Polarschlitten, aus Seilen und Tüchern ein Schneehasennest. In der Rolle bleiben Sich nicht ablenken lassen Inhibition Exekutive Funktionen Kognitive Flexibilität Arbeitsgedächtnis Requisiten erfinden Handlungsschritte planen Rollen aushandeln Die Rolle der Mitspieler präsent haben Sich auf andere einstellen Sich an die Rolle erinnern Abb. 2: Exekutive Funktionen im Rollenspiel [ 66 ] 2 | 2017 Forum Psychomotorik ■ Sich auf andere einstellen und dem verändernden Spielverlauf anpassen: Hier sind Flex und Perspektivenübernahme von den Teilnehmenden gefordert, um spontane Spielhandlungen zu verstehen und darauf reagieren zu können. Die Intensität des Sich-aufeinander-Beziehens im Spiel gibt Aussage auf den mehr oder weniger fortgeschrittenen Stand der Rollenspielentwicklung. ■ Sich nicht ablenken lassen und in der Rolle bleiben: Bei aller Aktivität im Raum muss das Kind in seinem Vorhaben bleiben können. Sicher ist es interessant zu beobachten, was die anderen in ihrer Rolle bauen und konstruieren. Schafft es das Kind, ablenkende Reize auszublenden und sich auf seine Handlung zu konzentrieren, ist es in diesem Moment inhibiert. Fazit Nicht nur der Ruf nach, sondern auch die Hinwendung zur Förderung EF ist längst in der Psychomotorik angekommen. Viele Elemente der psychomotorischen Praxis begünstigen von jeher die Entwicklung der EF und sind im eigentlichen Tun inbegriffen, wie der Wechsel von Anspannung und Entspannung oder dem hohen Maß an Unterstützung selbstbestimmten Handelns. Die Sensibilität für Entwicklung und Unterstützung der EF erweitert sowohl das Verständnis für Kinder, die an manchen Stellen nicht (mehr) still halten oder sich nicht (mehr) an vereinbarte Regeln erinnern können, als auch das Handlungsrepertoire der PsychomotorikerInnen und stellt somit eine bereichernde und nötige Ergänzung des professionellen Handelns dar. Nicht zuletzt kann das Wissen um die Entwicklung und Bedeutung der exekutiven Funktionen eine weitere Ebene der bewussten Reflexion und Planung des psychomotorischen Geschehens bedeuten. Literatur Best, J.R. (2010): Effects of physical activity on children’s executive function: Contributions of experimental research on aerobic exercise. Developmental Review 30 (4), 331-351, http: / / dx.doi. org/ 10.1016/ j.dr.2010.08.001 Diamond, A. (2002): Normal development of prefrontal cortex from birth to young adulthood: Cognitive functions, anatomy, and biochemistry. In: Stuss, D., Knight, R. (Hrsg.): Principles of frontal lobe function. Oxford University Press, New York, 466-503 Duckworth, A.L., Seligman, M.E. (2005): Self-discipline outdoes IQ in predicting academic performance of adolescents. Psychological Science, 16 (12), 939-944, http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ j.1467- 9280.2005.01641.x Mischel, W., Shoda, Y., Peake, P.K. (1988): The nature of adolescent competencies predicted by preschool delay of gratification. Journal of Personality and Social Psychology 54 (4), 687-696, http: / / dx.doi.org/ 10.1037%2f%2f0022-3514.54.4.687 Moffitt, T.E., Arseneault, L., Belsky, D., Dickson, N., Hancox, R.J., Harrington, H., Caspi, A. (2011): A gradient of childhood self-control predicts health, wealth, and public safety. Proceedings of the National Academy of Sciences 108 (7), 2693-2698 Miyake, A., Friedman, N.P., Emerson, M.J., Witzki, A.H., Howerter, A., Wager, T.D. (2000): The unity and diversity of executive functions and their contributions to complex »Frontal Lobe« tasks: a latent variable analysis. Cognitive Psychology 41 (1), 49-100 Trentacosta, C.J., Shaw, D.S. (2009): Emotional selfregulation, peer rejection, and antisocial behavior: Developmental associations from early childhood to early adolescence. Journal of Applied Developmental Psychology 30 (3), 356-365, https: / / dx.doi. org/ 10.1016/ j.appdev.2008.12.016. Walk, L. (2011): Bewegung formt das Gehirn: Lernrelevante Erkenntnisse der Gehirnforschung. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung 1 (1), 27-29 Walk, L., Quante, S., Evers, W., Otto, M., Deffner, C. (2016). EMIL - Emotionen regulieren lernen. Qualifizierungsmaterial. Wehrfritz, Bad Rodach Die Autorin Carmen Deffner ist Erziehungswissenschaftlerin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »EMIL - Emotionen regulieren lernen« am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen der Universität Ulm tätig. Kontakt Carmen Deffner ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen Universität Ulm Parkstraße 11 D-89073 Ulm carmen.deffner@znl-ulm.de
